Wahnsinn in Leipzig: Die poetische Einheitsfront von Clemens Meyer
Antifa Lina E., Antifa, „Tag X“, DFB-Pokal: Der Schriftsteller Clemens Meyer beruhigt sich erst am Ende jenes Wochenendes, an dem eine wahnsinnige Menge seine Stadt heimgesucht hat
Und für einen Augenblick glaubte ich ihn zu erkennen im Leipziger Nachtbus, den Punker, den Anarchisten, den Antifaschisten, den Irokesen Wolfgang, der einmal ein begnadeter Schwimmsportler gewesen war, bevor er sich irgendwann in der ersten Hälfte der 1990er entschloss … Entschließen? Nein, es ging ja um die pure Notwehr in jenen Jahren. Wolfgang befand sich mit seinem Outfit in einer permanenten Gefahrensituation, denn er wohnte, so wie ich, in Reudnitz, wo die Reudnitzer Rechten und andere Gruppen die Straßen beherrschten, verbrachte aber die meiste Zeit in Connewitz, wo er später in verschiedenen besetzten Häusern lebte. Bullen und Nazis, vor denen war er stets auf der Flucht, auf der Hut, wehrte sich, zumindest gegen die Nazis.
Aber kein Wolfgang sa&
lfgang saß mit mir im überfüllten Leipziger Nachtbus der Linie 60, die früher einmal der A-Bus gewesen war, A wie Antifa, A wie Alkohol, A wie Asoziale (ein von den Nazis gerne und abwertend genutzter Begriff, den aber auch die Betonköpfe der SED verwendeten), A wie Anarchie, A wie Anderssein, A wie A-Bus in die Vergangenheit, denn hier, in diesem Leipzig, Anfang Juni 2023, gerät alles durcheinander. „Der Riss der Zeit, der durch die Stadt geht“, um Christa Wolfs auf Thomas Brasch und Heinrich von Kleist gemünzten Ausspruch etwas zu variieren. RB Leipzig gewinnt, wie von mir befürchtet, den DFB-Pokal, und in einer verzweifelten SMS an meinen Frankfurter Verleger zitiere ich den Komponisten Hanns Eisler: „Tröstet euch, Genossen, auch der Kapitalismus hat seine Schattenseiten.“Dunkel sind aber andere Schatten an diesem ersten Juni-Wochenende 2023, schwarz fallen sie auf die Straßen unserer Stadt, auf unsere antifaschistische Vergangenheit und Tradition, schwarze Schatten, die viel zu groß sind für die jugendlichen Touristen, die, ganz in Schwarz gekleidet („Damit die Frisur hält: Dreiwettertaft!“), wahrscheinlich nichts oder nur wenig wissen von dieser Tradition in dieser besonderen Stadt, deren Zerrissenheit uns nun wieder klar vor Augen steht, auch wenn manch RB-Logenmieter das nun wegfeiern mag, wogegen ja wahrscheinlich auch nichts einzuwenden ist, obwohl: Liegen die Kernprobleme nicht auch genau da, der Ausverkauf einer Stadt?Aber darum ging es den Touristen im von ihnen (und anderen) ausgerufenen Klassenkampf ja gar nicht. Als der Kommunist Erich Ferl im Frühjahr 1933 von Nazis aus dem Lokal, in dem sich die kommunistischen Arbeiter trafen, gezerrt wurde, fielen Schüsse und er starb. Erich-Ferl-Straße hieß zu DDR-Zeiten die heutige Wurzner Straße. Diese Straße führt in die kleine Nazi-Town Wurzen, in der sich, wie vielerorts im Muldental, das braune Sachsen dicht zusammendrängt, wo aber auch unermüdlich der wunderbare Dichter und Anarchist Joachim Ringelnatz dichtend Widerstand leistet, mit all denen, die diesen Widerstand dort wagen.Die Opfer rechter Gewalt in Sachsen sind auch seit 1990 nicht zu übersehen. Kurt Biedenkopfs Versäumnisse wirken bis heute. Aber warum nur kam unter dem Teppich des antifaschistischen Staates der braune Mob hervor (Hoyerswerda, Rostock, vorwärts und nicht vergessen), keimte der NSU-Irrsinn? Das hat mit uns im Osten zu tun, auch, vor allem. Die Schuhe müssen wir uns anziehen, auch wenn Blut drin ist, ruckedigu! Das ist keine Erfindung des Westens (um Dirk Oschmanns Buchtitel zu zitieren).Eine Bild-Zeitung weht, vom Wasserwerfer durchfeuchtet, über den Connewitzer Asphalt. „Beate Zschäpe und Lina E. in Chemnitz Wand an Wand“ steht da, oder so ähnlich. Es ist schon bizarr, dass die beiden in derselben JVA sitzen oder saßen (Erich Honecker saß ja auch, Anfang der 1990er, kurzzeitig im selben Knast wie unter den Nazis, die Geschichte ist immer so blind wie ihre so genannten Sieger), was ja für die Bild wieder ein willkommener Anlass ist, rechte und linke Gewalt gleichzustellen, so wie jahrelang und bis heute (nicht nur in der Bild) von „beiden deutschen Diktaturen“ gesprochen wird, obwohl jedem normal Denkendem klar sein sollte, dass man da gewaltig differenzieren muss. MÄCHTIG GEWALTIG.Pablo Nerudas grüne BlüteEin Tag X soll also stattfinden an diesem Juni-Wochenende in Leipzig. Bei meiner Beschäftigung mit dem NSU-Komplex stieß ich auf ebendiese Formulierung, „Tag X“.Auf den die rechte Szene in Deutschland damals hinarbeitete, an dem die (nach ihrer Ansicht) fragile und perverse Demokratie zerstört werden würde, zumindest erst mal angegriffen. Beim Versuch, zu begreifen, was diese (ostdeutsche, aber auch deutsche) Neonazi-Szene, der auch ein alter Klassenkamerad von mir sehr prominent angehörte, antrieb in ihrem Wahn, stieß ich immer wieder auf diesen „Tag X“.Die Termini der Neonazis sollten nicht genutzt werden. Fackelzüge in FDJ-Uniform waren auch keine gute Idee zu DDR-Zeiten.