Das Ganze der Zeit

Dialektisches Bild Wie könnte der Fortschritt in der zeitgenössischen Musik aussehen?

Solange wir noch in dem leben, was Marx die Vorgeschichte nannte, also in einem Zustand, in dem die Rationalität als nicht gänzlich verwirklichte leiden macht und die Dinge nicht an ihren richtigen Platz gerückt sind, solange ist Kunst als der Ort der nicht-instrumentellen Artikulation der menschlichen Kreativität nicht nur unverzichtbar, sondern kann auch nicht ausgelöscht werden. Kunst kontinuiert, weil der Grund dafür, dass sie - etwa in der Beuysschen Vision einer allseitig freien und kreativen Menschheit ohne Grenzen - überflüssig, weil universalisiert werde, nicht gegeben ist. Noch ist die Kunst in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ein Subsystem. Dass die Kunst keinen metaphysischen Ehrenplatz mehr besetzen kann, hatte schon vor langer Zeit Hegel erklärt. Seither hat sich nichts Wesentliches geändert. Im Gegenteil: die Hegelsche Diagnose wurde zum Ausgangspunkt der modernen Kunst als permanenter Krisenbewältigung und damit eines Diskurses besonderer Art, den niemand missen möchte. Die Proklamation des "Endes der Kunst" ist somit in der Zwischenzeit völlig leer geworden. Ihr setze ich entgegen die Auffassung Adornos, dass erst in einer befreiten Gesellschaft die Kunst abstürbe. Alle Versuche, das vorher zu veranlassen, wären barbarisch und hülfen nur dem Zynismus der globalisierten Massenmedien.

Musik ist viel stärker als andere Kunstformen auf den Werkbegriff angewiesen. Das liegt unmittelbar an der Flüchtigkeit des Stoffs: von Klang und Zeit. Der Klang verliert sich im Raum und ist per se entgrenzend und bedarf daher wiederum der Eingrenzung, damit das musikalischer Ereignis überhaupt sich konstituiere. Nämliches gilt für die Zeit, die zu einer bestimmten Dauer synthetisiert werden muss. Alle Entgrenzungsversuche mühen sich, mit unterschiedlichem Erfolg, an diesen beiden Parametern ab. Gleichwohl ist das musikalische Werk kein Fetisch. Ja, bewusstseinsgeschichtlich wurde es erst zum Thema, als es bereits problematisch wurde. Das gschah mit Beethoven selbst, der Ideen-Kunstwerke schuf, deren Semantik die Grenzen des Klingenden sprengt und für die er neue, erweiterte Präsentationsbedingungen ersann, wie die Einbeziehung des Chores in der Neunten Symphonie. Seit Beethoven, vor allem aber mit Wagner und Mahler, wurde das Werk von seiner Struktur und von der Aufführung her porös. Der Übergang zur Atonalität schließlich stellte die Einheit des Strukturellen der Musik und damit jedes einzelnen Werks in Frage. In der neuen Musik gibt es nur noch inkonsistente und fragmentarische Werke, also Werke, die keine mehr sind. Das Bedürfnis der Künstler geht, teils spielerisch, teils als Ausdruck eines revolutionären Programms, dahin, die Grenzen des Werks - oder dessen, was übrigbleibt - zu erkunden und dabei zu überschreiten.

Freilich ist Vorsicht geboten. Jede dieser Grenzüberschreitungen bleibt kategorial am Werkbegriff ausgerichtet. Selbst John Cages berühmtes Nichts-Stück 3´44´´ hat Anfang und Schluss, interne Gliederung und somit eine Identität mit Urheberschaft. Die neuerdings so viel diskutierten Klanginstallationen, deren Repräsentanten sich von der komponierenden Zunft absetzen möchten, sind meist Museumsanordnungen oder Arrangements im urbanen Raum, die sich in diesem verlieren. Der musikalische Anteil in ihnen ist meist nicht höher als bei akustischen Vorführungen am Gymnasium. Man wird die weitere Entwicklung abwarten müssen, ob es dieser Richtung gelingt, gegenüber dem Mediengeschehen eine eigenständige Position einzunehmen. Das Bemühen der Klangkünstler ist freilich gegenüber dem wirklichen Entgrenzungsvorgang in der heutigen Gesellschaft marginal und schon fast wieder anrührend. Mit dieser Entgrenzung meine die universalisierte Pop-Musik, die sich global ausbreitet und die auf räumliche und zeitliche Unbegrenztheit geradezu militärische Ansprüche erhebt: Ziel ist der totale Sound, den sich der Berliner Medienphilosoph Norbert Bolz als neuen transzendentalen Horizont der entsubjektivierten und ihres freien Willens beraubten Menschen herbeiwünscht, eine faschistische Vorstellung, sozusagen das akustische Pendant zu Huxleys Soma-Welt.

