Alice Munro beendet Karriere - was bleibt?

Literatur Weltweit sagen Leser und Kritiker, Alice Munros Erzählkunst wirke auf sie wie eine Art „Zauber“. Was ist ihr Geheimnis? Ein persönlicher Versuch

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Vor wenigen Tagen gab die große kanadische Schriftstellerin Alice Munro (81) bekannt, mit dem Schreiben aufzuhören. In den Medien gibt es dazu bisher nur Kurzmeldungen. Deshalb hier ein persönlicher Versuch, zumindest eine zentrale Metapher aus dem Lebenswerk dieser meisterhaften Erzählerin herauszuarbeiten.

Vor ungefähr drei Jahren drückte mir meine Schwester Alice Munros Erzählband Runaway (deutscher Titel: Tricks) in die Hand.

Wir hatten gerade darüber gesprochen, dass Schreibkurse einem jegliche Lust am Schreiben nehmen können. Diese Erfahrung hatte sie an der „Schreibschule“ in Biel gemacht. Dort hatten sie täglich ihre Texte analysieren müssen – sowohl selbstverfasste als auch diejenigen aus fremder Feder.

Meine Schwester sagte, nach einiger Zeit sei es wie verhext. Egal, welches Buch man zur Hand nehme, stets sehe man hinter jeder Seite nur noch ein Netz aus diversen literarischen und dramaturgischen Techniken. Jeder Satz wirke irgendwie plötzlich künstlich, zweckgebunden, prätentiös.

Aber mit Runaway ist es anders,“ sagte sie. Die Geschichten in diesem Erzählband zögen sie wirklich in ihren Bann. Und zwar nicht auf intellektuelle Art, sondern auf eine sehr „bodenständige.“ Was ist es an diesen Geschichten, das diesen Effekt herbeiführt? Was ist Munros Trick?

Sie konnte es nicht sagen. Sie lieh mir das Buch einfach aus.

Schon nach den ersten Geschichten wusste ich genau, was meine Schwester meinte. Etwas derartiges hatte ich wirklich noch nie gelesen. Ich will nicht übertreiben, aber es war fast so, als hätte mir jemand eine Farbe gezeigt, die ich vorher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Man kann sich einfach nicht sattsehen. Und man fragt sie, wie man je ohne Kenntnis dieser Farbe hat leben können.

Das geschah wie gesagt vor circa drei Jahren. Seitdem habe ich vieles von Munro gelesen - und durfte entdecken, dass Runaway noch nicht einmal zu ihren besten Werken zählt. Aber eine Antwort auf die Frage nach ihrem zauberhaften erzählerischen Trick habe auch ich niemals finden können.

Trotzdem fühle ich mich irgendwie verpflichtet, zumindest meine eigene persönliche Sicht auf Alice Munros Kunst zu umreißen. Und das beste, was mir dazu einfällt, ist, mich einer Metapher zu bedienen, die in Munros Geschichten immer wieder auftaucht.

Diese Metapher ist die der Geomorphologie.

Mir fallen sofort zwei Kurzgeschichten von Munro ein, in denen eine wichtige Figur Geologe ist. In Deep-Holes (aus dem Band Too much Happiness, dt. Zu viel Glück) ist es Alex, der Ehemann der Hauptfigur Sally. Sein Beruf wird schon im zweiten Absatz folgendermaßen thematisiert: „The picnic was in honour of Alex's publishing his first solo article in Zeitschrift für Geomorphologie.“

Nur 10 Seiten später – es sind jedoch, wie für Munros Geschichten typisch, mittlerweile schon viele Jahre vergangen – ist Alex in Rente gegangen und hat nun vor, ein ganzes Fachbuch über Geomorphologie zu schreiben. Füher hat Sally dieses Thema nicht großartig interessiert. Doch nun muss sie feststellen („to her own surprise“), dass auch sie plötzlich eine Faszination für dieses Wissenschaftsgebiet entwickelt. Sie beschließt, Alex bei seinem Unterfangen zu helfen.

