Deutschland, Nation ohne Grenze

Kultur=Anti-Sarrazin Thilo Sarrazin hat nicht nur wild-wirre Gedanken zu Rasse, Klasse und Effizienz, sondern der eifrige Zitierer versteht den Kern der Deutschen Kultur nicht. Das ist dumm.

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Deutschland, Nation ohne Grenze

Was mich an Thilo Sarrazins Auftritt und Hartnäckigkeit berührt, ich gebe es zu, das ist diese doch tief verwurzelte Sehnsucht, dem was "Deutscher-sein" heißen könnte, etwas näher zu kommen. - Dazu gleich mehr.

Um es aber zuerst und vorweg zu sagen, alles Faktische in seinem Buch, ist für mich eher kontrafaktisch. Die Thesen zur Genetik, zur Demografie und zur sozialen Mentalität, zur Welt der Muslime, und zu den Lösungsansätzen, die im Wesentlichen darin gipfeln, zu glauben es gäbe so etwas wie eine gesteuerte Einwanderung, sie sind für mich grundsätzlich nicht stimmig.

Ein böser Zug durchzieht zudem das ganze Werk und selbstverständlich auch seine Interviews. Das ist das dauernde Gerede von der Effizienz. Zuwanderer und Arme müssten etwas abwerfen, statt zu kosten. Thilo Sarrazin meint es wortwörtlich, im Sinne von ökonomisch abwerfen. Ein Plus unter der volkswirtschaftlichen Rechnung, die sogar den Kulturwert und den Zuchtwert einer Zuwandererethnie glaubt zu kennen und abschätzen zu können, wie der Händler auf dem Viehmarkt der Kuh ins Flotzmaul schaut und dann, mit der Faust auf die Flanke über dem Pansenmagen drückt um die Anlage zu gute Verdauung zu prüfen.

Ich will hier nicht auch noch diese These Sarrazins zerpflücken, weil mein Thema nun ein anderes ist, aber doch anmerken: Ich halte weder die reine Rechnerei des Volkswirts für stichhaltig, noch die Thesen die er ableitet für sinnvoll, weil der, im Stile eines Oberinspektors schreibende Thilo Sarrazin selbst definiert, was er unter Effizienz und Profit verstehen möchte und er Bevölkerungsgruppen danach einschätzt.

Hier soll es aber um den liebenswerten und gleichzeitig fatal irrigen Weg gehen, den die Kulturanschauung bei ihm genommen hat.

Sarrazin befürchtet ja nicht nur den demografischen und den ökonomischen Untergang Deutschlands, sondern auch die Degeneration der Kultur und der Bildung. - Hier ist es besonders schwer, dem Sachbuchautor zu folgen, mag er Goethes spätes gleiches, nicht das selbe, Nachtlied, noch so oft vortragen.

Was ist eigentlich deutsche Kultur?

All´ die schönen Beispiele und Verweise, was deutsche Schüler und damit natürlich auch die Schüler mit Migrationshintergrund, kennen sollten, -was sie natürlich häufig nicht lernen, weil der Kosmos der Bildung und Erziehung seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ebenso größer geworden ist, wie die Anzahl der Wissensfelder und die Tiefe ihrer Bearbeitung daher geringer, weil tatsächlich nicht mehr 4-5% eines Jahrgangs das Abitur machen und man diese heutigen Abiturienten, oder auch Realschüler oder Hauptschüler nicht mit einem so starren und verengten Bildungskanon fürs Leben ausbilden kann-, lenkt nur von einer grundlegenden Erkenntnis ab, die man an den Bildungsgütern selbst ablesen kann.

Entstanden ist das Allermeiste der Kultur, die Schätze der Klassik und der Romantik, ebenso wie die wesentlichen Kulturinhalte der deutschen Moderne, bis zum Höhepunkt in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, also vor der Barbarei, gegen jenes Deutschland der Nation.