„Krawalltouristen“, schreie ich in den überfüllten Nachtbus der Linie 60, „macht euch weg, verschwindet in eure Bundesländer, in eure Dörfer und Städte!“ Die Leute schauen verwundert, rücken ab von mir.Wie Petrov in Kirill Serebrennikows großem Film Petrov’s Flu befinde ich mich in einem Fiebertraum. Irre durch eine zerrissene, enteignete Stadt.Was geht hier nur vor? Verzweifelt versuche ich ein Gedicht des antifaschistischen Dichters Pablo Neruda zu zitieren, aber mein fieberndes Hirn findet nichts und projiziert nur brennende Barrikaden, rennende Gruppen, einkesselnde Bullen, Sprechchöre, deren Melodik mich dann doch an Fußball erinnert, Gesichter voller Hass, zum Teil unter schwarzen Hasskappen, wo doch der Hass den Faschisten gehören sollte, auch wenn man sich die Vehemenz der Soko Linx damals bei den Ermittlungen gegen NSU und Co. gewünscht hätte. Aber wer glaubt, wir wären wieder in der Weimarer Republik der späten 20er, der frühen 30er, als der kommunistische Straßenkampf quasi Manifest der Kommunistischen Partei war, die sich auf der Suche nach der Weltrevolution befand, der ist geschichtsblind, zumindest „geschichtsplump“, wie Christa Wolf es in ihrem Buch Kindheitsmuster ausdrückte. Unsere heutige Demokratie ist beschädigt und dient einem Kapital, das Übelkeit bereitet, rechtfertigt aber keine solche Tabula rasa, wie sie in Leipzig stattfand.Ressentiment beinahe auf BestellungVergessen sollten wir auch eines nicht: dass leider im Fiebertraum jenes Kampfes gegen Weimar der Teufel des Faschismus mit genährt wurde. Keine Einheitsfront gegen die AfD, im Gegenteil, hier wird Ressentiment beinahe auf Bestellung geliefert. Wenn ich nur noch randaliere in unserem Nachtbus BRD, wird diese Fahrt nur noch schneller das Ende der Nacht erreichen.So sprich doch, Neruda, damit sich deine Worte über unsere Fahrten legen: „Tod den Unterirdischen! verfüge ich. // Wie lange noch sich betrügen mit verschlossenem Gesicht, / mit Augen dem Nichtsehen zu, dem Schlafen zu. / Nichts anderes ist notwendig als dasein, / und dasein ist im Licht, dasein ist gesehen werden / und ansehn, dasein ist berühren und entdecken. // Nieder mit allem, was nicht Blüte trägt!“Und eine grüne Blüte glaubte ich zu erkennen im Nachtbus der Linie 60, nachdem oder bevor ich pöbelnd außer mich geriet, weil ich mir sicher war, dass das nun der Bus der zugereisten Krawalljugend sein müsse, der Nachtbus der Schwarzgekleideten, die nichts über die antifaschistische Geschichte und Tradition unserer Stadt wussten; und warum überhaupt Schwarz, das war doch die Farbe der Ustascha, der SA, des Faschismus, wenn schon Block, dann Blockschokolade. Ich erinnerte mich, dass mein Vater mir mal gesagt hatte, dass das Treten von Menschen, die am Boden liegen, nur eines Faschisten würdig sei. Bauchtreten genauso. Viele gegen einen dann auch. Der alte Protest-Song If I Had a Hammer war ja wohl auch anders gemeint.Und da sah ich ihn, meinen alten Freund Wolfgang, wähnte ihn einige Meter weiter, denn er schien, mit seinem grünen Iro, dieser Blüte, von der Neruda schrieb, inmitten der wahnsinnigen Menge zu stehen, die unsere Stadt heimgesucht hatte. Er beruhigte mich. Ich solle mal aufhören zu pöbeln. Das hier sei doch nur der übliche Nachtbusirrsinn. Aber bei einem gab er mir recht, man müsse die Neonazis im Freistaat bekämpfen, aber nicht mit Hämmern und faschistischer Grausamkeit. Und wir erinnerten uns gemeinsam an all die Notwehrexzesse, die manchmal notwendig waren, träumten aber auch von einem Widerstand, der sich nicht in einer steinewerfenden Masse manifestierte. Denn um herauszufinden, was hier schiefläuft, brauchen wir klaren Verstand und Intellekt und Träume und Poesie und nur ein bisschen Wut und keinen Hass. Das wäre doch mal eine Einheitsfront.