„So she became the small figur in black or bright clothing, contrasting with the ribbons of Silurian or Devonian rock. Or with the gneiss formed by intense compression, folded and deformed by clashes of the American and Pacific plates to make the present continent. Gradually she learned to use her eyes and apply new knowledge, till she could stand in an empty suburban street and realize that far beneath her shoes was a crater filled with rubble never to be seen, that never had been seen, because there were no eyes to see it at its creation or throughout the long history of its being made and filled and hidden and lost. Alex did such things the honour of knowing about them, the very best he could, and she admired him for that, although she knew enough not to say so.“ (Kursiv-Hervorhebung stammt von mir)

Für mich ist diese Passage die ultimative Metapher für Munros Schreibkunst. Und zwar, wie ich finde, auf eine selbstreferenzielle Art und Weise, die so gar nicht prätentiös daherkommt.

In ihrer jahrzehntelangen Karriere als Schriftstellerin hat Munro hunderte von Kurzgeschichten geschrieben – und selbstverständlich folgt jede von ihnen einer ganz eigenen Dramaturgie. Dennoch gibt es Aspekte, die stets wiederkehren. Zwei davon will ich hier hervorheben.

Erstens (Zeitungsartikel über Munro vergessen so gut wie nie, dies zu erwähnen), besteht ihr Figurenensemble immer nahezu ausschließlich aus „Alltagsmenschen“, die in kanadischen Kleinstädten leben – meist irgendwo in der Umgebung von Ottawa. Diese Figuren haben Probleme und Wünsche von universeller Gültigkeit (zumindest, was Westliche Kulturen angeht – und ich würde gerne behaupten: auch darüber hinaus.)

Zweitens decken die meisten ihrer Erzählungen – obwohl sie selten länger als 40 Seiten sind – mehrere Jahrzehnte im Leben der Protagonisten ab. Ihre Geschichten wirken dabei jedoch alles andere als sprunghaft. Denn die chronologische Freizügigkeit wird durch sehr dichte motivische Verknüpfungen ausgeglichen. Es entsteht eine Kontinutät, die geradezu unumgänglich wirkt.

Nun glaube ich, dass diese zwei Aspekte, diese zwei Konstanten in Munros Erzählkunst, miteinander korrelieren, und zwar auf essentielle Art und Weise.

Auf der einen Seite sorgt die Nüchternheit, die Bodenständigkeit, die Alltäglichkeit von Munros Figuren dafür, dass man in Gedanken gar nicht erst nach erzähltechnischen Konstruktionen zu suchen beginnt.

Auf der anderen Seite erzeugt der saltatorische und dennoch präzise Erzählfluss beim Leser den Eindruck, Zeuge der allerwichtigsten Ereignisse im Leben des Protagonisten hautnah mitzuerleben.

Und genau das ist es, was auch Geomorphologie so faszinierend macht: Unter der scheinbar stabilen und statischen Erdoberfläche liegen Kräfte, die stark genug sind, die Gestalt des gesamten Erdballs zu beeinflussen.

Dieser schier unvorstellbaren Kraft wird man sich jedoch erst dann bewusst, wenn man sich ganz konkret zum Beispiel einen Berg anschaut und sich über dessen Entstehung Gedanken macht. Wenn man wirklich konsequent darüber nachdenkt, kann man eigentlich nur erschaudern vor den Mächten, die am Werk gewesen sein mussten, um diese massive, kilometerweite Steinformation in Form zu wuchten.

Das Entscheidende aber ist: Im normalen Leben hat man kaum die Möglichkeit, dies wirklich zu begreifen. Dafür ist die enorme Kraft (vermutlich etliche Gigajoule) viel zu groß und die Geschwindigkeit der Veränderung (einige Zentimeter pro Jahr) viel zu klein.

Nur diese allseits bekannten Computeranimationen, die etliche Jahrmillion in wenigen Sekunden ablaufen zu lassen, sind in der Lage, uns eine Vorstellung von diesen Vorgängen zu geben. Von Vorgängen, die letztlich alles formen worauf wir auf dieser Welt unseren Fuß setzen können.

