Corta Jaca- Spalte die Brotfrucht II

Brasiliens Populärmusik Brasiliens Populärmusik ist vielgestaltig, virtuos, herzergreifend. Zur Olympiade sollten wir dieser Musikkultur lauschen, statt vom Sponsoren- Pop eingelullt zu werden.

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Música Popular: Alles, nicht nur Samba und Bossa

Tom Zé ist Miterfinder der zweiten Welle der Música popular Brasileira, die man Tropicália, Tropicalismo nennt oder sie dem Movimento tropicalista zurechnet, zu dem auch Film, Theater, politische Literatur, Architektur und kulturwissenschaftliches Wissen um die Indios Brasiliens und den Regenwald gehört.

Vielleicht ist er der größte musikalische Experimentator aus dieser Generation. Er hat gerade, völlig zu Recht, einen späten Gipfel der Popularität und Anerkennung erklommen. Wenn es auf die Bühne tritt oder Alben produziert, dann singt und performt er nicht nur, sondern verkündet Botschaften für alle Brasilianer und für uns, seine Gäste aus der ganzen Welt. Ständig lernt er dazu und so spielen auch einige seiner Albentitel auf das Kunstelement der Studie und des Studierens an, wie sein mittlerweile berühmtes Meisterwerk Estudando o Samba(1975) (>>Ma<<, aus „Estudando o Samba“, https://www.youtube.com/watch?v=dz0ftbNUNEk ).

Zé spielt immer auch den Clown, Hofnarren und neuerdings ein Marsupil, mit dünnem, langem Schwanz, das sich erlauben kann, dem Volk und seinen Politikern gleichermaßen den Spiegel vorzuhalten. In den Jahren der Militärdiktatur (1964- 1985) hatten es die Gründer der Tropicália (Gilberto Gil, José Carlos Capinam,Caetano Veloso,Nara Leão,Gal Costa, die Gruppe Os Mutantes, Tom Zé, u.v. a.) durchaus schwer. Einige wurden verhaftet oder flohen, meist ins europäische Exil.

Tom Zé kennt keine Berührungsängste und kann von den klasssischen Formen des Choro und Frevo und des Pagode, über Jazz und Elektronica, bis zum Songwriter-Lied alles glaubwürdig und innovativ vortragen. Reden und extemporieren erledigt er dabei nebenbei, fast wie Kubas Fidel Castro zu seinen besten Zeiten, praktisch unstoppbar. Dazu verfügt er über die seltene Eigenschaft scharfsinnigen Spotts, ohne je beleidigend zu sein: Eine Offenbarung in dieser Hinsicht, das 2013er Album „Tribunal do Feicebuqui“ (>>Tribunal do Feicebuqui<< und folgende Titel, https://www.youtube.com/watch?v=YKsRnPmkYzY ) und sein Nachfolger „Vira Lata na Via Láctea“ (2014) (>>Geração Y<<, „Generation Y“, und folgende Titel; https://www.youtube.com/watch?v=_ZLzWlU0mB0 ).

Selbstverständlich spielen sämtliche Musiker auf höchstem technischen Niveau und mit allen erdenklichen Sampletechniken. Einfache Arrangements kennt Tom Zé nicht. Trotzdem bleibt der musikalischer Spaß und Spielwitz ebenso erhalten, wie die Tanzbarkeit und die ironischen Textbotschaften. - Heute lieben alle Tom Zé und er beweist mit jedem neuen Werk, dass das Alter die Kreativität und Spielfreude überhaupt nicht beeinträchtigt, sondern eher noch steigert.

Rodrigo Amarante war eines der Gründungsmitglieder der Rock- Band „Los Hermanos“ und hat sich längst zum veritablen Solokünstler weiterentwickelt, so, wie sein ehemaliger Partner Marcelo Camelo (>>Doce solidao<<,https://www.youtube.com/watch?v=8v4yo1L_aP0 , >>Menina Bordada<<, https://www.youtube.com/watch?v=R4CYJ5mvpkg ) eine Legende als Songsschreiber und Solokünstler wurde, dessen Lieder Schulkinder und erwachsene Kinder gleichermaßen auswendig kennen.