Die Verabschiedung vom Kunstwerk ist kein Fortschritt in der Sache, sondern eine Kapitulation vor der Schwerkraft einer politischen Ökonomie, die sich gegen den demokratischen Charakter der kommenden Weltgesellschaft wehrt und diesen Widerspruch mit aller Gewalt zu perpetuieren sucht. Allein das Werk, freilich das intern sich selber problematisierende, hat die Kraft, sich gegen die Vereinnahmung durch den Vampir Massenmedien zu behaupten. Dass es dabei Identität in Anspruch nimmt, ist vorläufig unvermeidlich und kann nur durch werkinterne Strategien seines eigenen Nichtidentischmachens kompensiert werden. Das ist, nüchtern formuliert, aufwändig, anstrengend, "schwierig" - und eben diese produktive Zumutung an Produzenten und Rezipienten will der herrschende Un(zeit)geist abgewöhnen.

Die Ersetzung des Werkbegriffs durch ein anderes, sogenanntes performatives oder interaktives Paradigma ist für die Musik besonders heikel. Das liegt unmittelbar am Medium: der Klang beziehungsweise das Hören ist ubiquitär, und Musik kommerzieller Art ist in der Zwischenzeit im urbanen Raum zur Sphärenharmonie geworden, die wie ein quasi-religiöser akustischer Horizont wirkt und eben gerade nicht wahrgenommen, geschweige erfahren wird. Damit Erfahrungen am Klingenden im weitesten Sinne überhaupt möglich seien, muss Musik eine gehörige Selbstkonstitutions- und Syntheseleistung vollbringen.

Die dreidimensionale temporale Struktur der Zeit, ihre Aufteilung in eine prinzipiell unendliche gefüllte Vergangenheit, eine zwar lediglich augenblickliche, aber emphatische Jetzt-Zeit und eine offene und leere Zukunft, bildet das Schauspiel der Geschichte ebenso wie das von Musik und jedem ihrer Werke. Die Vielfalt von Formtypen und inhaltsästhetischen Vorentscheidungen wird von der Auseinandersetzung und der konkreten Bewältigung dieser Struktur in den Werken bestimmt. Umgekehrt ist die geschichtliche Zeitdimension ebenso vielfältig. So bilden sie zwei Mengen, die sich, ähnlich, wie es die geometrische Mengenlehre beschreibt, überlappen und ausschließen. Geschichte ist Musikgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Beide Typen haben diverse Untertypen, ja nach Tradition, Genre und historischem Ort der Betrachtung. Somit ist diese Differenzierung zweigliedrig, denn zu jeder einzelnen Geschichte tritt der geschichtliche Augenblick hinzu, an dem Geschichte reflektiert wird. Die unerschöpfliche Vielfalt des Musiklebens in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen rührt von dieser Mehrdimensionalität her - wie auch die unerschöpfliche Vielfalt an Werken und unterschiedlichen Arten, wie diese Zeit artikulieren.

Dass Musik Zeitkunst sei, dass jedes Werk mit Zeit arbeite, ist unbestritten wie trivial. Nicht trivial ist aber die Aufgabe, zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt in einer konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Situation den Kairos zu treffen, also die wahre Musik mit einer wahren Zeitgestaltung. Meine These ist, dass dies in den letzten circa 15 Jahren immer schwieriger wird. Denn seit Mitte der achtziger Jahre stagniert und regrediert die neue Musik. Damit meine ich, dass die weiterhin bedeutenden Leistungen von denen stammen, die sich zuvor etabliert haben und deren Werke sich nun einer gewissen Verbreitung erfreuen, und dass diejenigen, die heute innovativ und authentisch sind, marginalisiert sind und erst mit einer derartigen zeitlichen Verzögerung in das Bewusstsein dringen werden, dass sie nicht als Ausdruck der Jetztzeit, sondern als der einer verpassten Chance dermaleinst gehört werden werden.