Zu Reichseinigungen, Kriegen und Reichsneubegründungen, Kaiserjubiläen und sonstigen Nationalfesten gab es nur Schrottgedichte und Spottgedichte, furchtbar grottige Theaterinszenierungen und Turnfeste, dazu schaurig einfältige Bilder und riesige Monumente starker Männer in Wichs und Rüstung, zu denen andächtig gepilgert wurde und noch heute mancher Familienausflug führt.

Ein Auftauchen in Kaiser-Wilhelms Land war das herrschende Deutschlanderlebnis und der gedruckte U-Boot-Kapitän am Deutschen Eck zu Koblenz, er sah durch sein Periskop ringsherum nur Nationaldenkmale und deutsche Helden auf Sockeln. - So zeigten es die Karikaturen.

Wenn also Wanderers Nachtlied, das zweite, spätere, romantisch angehauchte, angestimmt wird, -weltweit übirgens-, intoniert nach Schuberts und Schumanns Noten, dann fantasiert die ganze Welt doch ein Deutschland ohne Grenzen, ein Deutschland als ein atmendes Luftreich, ein Deutschland des Geistes und der Kultur, ein geistig freies und offenes Land.

Der Ort ist tatsächlich ein Nirgendwo, eine Utopie, eine klassische und eine romantische Ortlosigkeit zugleich, niemals konkret auffindbar. Es ist ein Deutschland ohne Pass, allenfalls mit Passierschein, und mit Grenzen, die umritten, umschritten und umwandert werden konnten, und selbst, fast im Jahresrhythmus, umstritten waren. - Heute steht da immer öfter Private property. - Wenig später ist es ein Versprechen an die Menschheit, bevor Deutschland der Name eines Verbrechens an ihr wurde.

„Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.“,

dichtete Joseph von Eichendorff.

Dieses Zauberische, das ist es doch, wonach die Welt schon damals in Deutschland auf der Suche war und das, was Deutsche suchten, wenn sie in die Welt gingen. Tatsächlich gelang es deutschen Männern und Frauen oftmals die Zauberworte zu finden, die einen ganz neuen Klang brachten.

Das politische Deutschland allerdings blieb ein Flickenteppich aus adelsbeherrschten Kleinstaaten, rückständig in der Wirtschaft, rückständig in jeglicher Beziehung, wenn es um das Recht und die politische Teilhabe des Bürgertums, und noch mehr, wenn es um die Anerkennung der Leistungen und Kulturen der Handwerker und Arbeiter ging. Rechten Respekt hatten die Verantwortlichen nicht einmal vor den Bauern.

Höchstens in der Sprache und in der Musik, in den geistigen Wissenschaften und in der Idee von der universalen Bildung, im Begriff des Weltbürgers und Weltkundigen, findet sich ein schöner deutscher Ort. - Da liegt der ganze Schmerz, aber auch die Freude, der Götterfunke.

Die Nation aus Blut und Eisen hingegen, was war sie wirklich wert, was produzierte sie damals? Jedenfalls nichts, was Thilo Sarrazin sofort und spontan als geistigen Ausdruck unserer Kultur hätte zitieren können.

Woran liegt das, dass zwar Bildung vom Banker verlangt und gepredigt wird, aber er selbst die Konsequenzen aus dieser wirklich herausragenden Kulturschöpfung Deutschlands nicht ziehen möchte?

Im Zuge der Humboldtschen (hier des Staatmannes) Auffassung von Universität entwickelte sich doch so etwas wie eine globalisierte Geisteswissenschaft und eine gelehrte Sammlung dessen, was in der Welt zu finden war. Nicht umsonst genoss z.B. die Altertumskunde, die Sprachforschung, die Geografie, die Völkerkunde (heute Ethnologie), die Orientalistik so hohe Beachtung in der ganzen Welt. Sie konnte sich freier als in anderen Ländern, nicht gebunden an den Wunsch, Kolonien zu verwalten und auszubeuten, oder die Meere für die Nation zu sichern, entwickeln. - Bildung und Wissen, dienten als Ersatzreiche der Deutschen, und das war gut so.