Für die Miniserie „Narcos“, die den Schreckensweg des Drogenhändlers Pablo Escobar nachzeichnete, schrieb Rodrigo Amarante den intrigant eingängigen Rumba- Titelsong, >>Tuyo<< (https://www.youtube.com/watch?v=bRlB7otGjNc ; Filmtrailer, https://www.youtube.com/watch?v=Gbetn8XWs88 ).

Alle großen Musiker Brasiliens sind bestrebt mit anderen Künstlern zusammenzuzarbeiten. Sie laden sich ein, covern sich gegenseitig oder erinnern gemeinsam an die lange Tradition der Música Popular und ihre Vorbilder. Das schafft Beziehungen zu Zeitgenossen und Vorgängern, über Stile und Herkunftsgrenzen hinweg und bildet eine Kanon an Werken.

Die Música popular entwickelte sich ursprünglich aus Tanzformen, z.B. dem Mexixe, dem brasilianischen Tango und dem Maracatu, besonders aber, aus dem Choro. Heute reicht sie von der amazonisch und indigen beeinflussten Wald-, Welt- und Jazzmusik Egberto Gismontis, bis zu Pato Fus eigenwilligem Indie-Pop und Rock oder dem Liedermacher Marcelo Camelo. Von Chiquinha Gonzaga, der Königin des Choro, bis zur Pianistin Clara Sverner, die Mozart, Debussy und die Choro- Komponisten spielt und sich auf Klangexperimente mit konkretistischen Op- art Künstlern gerne einlässt. Junge Komponisten und Pianisten, wie zum Beispiel Hercules Gomes, setzen die Tradition eigenständig fort.

Dass Brasilien zu den wenigen Ländern gehört, die gar nicht darauf angewiesen sind, fremde Vorgaben nachzuäffen oder immerzu nach Europa und in die USA zu schielen, wird schnell klar. Wer behauptet, die Vereinigten Staaten seien ein kultureller Schmelztiegel, der kennt Brasilien nicht. Die klassische Musik seit dem 16. Jahrhundert, der Tanz, afrikanische, europäische und indigene Volksmusik prägen bis heute die Música Popular des Landes.

Kein Land Südamerikas bringt so viele artistische Ausnahmekünstler hervor, die dazu noch allgemeine Popularität und „Street credibility“ erlangen. In kaum einem anderen Land legen Musiker und Komponisten so viel Wert darauf, ihre Tradition, ihre Vorgänger und Zeitgenossen genau zu kennen und immer wieder neu und virtuos zu interpretieren. Kaum ein anderes Publikum schätzt das so.

Nur ein paar Sterne

Arnaldo Antunes ist für mich die Idealbesetzung eines Liedchensängers. Das ist als großes Lob und nicht als Kritik an dem gebildeten und wortmächtigen Komponisten, Sängers und Schriftsteller gemeint. Seine Musik macht einfach froh und wohlgestimmt. Man will sich dazu sofort bewegen. Nie sind die Arrgangements platt, nie die Texte einfach nur Masche und banal. Wie alle großen Musik- Stars Brasiliens, kennt er die Tradition und bindet sie in Pop und Rock ein, so wie er das schon als Mitglied der Band „Titãs“ tat. Auf dem Balkon seines Hauses gibt Antunes ein Freiluftkonzert: Diesen Top- Act hätte man gerne bei jedem Fest im eigenen Haus.