Die Stagnation, ja die Regression der neuen Musik ist nicht geschuldet einer Erschöpfung des Materials oder einer fundamentalen Verschiebung der Musikdefinition. Jeder, der die Szene etwas besser kennt, spürt die zahlreichen und vielversprechenden Potentiale und leidet unter der verhexten Situation einer unfähigen Systemselbstorganisation. Den Grund sehe ich in der Vergewaltigung des Neue-Musik-Systems durch systemfremde Imperative. Das sind vor allem die des Kapitals und der Massenmedien, die bestimmte Erfolgsmodelle lancieren, die den Betrieb zwar aufrechterhalten, aber musikalisch unproduktiv und darüber hinaus unauthentisch sind.

Die musikalische Entwicklung ist einer doppelten Gefahr ausgesetzt: zum einen der leeren Brillanz. Die Musik klingt, als sei sie für Börsenmakler geschrieben beziehungsweise für deren Frauen, je nachdem, wie intellektuelle Coolness oder emotionale Patina gewichtet sind. Auf der anderen Seite droht die Gefahr einer rigiden und orthodoxen Hermetik, die im Namen einer einst wohlverstandenen Gesellschaftskritik in die Jahre gekommen und damit linksfaschistisch oder musikstalinistisch geworden ist. Beide Positionen sind Ausdruck der Zeit von heute - einmal affirmativ, einmal resignativ -, aber beide sind nur passive Symptome, keine produktiven Auseinandersetzungen mit erkenntnisfördernden Resultaten. Dagegen hilft nur die Wachheit des Zeitgenossen, der mit den raschen Wandlungen der Jetzt-Zeit Schritt hält, und das bei gleichzeitiger absoluter Souveränität gegenüber dem Markt.

Fortschritt als Fortschreiten ist eine Selbstverständlichkeit. Zurückschreiten ist sozial nicht möglich, höchstens Stillstand, der leicht zum Vergessen führt. Das bloße stetige Nachrücken neuerer Generationen von Künstlern verbietet es, das Fortschreiten der Kunst zu bestreiten. Freilich ist die entscheidende Frage, was denn Fortschritt bedeute. Was Fortschritt in der Musik genannt wird, ist ein elementarer Vorgang - zunächst ohne Wertung und ohne ethische Implikation. Dieser ist geschuldet einer technischen Evolution in den musikalischen Produktionsmitteln wie Notenschrift, Erweiterung der Klangkörper vor allem durch neue Instrumente oder höherstufige Präsentationsformen. Unterfüttert wird das von Rationalisierung wie der Einführung der temperierten Stimmung und wissenschaftlichen Erforschungen; begleitet von einer anwachsenden Reflexionskultur; und nicht zuletzt unterstützt von der zunehmenden Verfügbarkeit von Musik aller Zeiten und Kulturen. Dies alles spiegelt sich wider in der Evolution des Materials, worunter nicht nur der Stoff zu verstehen ist, sondern der Inbegriff aller sinn- und ausdrucksstiftenden Mittel in der Musik. Das Tonmaterial sei als Beispiel genommen. Modalität, Tonalität, Atonalität, Mikrotonalität sind größer werdende Materialmengen. Dass das Material quantitativ anwachse, bedeutet mitnichten eine qualitative Verbesserung.

Ob Musik auch "besser" werde - und welche Kriterien für diese Besserung stehen mögen -, ist eine Frage innerhalb der Musikästhetik, die konkret werden, die moderne Musik seit Beethoven und insbesondere die neue Musik des 20. Jahrhunderts als ein komplexes Gebilde unterschiedlicher Entwicklungsschübe mit Blütezeiten und Regressionen wahrnehmen müsste. Da es mit Benjamin Universalgeschichte erst im messianischen Zeitalter gebe, darf bis dahin über alles leidenschaftlich gestritten werden.

