Direkte oder repräsentative Demokratie?

Demokratie Suchbewegungen mit Schiller, Zuckmayer, Giorgio Agamben, Boris Vian, Michel Foucault,Ulla Berkéwicz und F.C.Delius, die in demokratischen Angelegenheiten weiterhelfen.

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Direkte und indirekte Demokratie, Suchbewegungen nach einer freiheitlichen Moral

I Schiller

Ein Deutscher Dichter aus Marbach am Neckar schrieb der Schweiz ein bleibendes Monument ihrer Freiheit, den „Wilhelm Tell“. 1804 war die französische Revolution schon einmal ganz durchgedreht und ein „Kaiser der Franzosen“ beanspruchte, Ende und Endzweck der Revolution zugleich zu sein. Nur elf Jahre später packte die Restauration der Heiligen und der Römischen, des adeligen Standes mitsamt seinem Dünkel, und die Vertreter der fatalen Idee von Nation, der Nation von ihrer spießigen Seite, noch einmal fest zu und ließ Europa lange nicht los.

II EidgenossIn, oder nicht!

Nicht ganz am Ende, aber zu guter Letzt ist es bei Schiller eine Frauenstimme die die Schweizer ermahnt. Auch das dauerte bis zum siebten Februar 1971:

Bertha: „Landleute! Eidgenossen! Nehmt mich auf /In euren Bund, die erste Glückliche,/Die Schutz gefunden in der Freiheit Land./In eure tapfre Hand leg ich mein Recht,/ Wollt ihr als eure Bürgerin mich schützen?“

Landleute: „Das wollen wir mit Gut und Blut.“

Bertha: „Wohlan!/ So reich ich diesem Jüngling meine Rechte, / Die freie Schweizerin dem freien Mann!“ (Friedrich Schiller,Wilhelm Tell, 5.Aufzug, letzte Szene, nach: F.Schiller, Wilhelm Tell, dtv-Bibliothek der Erstausgaben (1804), München, 2.Aufl.2004)

Eine potentielle politische Mehrheit von mindestens 50 Prozent plus einer Stimme, musste bis 1971 warten, eher die Tapferkeit der männlichen Schweizer hinreichte. Die Entängstigung war wohl eher eine Ermattung. Denn der "Freiheitskampf" der fortschrittlichen Frauen produzierte einfach nicht genügend abgeschlagene Köpfe und durch Lockenrasur kastrierte Männer, als das sich hierdurch die Anerkennung weiter hätte aufschieben lassen.

III Wir sind alle Wirtschaftsflüchtlinge

Die Herkunft der Schweizer, legendär wie Schillers Tell, errät sich aus den folgenden Zeilen:

Winkelried: „So ist es wahr, wie´s in den Liedern lautet, / Daß wir von fern her in das Land gewallt?“

Stauffacher: „Hört, was die alten Hirten sich erzählen./ -Es war ein großes Volk, hinten im Lande / Nach Mitternacht, das litt von schwerer Theurung. / In dieser Noth beschloß die Landgemeinde, /Daß jeder zehnte Bürger nach dem Loos /Der Väter Land verlasse- das geschah!“

(Schiller, Wilhelm Tell, 2.Aufzug,2.Szene, aus: Schiller,Wilhelm Tell, München 2004)

Flüchtlinge, Auswanderer, aus ökonomischer Not, ein freiheitliches Volk aus lauter Wirtschaftsflüchtlingen gründeten die Schweiz. Deren Nachfahren schworen den Bund.

IV „Völkermühle“

Als Mensch vom Rhein, auch die Schweiz liegt dort an, drückt sich die eigene Kultur in einer ewigen Vermischung aus, und Stammbäume bleiben eher etwas für Hundezüchter und Pferdenarren.

Hartmann: „Wegen einer Unklarheit in meinem Stammbaum, Herr General. Meine Familie kommt nämlich vom Rhein.“ (…) Aber eine meiner Urgroßmütter scheint vom Ausland gekommen zu sein. Man hat das öfters in rheinischen Familien. Sie ist unbestimmbar. Die Papiere sind einfach nicht aufzufinden.“ (...) Hartmann: "So weit greift die Rassenforschung nicht zurück, Herr General."