Die alte Discokugel dreht sich, die Lampions leuchten, Pop und Rock erstehen neu. Außerirdisch! (>>A Casa é Sua<<, https://www.youtube.com/watch?v=82aj1Bg8FpA ; >>Sou uma Criança<<, https://www.youtube.com/watch?v=exWellSEkKo ; >>Longe<<; https://www.youtube.com/watch?v=wriL0jPGW4Y ; >>Vem Cá<<,https://www.youtube.com/watch?v=fezhCZhxiSM). - Alle Titel stammen aus dem 2009er Album, „Lê,lê,lê“.

Was Pato Fu, die multinstrumentalistische „Ente“ um die Sängerin Fernanda Takai und ihren Mann an der Gitarre, John Ulhoa, musikalisch anpacken, das klingt.

Ob 30.000 Fuß über der Erde, als seien die Beatles modern wiedererstanden (>>30.000 Pes<<, https://www.youtube.com/watch?v=g16G7o31KKc ), ob komplett auf Spielzeuginstrumenten und Klangspielzeug, „Musica de Brinquedo“, für einen gelungenen musikalischen Familientag (https://www.youtube.com/watch?v=Gbetn8XWs88 ); ob Fernanda Takai mit ihren Freundinnen im Klub, >>Um Girassol da Cor do Seu Cabelo <<, einen Song Milton Nascimentos spielt ( https://www.youtube.com/watch?v=n3ys77npGm4 ), ob Pato Fu >>Cities in Dust<< von den Siouxsie & The Banshees covern (https://www.youtube.com/watch?v=BZqU26M46xc ), immer entsteht durchdacht überraschend Neues.

Mônica Salmaso, singt die Música popular wie moderne Kunstlieder. Ihr wunderbare Altstimme ist in der Lage sich so spielend und leicht aufzubauen, so zauberisch schön zu phrasieren, wie es bei kaum bei einer anderen Sängerin zu beobachten ist. Wenn sie sich der Tradition widmet, die Lieder und Kompositionen der großen Vorbilder auslegt, dann hat sie die Stücke völlig verstanden. Auf dem Album „Corpo de Baile“ singt sie vornehmlich gemeinschaftlich geschaffene Lieder des Lyrikers und Songschreibers Paulo César Pinheiro und seines Freundes Guinga, das ist Carlos Althier de Souza Lemos Escobar, einem der besten Komponisten und virtuosen Gitarristen, der praktisch jede Spielart vom Choro, Frevo, Samba, bis zum Jazz beherrscht (https://www.youtube.com/watch?v=ylyh5ki1-sI ).

Der Pianist und Komponist Hercules Gomes, verbindet anstrengungslos Choro- Tradition, Jazz und moderne Musik in seinen Interpretationen der klassischen Vorbilder. Er steuert eigene Kompositionen bei, die sich nicht verstecken müssen. Ich kann mir kein schöneres Piano- Konzert vorstellen, als jenes, das er im Zelt des Museu da Casa Brasileira Sao Paulo, 2013, gab.

Viel hat sich Hercules aus Vitória (Bundesstaat Espírito Santo, Südwestküste) als Jugendlicher selbst beigebracht, dann aber erfolgreich Musik studiert. Wer es eilig hat, höre sich aus dem einstündigen Konzert, -es ist zugleich eine Einführung zu wichtigen Choro- Komponisten-, wenigstens seine Eigenkompositionen >>Platônica<< und >>Toada<< an, die in ihrer emotionalen Tiefe und artistischen Spieltechnik an Egberto Gismonti erinnern (Mitschnitt des Konzerts im Museu da Casa Brasileira, https://www.youtube.com/watch?v=a7JeroJUsmg ).

Selbstverständlich spielt er auch Tom & Vinicius´, >> Eu Não Existo Sem Você<< (https://www.youtube.com/watch?v=Sszu1kkN11s ) oder huldigt der Choro- Queen Chiquinha Gonzaga mit << Corta Jaca<< ( https://www.youtube.com/watch?v=BXWBSmava34 ).