Diese Botschaft durchzieht Alexander von Humboldts Kosmos. Er gibt sich als Wissenschaftler zu erkennen, der früh das länderübergreifende Teamwork schätzen lernte, der in jeder Zeile ausdrückt, wir sind Weltbürger und müssen so jeden Menschen den wir auf unserer Reise durchs Leben und die ganze Welt kennen lernen, auch als solchen ansehen. - Ja, Deutschland war das Land einer geistigen Respektskultur.

Ist es nicht dieses verborgene, freie, eher sprachlich und musikalisch vermittelte Deutschland, Land Orplid eben, welches von Menschen anderer Nationen immer noch bewundert und wieder gesucht wird? Wo ist das Land, in dem die Bäume poetisch wachsen und Dichter noch was gelten? Wo ist das Land, in dem Bildung, Herzensbildung und Geistesbildung, mehr zählt, als die Kopfbedeckung, der Rock und die Börse?

Immer wenn es um Kleiderordnungen geht, dann kann Deutschland schnell hässlich, ganz alt und grau werden, und vor allem, bei allem existierenden Reichtum, fantasielos im Angesicht einiger sozialer Probleme, bis hin zum Abgrund.

Aus Deutschland kommt die Idee, dass in der aufstrebenden, sich ökonomisierenden und kapitalisierenden Welt die ethischen und moralischen Normen auflösen, und an deren Stelle eine Haltung tritt, die sagt: „Du verdienst nichts, also bist du nichts“. Die weitere Fortführung der Geschichte bis zur Katastrophe, die spare ich mir jetzt.

Erste Verdächte, dass es mit dem heiligen Bildungsernst und der Freiheit des Geistes nicht so weit her sei, formulierten Heinrich Heine und Georg Büchner. Sie mussten fliehen und das sollte Schule machen. Als Theodor Fontane, im Tone milder Ironie seine Jenny Treibel schrieb, da war schon klar, dass das kalte Herz der Kommerzienrätin und ihres Gatten, das Kalkül auf Rechnung und Gegenrechnung, am Ende stärker sein würde, und die Bildung in Zukunft nur noch als Stukkatur, Abbreviatur und als Liedgut zur Abendsoiree dienen sollte.

Aus Deutschland stammt die Idee, dass ein Wissenschaftler, weil er immer an ein Interesse gebunden ist, selbst wenn er sich selbst für freischwebend hält, auch zur Beachtung der Konsequenzen seiner Erkenntnisse verdammt ist. Aus unserem Land stammt die Weisheit, „das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine“. - Derzeit wandern wir aber weiterhin strikt den Weg, der, mit Heidegger zu sprechen, direkt in die Seinsvergessenheit führt. Wir wollen nicht auf einer Lichtung oder an einer ständig sich weg bewegenden Grenze stehen, sondern den sozialen Wald abholzen, um es uns viel einfacher zu machen. - Das ist die traurige Botschaft Sarrazins, der Goethe zitiert, ihn aber nicht leben will.

So bleibt der Klassiker eine schöne Ausgabe im Bücherschrank, die den Kenner von Briefmarken und antiquarischen Büchern jederzeit begeistert, der aber ideell nicht in uns fortlebt, nicht fortleben kann. Ein Bildungsemblem, eine schimmernde Rüstung der Distinktion, die nur bewundert und regelmäßig abgestaubt wird, mehr nicht.

Ich muss sagen, das will ich nicht, und dagegen wehre und verwahre ich mich.

Zum Trost noch einmal Eichendorff:

„Aktenstöße nachts verschlingen,

Schwatzen nach der Welt Gebrauch,

Und das große Tretrad schwingen

Wie ein Ochs, das kann ich auch.

Aber glauben, dass der Plunder

Eben nicht der Plunder wär,

sondern ein hochwichtig Wunder,

Das gelang mir nimmermehr.“

Christoph Leusch

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