Harras: "Muß sie aber! Muß sie! Wenn schon-denn schon! Denken Sie doch-was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein-noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! (…) Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor, seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet.- Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant- das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt- und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und- ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt- wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein- das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann- und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. (...)“- Martin Lüdke schreibt, anlässlich der kommenden Inszenierung des Zuckmayer Stückes "Des Teufels General", in Dresden treffend: „Mag sein, dass es eine schlichte Moral war, der Zuckmayer anhing. Aber sie ist praktikabel und, vor allem, menschlich." ( www.staatsschauspiel-dresden.de/home/des_teufels_general/moral_muss_gelebt_werden/ )

V Vom kleinen Mann

„Aber der kleine Mann ist eine ausschlaggebende Kraft. / Hunderte kleine Leute sind eine Gefahr für den Einzelnen./Hunderttausend kleine Leute reichen für einen Krieg. / Hundert Millionen kleine Leute machen das Unglück der Menschheit aus“ (…) Hitler ganz allein! Ein herrliches Schauspiel. /Aber 85 Millionen kleine Leute hinter ihm, da hört der Spaß auf.

Hitler ist tot, die kleinen Leute leben weiter und geben sich Mühe, einen harmlosen Eindruck zu machen - wie alle kleinen Leute der Welt. Die kleinen Leute hassen sich untereinander; aber vereinigt nennen sie sich Volk und sind nicht zu schlagen. Der Individualismus des Volkes ist der einzige Schutz gegen den kleinen Mann. Der kleine Mann weiß das nur zu gut. Hätte man nur Admirale bei der Marine, es gäbe keine Seeschlachten mehr.“ (Boris Vian, „Der kleine Mann ist der Schuldige“, aus: „Der Deserteur, Chansons,Satiren und Erzählungen, Berlin, 2001, S.29)

Weil das „der kleine Mann“ so gut weiß, er sich auch die meiste Zeit vor seiner unterdrückten Aggression fürchtet, erfand er das sozial erwünschte Ausdrucksverhalten und geschickte Ausweichstrategien, nicht die Hauptsätze zu grölen, sondern Nebenaspekte, wie „Stoppt Minarette“, zur Hauptsache zu erklären und lautstark zu beklagen. Wer im Verkehr nur auf Verbotsschilder reagiert, der fühlt sich irgendwann erhoben, selbst zum Schildermaler aufzusteigen. Er kennt und erkennt sich und glaubt daher auch die Anderen zu kennen. Daher werden Schwarz und Rot auf weißem Grund, penetrant in Blöcken und Kontrasten gesetzt, plötzlich so populär. (Hinweis: „Der kleine Mann“ muß nicht arm sein und er ist, das ist auch eine Art Emanzipation, mittlerweile häufig eine Frau.)

VI Politisierung des Lebens, die Wiederkehr der Biopolitik

Der französische Philosoph Michel Foucault prägte den Begriff „Bio-Politik“. Er meinte damit die Ausdehnung der Bereiche, in denen der Staat im „Namen des Volkes“, in private Lebensverhältnisse eingreift und dies zum Hauptthema der politischen Diskussion macht. Vor ihm hatte schon Karl Löwith auf die „totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutralsten Lebensgebiete“ hingewiesen. - So kommt es dazu, Kleiderordnungen, Bauten der Konfessionen, das belebte Straßenbild, ja, sogar Gesichtsformen, Hauttöne und die gesprochene Sprache daraufhin genau zu untersuchen, ja, dies zum eigentlichen Hauptgeschäft des öffentlichen politischen Redens und Handelns zu erklären. Ständig müssen Definitionen her, kaum ein öffentlich sichtbarer Akt der Individuen kann noch unkommentiert bleiben und letztlich muss immer eine Rechtsformel, ein Gesetz, eine Verordnung, eine Anordnung ergehen, wie die Sachen zwischen uns, unter uns und zu den definiert „Fremden“ zu regeln sind. Der Souverän (Führer, Volk, Wähler) bedient sich dabei zunehmend nicht nur der juristischen Experten, sondern bindet Ärzte, Wissenschaftler und Priester ein. - Das ist das Feld, zu dem Giorgio Agamben in seinem Buch „Homo sacer“ eine Analyse versucht, in der Hoffnung, so ließe sich dieses eigentümliche Umkippen erklären, das aus ehemaligen und weiterhin gläubigen Kommunisten, extreme Rassisten macht, die sich zu „ethnischen Säuberungen“ bekennen (Serbien). Nur so, meint Agamben, lasse sich die eigentümliche Nähe, diese „unerklärliche Geschwindigkeit“, doch noch begreifen, mit der sich parlamentarische Demokratien in totalitäre Systeme verwandeln und das „Volk“ totalitärer Systeme, wenn sie denn stürzen oder besiegt werden, als „Demokraten“ weiter macht (dazu, Giorgio Agamben, „Homo sacer“, dt.Ausgabe, Suhrkamp, F.a.M. 2002, S.127ff).