Tulipa Ruiz („Efêmera“ ( https://www.youtube.com/watch?v=THKCteQocns ): Mit der Musikerin und Illustratorin Tulipa Ruiz, geboren in Santos, der Geburtsstadt Pelés, erwachsen geworden in Sao Paulo, die sich auch als Zeichnerin einen Namen gemacht hat und sich mit ihrem Signet, der Tulpe, auf ihren Alben porträtiert, kommt ein frischer Wohlklang in die Welt des Pop. An den 11 Titeln ihres Albums „Efêmera“ aus dem Jahr 2010 gibt es schlicht nichts auszusetzen. Sie sind perfekt. Mit „Dancêliegt mittlerweile ihr drittes Album vor. Wieder überraschen die vielschichtigen Arrgangements und es bleibt beim guten Klang (>>Elixir<< (Tulipa Ruiz/Gustavo Ruiz), https://www.youtube.com/watch?v=uYeoxMpsCos und das programmatische >>Algo Maior<<, https://www.youtube.com/watch?v=jqs6Moyi0MI ).

Sänge Karina Buhr, dieses künstlerische Multitalent, in der Lingua franca des kommerziellen Westens, nämlich Englisch, sie hielte spielend weltweit mit. Lady Gaga, Madonna und Co., hätten weniger Chancen einfache Musik zu verkaufen ( >>Eu Menti Pra Você<<, aus dem gleichnamigen Album und weitere Titel, https://www.youtube.com/watch?v=okxck3PByWg ). So aber, bleibt sie bei uns ein Geheimtipp, auch wenn die Volksbühne-Berlin sie schon einmal eingeladen hatte.(>>Nassiria e Najaf<<, https://www.youtube.com/watch?v=aPx5e4BVlWI ; >>Eu su um Mostro<< und andere Songs auf dem Album „Selvática“, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=CHdUGygVjj4 )

Die junge Sängerin und Multinstrumentalistin Lucyane, „Lucy“ Alves, stammt aus einer Musiker-Familie, die, wie einst bei uns die „Kellys“, als „Clã Brasil“ praktisch vollzählig auf der Bühne steht.

Es ist schlicht so, dass es derzeit bei uns keine Unterhaltungsmusikerin gibt, die mit vergleichbarer Leichtigkeit und virtuoser Spielfreude auftritt. Wer etwas anderes weiß, soll es mir bitte unter das Blog schreiben. (Lucy Alves singt Luiz Gonzagas Bailão- Klassiker >>Sabiá<<, https://www.youtube.com/watch?v=EoON0E6MeOI ; Lucy Alves und Paulinho Moska singen und spielen Lucy Alves´ und Badus >>Amor A Perder De Vista<<, https://www.youtube.com/watch?v=VDrtjVNaW0A ; Os Gonzagas musizieren mit Lucy Alves, Dominguinhos und Djavans >>Retrato da Vida<<, https://www.youtube.com/watch?v=s7W36bttuZw ; Lucy Alves singt und spielt >>Treze de Dezembro<<, von Luiz Gonzaga, Zé Dantas und Gilberto Gil, https://www.youtube.com/watch?v=2RcB1V-CSF0 ).

Im musikalischen Olymp längst angekommen, erwartet Brasilien die Olympiagäste. Ich bin eher beschämt, nur so wenige Sterne des musikalischen Brasilien erwähnt zu haben. Nichts von Elis Regina, nichts von Lenine, nichts von Rubel und Tié, nichts von Baden Powell, nichts von Hamilton de Holanda, nichts von Gal Costa, Maria Bethânia, Chico Buarque, Caetano Veloso und Marisa Monte, kein Nando Reis, kein Seu Jorge. Mögen die Götter mehr Leser auf die Fährte setzen, 2016, brasilianische Entdeckungen zu machen.

Adeus und allzeit gute Reise

(Die wunderwirkende Lucy Alves spielt Luiz Gonzagas und Zé Dantas, >>Adeus Iracema<<, https://www.youtube.com/watch?v=t4Ni9qc8ADg )

Christoph Leusch

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