Obwohl Musik geschichtlichen Wesens und daher in der Geschichte verortet ist - und zwar doppelt: einmal nach der Seite der Entstehung hin, andererseits im Sinne des geschichtlichen Orts, an dem das Werk musiziert wird - und obwohl jede Musik, auch die statischste, in ausgedehnter Zeit überhaupt existiert, geht ihr Streben nach dem emphatischen Augenblick, und zwar sowohl, was die komponierte (oder, sofern möglich, improvisierte) Anlage betrifft, als auch, was die Einmaligkeit des Musizierens betrifft. Musik reagiert damit auf die Paradoxie, dass nur die Gegenwart, nicht aber Vergangenheit und Zukunft, existiert, eine Gegenwart, die freilich keine Ausdehnung hat, so dass ihr Inhalt der Vergangenheit zugeschrieben werden muss. Benjamin spricht von der Jetzt-Zeit als dem Augenblick des Erwachens, in dem das Geschichtliche (und im Musikwerk der bisherige formale Verlauf) durch eine bestimmte aufsprengende Konstellation in ein dialektisches Bild tritt. Meine These ist, dass heute mehr Musik komponiert werden sollte, die solche dialektischen Bilder enthält. Denn nicht nur geht es um emphatisch intensive Zeitkunst, also musikalische Werke, die in jedem Augenblick ihrem Mittelpunkt gleich nahe sind und eben deswegen die Zeitausdehnung gleichsam vergessen machen - eines der Merkmale großer Musik zumindest bis Beethoven - sondern darum, dieser gleichsam klassizistischen Ästhetik eine revolutionäre Komponente hinzuzufügen. Dann nämlich könnte man zu jener Benjaminschen Gegenwart gelangen, die er als "›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind," definiert. Das Projekt von heute lautet: die Gewinnung solcher Splitter.

Die heutige Kultur scheint ganz auf den verschwenderischen Augenblick versessen zu sein - Geschichte wird ein Altmodisches und wird vor allem als moralischer Ballast abgeworfen, für die Zukunft hat man kaum mehr als leere Worte anstatt konkreter Visionen und Utopien. Diese Augenblicksversessenheit ist indessen nicht Ausdruck eines veritablen hedonistischen Lebensgefühls, vielmehr der einer geistigen und Lebensleere, die von steigendem Sozialprodukt aufgefangen werden soll und überstark ans Tageslicht tritt, wenn dieses stagniert. Dem hat die musikalische Kreativität heute etwas entgegenzusetzen. Gerade an diesem Punkte ist die Adornosche Rede von der Antithesis so greifbar nahe. Denn zu suchen ist eine Musik, in der die drei Modi der temporalen Struktur gleichermaßen integriert sind. Nicht geht es also um die bloße Nostalgie, von der meist kaum mehr als Kitsch und Schleuderware übrigbleiben. Es geht auch nicht um modische Aktualität und erst recht nicht um Revolutionsgesänge vom aufdiktierten richtigen Bewusstsein im falschen Leben. Musik heute, will sie den Gedanken der Autonomie ernst nehmen, muss sich anstrengen. Es geht in der Tat um das Ganze, um das Ganze der Zeit - um Werke, welche die Geschichtlichkeit alles Musikalischen durchbuchstabieren, emphatisch auf die Temporalstruktur der Gesellschaft hic et nunc reagieren und einen Zukunftsentwurf anbieten. Der paradoxe Titel einer späten Nono-Komposition lautet La lontananza nostalgica utopica futura. Die Öffnung der Musik hin zu einer messianischen Dimension in der Zukunft, in der sich die Vergangenheit erfüllte, gelingt nur in einer emphatischen Gegenwart, die jene "Splitter der messianischen Zeit" sucht. Musik, der das heute gelingt, dürfen wir fortschrittlich nennen.

Der künstlerische Fortschritt heute besteht darin, Bedingungen und Verhaltensweisen zu suchen, die künstlerische Autonomie zu retten in einer Zeit, die die Kunst umfassend zu monetarisieren und damit zum Anhängsel der kapitalistischen Ökonomie zu machen sich befleißigt. Für die Musik heißt das, Strategien zu entwickeln, die es ermöglichen, in der Klarheit der eigenen Arbeit nicht einzubüßen, das eigene Niveau zu halten, ja zu erhöhen, und das ohne eskapistisch und esoterisch zu werden, also ohne darauf zu verzichten, ein wacher Zeitgenosse zu sein, der versucht, seiner Zeit ein Gesicht in der Musik zu geben. Um es mit Daniel Libeskind zu sagen: "Ich glaube an den Fortschritt, in dem Sinn, wie Kafka daran geglaubt hat - weil es ihn nicht gibt. Wir müssen alle um uns versammeln, die an den Fortschritt glauben; es gibt nicht allzu viele. Denn die meisten, die an den Fortschritt glauben, glauben eigentlich gar nicht an den Fortschritt, sie sind nur fortschreitend beteiligt an Dingen, die profitabel sind."

Claus-Steffen Mahnkopf, geboren 1962, lebt als Komponist in Freiburg. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Musik, zuletzt wurde 2000 auf der Münchener Biennale sein Musiktheater Angelus Novus aufgeführt.


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