Es mag sonderbar klingen, aber für mich erreichen Alice Munos Geschichten genau das. Was die Computeranimationen für mein Verständis von Plattentektonik erreichen, erreichen ihre Erzählungen für mein Verstädnis vom Menschen.

Sie geben mir eine Vorstellung von den enormen Kräften, die ein Leben formen. Indem Munro dieses Leben ihrer Figuren an exakt den richtigen Stellen manchmal in Zeitlupe und manchmal in extremem Zeitraffer ablaufen lässt, erkenne ich Dinge, die normalerweise außerhalb meiner Wahrnehmungsmöglichkeiten liegen. Sie zeigt mir subtil und feinfühlig Alltagssituationen, die für sich genommen nichts Besonderes sind, nichts aufdringlich „ausgedachtes an sich haben, jedoch in der Zusammenschau plötzlich einen großen, unerwarteten Sinn ergeben.

Dadurch schafft sie es Kräfte offen zu legen, die unser gesamtes menschliches Wesen prägen. Kräfte, deren wir uns zuvor gar nicht bewusst waren. Und an den einzigartigen Stellen in ihrem Werk, an dem das kann ich nur vor Erstaunen erschaudern. Es ist, als wären die Alpen gerade direkt vor meinen Augen aus dem Boden geschossen.

Ich spreche hier die ganze Zeit nur von meinen persönlichen Eindrücken. Selbstverständlich ist das, was ich gerade beschrieben habe, vielleicht ein Kriterium, das auf alle großen Autoren zutrifft: Sie sollten uns eine universelle menschliche Wahrheit erkennen lassen, die zuvor im verborgenen lag.

Doch zumindest kann ich mir sicher sein, dass auch einige von Munros Figuren ähnlich empfinden wie ich. Zum Beispiel Royce, eine Figur aus Axis – der allerletzten Kurzgeschichten aus Munros Lebenswerk. Denn auch Royce erlebt die zentrale Epihanie seines gesamten Lebens ausgerechnet beim betrachten einer Klippe (geologisch präziser: einer Schichtstufe), die ihm zuvor nie aufgefallen ist:

„Then he got out and he saw across the road in the cut of the highway a tower of ancient-looking rock that seemed quite out of place there. […] He was on the edge of the Niagara Escarpment, though he did not know that name or anything about it. But he was captivated. Why had he never been told anything about this? This surprise, this careless challenge in the ordinary landscape. He felt a comic sort of outrage that something made for him to explore had been there all along and nobody had told him. Nevertheless he knew. Before he got into the next car he knew that he was going to find out. He was not going to let this go. Geology was what it was called - and all this time he had been fooling around with arguments, with philosophy and political science. It wouldn't be easy. It would mean saving money, starting again with pimpled brats just out of high school. But that was what he would do. Later, he often told people about this trip, about the sight of the escarpment that had turned his life around. If asked what he'd been doing there he'd wonder and then remember that he had gone up there to see a girl...“ (Kursiv-Hervorhebung erneut von mir).

Ich glaube, diese großartige Passage muss nicht weiter kommentiert werden. Vielleicht genügt die Anmerkung, dass auch Sally (die Protagonistin aus Deep-Holes) im allerletzten Absatz der Erzählung einen bittersüßen Gedanken hat, der all das, was ich mich hier abmühe, zu umschreiben, in zwei Sätze packt:

„And it was possible, too, that age could be her ally, turning her into somebody she didn't know yet. She has seen the look on the faces of certain old people – marooned on islands of their own choosing, clear sighted, content.“

Alice Munro ist eine kanadische Autorin. Mit ihrem umfangreichen erzählerischen Werk ist sie in Kanada und im angelsächsischen Sprachraum eine Bestsellerautorin. Munro wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario und in British Columbia. (Wikipedia)

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Das Große im Kleinen finden. Einzelne Romanpassagen und Filmszenen durchleuchten. Twitter: @CloseViewing (Filme und Fotografie)

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