Dem großen Kuhauge

Fritz J. Raddatz Am 26. Februar nahm Fritz J. Raddatz sich das Leben. Was er Feuilletonisten bedeutet hat, war zu lesen. Hier erinnert sich ein dankbarer Leser.

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>>Er hatte, wie jeder Künstler, eine Welt sich aus dem Himmel reißen wollen, die es nicht gab, einen Ort zu leben, den nur er sich zu schaffen vermochte. Paris am Mississippi.<< (Fritz J. Raddatz, Lügner von Beruf, Auf den Spuren William Faukners)

Fritz J. Raddatz ist tot.

Ihm glaubte ich in Sachen Literatur alles und fast ohne Widerstand, obwohl er eine Vorliebe für die fantastische Imagination und das Anekdotische in seinen Feuilletons und Büchern nie verheimlichte. Einmal ließ er den Klassiker-Staatsminister Goethe, der selbst viel schrieb und sonst köstlich dilettierte, über den „Frankfurter Hauptbahnhof“ sinnieren, obwohl der zu dessen Lebzeiten noch gar nicht gebaut war. Vorwand, Fritz J. Raddatz als Feuilletonchef der Zeit loszuwerden.

Aber niemals sträubte ich mich, seinem Rat zu folgen, zumal er selten im Modus der Aufforderung, „Lest das!“, antrat. Wie sein feuilletonistisches Alter Ego, Marcel Reich-Ranicki, war mir F. J. R. ein Leselebensbegleiter. Einer, der wusste, dass Leben und Kunst nicht unterbrechbar und noch viel weniger berechenbar sind. Beides geschieht vor allem und tickt immer weiter. Daher schrieb er, in Deutschland sei nahtlos weiter gedichtet worden, selbst als alles in Scherben fiel. Wo furchtbare Juristen weiter richteten und Karrieren machten, wo Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Heinrich und Klaus Mann erst wieder heimisch werden mussten, neben Lübecker Zauberbergen und Leckereien, war das so. Es gab keine Stunde Null für die deutsche Nachkriegsliteratur.

Wer Raddatz las, begriff das und konnte Benn, Böll, Eich, Weyrauch, Andersch, Seghers, Schmidt, Schnurre, Grass, Koeppen, Bachmann, Huchel, später Walser, Hochhuth, Rühmkorf, Handke, Hans Christoph Buch und Nicolas Born, Heiner Müller und Christa Wolf, nebeneinander dulden.

Wie sein akademischer Lehrer, der homosexuelle, jüdische Literaturwissenschaftler Hans Mayer, liebte Fritz J. Raddatz die Außenseiter und jene, die die Literatur auch an die Ränder der Welt und der Existenz trieben: Genet, Cioran, Malaparte, Hubert Fichte, Peter Paul Zahl.

Wer ahnt, dass der Mississippi am Pont Neuf beginnt, der flunkert berufsmäßig, damit sich die Erfahrungswelt des Lesers weitet und den Wortfluten auf Papier in den immer unverständlichen Süden folgt. Fritz J. Raddatz war mir ein mitteilsamer Weltreisender zu ungewöhnlichen Menschen und Orten, ein sprachbildmächtiger Berichterstatter. William Faulkner hieß einer seiner vielen Leitsterne. Ein anderer, ebenso Wanderer zwischen Europa und Amerika, heute vergessen, James Baldwin.

Die Bestie ist auch literarisch tierisch. Also gab es ein Bestiarium von Raddatz’ Schreibtisch, der darin dem Beispiel Franz Bleis folgte: Günter Grass ein Aal, Elfriede Jelinek eine Möwe, die unappetitliche Trouvaillen suchend über dem Prater kreist. Er selbst tritt als Prachtleierschwanz nahe dem Schanzenviertel Hamburgs auf. Das seltsame Tier, ein Rara Avis, hat auch unangenehme Eigenheiten, kann äffen, spotten und nachahmen.

Tierisches tat es ihm an. Taubenherz und Geierschnabel lautet der Titel seiner Heinrich-Heine-Biografie. Kuhauge heißt eine Erzählung. Schon da, wie in den später publizierten Tagebüchern und Unruhe stiftenden Erinnerungen, steht, literarisch dann auch auf Effekt getrimmt, viel von Fritz J. Raddatz’ eigenen, traumatischen Lebensanfängen.

>>Der Schmetterling ist davongeflogen. Der fliegende Hexenmeister hat sich davongestohlen. Ein allerletztes Mal hatte er sich beim Worte genommen; denn der ursprüngliche Name Schmetterling beruht auf dem Volksglauben, daß Hexen in Schmetterlingsgestalt fliegen, um Milch und Rahm zu stehlen- ein Molkendieb, eine butterfly. Doch er hatte gewußt, womit er uns beschenkt- er hatte noch einmal getändelt, tiriliert, gelockt, geseufzt und gedroht mit seinem Schmerz der Kunst; die hat er uns eingebrannt:...<< (Fritz J. Raddatz, Taubenherz und Geierschnabel, Heinrich Heine. Eine Biographie)

Vom Anfang zum Ende: Was könnte tiefer, rätselhafter sein, gerade weil es nichts zu erkennen gibt, nur Platz für Ahnungen bleibt, als der Blick in das Auge einer Kuh? Steht da nicht das Versprechen einer große Ruhe, eines unergründlichen und unerschütterlichen Rechts auf das eigenartige Leben, die eigenwillige Natur, ohne jeden Rechtfertigungszwang, auf ein ewiges Jetzt, ein Sein im Nu, scheinbar ohne Leiden?

Letztes Quartier nun, dem großen Kuhauge.

Christoph Leusch

Dieses kleine Gedächtnis erschien im der Freitag, Nr. 10, vom 5. März 2015, auf Seite 21.

Für die Online- Seite ergänzte ich den Text um zwei Zitate aus Raddatz´ Büchern, die den Schreib- und Denkstil dieses gebildeten und genialen Feuilletonisten ein wenig aufzeigen. Hoffentlich passend zum traurigen Anlass.

Auch wenn Zeitungstexte im Raddatz- Format und Bücher in dieser dichten, häufig auch assoziativen Sprache derzeit ein wenig anachronistisch wirken, lohnt jede Musestunde mit Raddatz- Werken und seinen journalistischen Texten, doppelt und dreifach. Sie erschließen Welten und Menschen, unter Umständen sogar jene, die man selbst intuitiv, uninformiert oder bewusst ausblendend, ablehnt.

Im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht, halte ich die Erinnerungen und Tagebücher des Verstorbenen, die ebenfalls brilliant geschrieben sind, nicht für die Hauptsache und das Hauptanliegen des Autors. Das findet sich in den fliegenden Blättern des Feuilletons, in den Reise- und Personenschilderungen, in den Biografien zu Autoren, Literaturen und Persönlichkeiten, in Raddatz eigenem literarischen Werk, in seiner Tätigkeit als Herausgeber, Verleger, Lektor und Entdecker in der Welt der Literatur und Kultur.

Christoph Leusch

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