VIII Das „Volk“

Semantische Untiefen und Doppeldeutigkeiten weisen auf die politische Dimensionen hin, wenn es um die „Volksherrschaft“, die „Herrschaft des Volkes“, den „Volkssouverän“ als politische Handlungsmacht geht. Das klein geschriebene, „volk“ ist von der politischen Herrschaft, zumindest historisch betrachtet, häufig ausgeschlossen, ist arm, ist enterbt, ist eher ohnmächtiges Objekt mächtiger und ermächtigter Subjekte. Andererseits gilt es, groß geschrieben, als Gemeinschaft aller Bürger, als das eigentliche Subjekt der Demokratie. - „Eine dermaßen verbreitete und beständige semantische Ambiguität kann nicht zufällig sein (Giorgio Agamben, s.o., S.187)“

„Aus dieser Perspektive betrachtet ist unsere Zeit nichts anderes als der - unerbittliche und methodische- Versuch, die Spaltung, die das Volk teilt, durch die radikale Eliminierung des >>volks<< der Ausgeschlossenen zu schließen. Dieser Versuch verbindet, nach verschiedenen Modalitäten und Horizonten, die Rechte und die Linke, …; sie finden sich vereint im- letzten Endes vergeblichen, aber in allen industriealisierten Ländern teilweise realisierten- Projekt, ein einiges und ungeteiltes Volk herzustellen. Die Obsession der Entwicklung ist in unserem Zeitalter deshalb so wirksam, weil sie mit dem biopolitischen Projekt der Herstellung eines bruchlosen Volkes zusammen fällt.

Die Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland nimmt in diesem Licht eine radikal neue Bedeutung an: Als Volk, das sich weigert, sich in den nationalen politischen Körper zu integrieren (denn man nimmt an, daß jede Assimilation in Wahrheit nur simuliert ist), sind die Juden die Repräsentanten schlechthin und beinah das lebendige Symbol des >>volkes<<, … (Agamben, Homo sacer, s.o., S.188f).“- Wem wird heute, selbst von Leuten, die sich intellektuell dünken, und vom „Volk“ sowieso, vorgeworfen, die Assimilation nur zu simulieren?

IX „Virtual Reality“ und das beständige „Mene Mene Tekel u Pharsin“ - Wie wir schneller verrückt werden:

Was wäre das für ein Projekt, vergleichend „Fanatismus“ sichtbar zu machen, aus der Rolle ausbrechend, diesen Fanatismus immer nur bei den erkannten „Feinden“ der so genannten „offenen Gesellschaft“ zu suchen!

"Gibt es nicht Wissen mehr noch Weisheit, nur Information, keine Gemeinschaft mehr, nur Organisation , vereint sich diese weite Welt zu einer Technoökonomie, vereinnahmt, frißt und schluckt , verdaut und scheidet aus: der Konsument irrt einsam übern Markt,....(...) Panik ist das einzige Gefühl, was wir noch haben, Heidenangst. (Berkéwicz, S.9 f)“

Woher kommt der wahrhaftige Angriff auf die Zivilisation? -Von Außen, eher nein, von Innen, schon eher. Ulla Berkéwicz zitiert dazu Hans Moravec, einen Vordenker der KI-Ideologie: „>>Es ist sowieso egal, was die Menschen machen, denn sie werden bald zurückgelassen werden, wie die erste Stufe einer Rakete.<<. Sie lässt einen Proselyten dieser „Philosophie“, Max Moore, sprechen: >>Mit dem Verwerfen alter Mythen und dem Einsatz wirksamer neuer Werkzeuge können wir die biologischen und psychologischen Grenzen transzendieren. Hierzu müssen wir alle natürlichen und kulturell verwurzelten Beschränkungen unserer Fähigkeiten beseitigen.<<“ (…) „Unser Ziel, sagen die Trickser, ist nicht mehr das Verständnis von Welt, sondern deren Simulation (Berkéwicz, S.13f)“

„Es ist, als ob der amerikanische Fundamentalismus weder gegen den islamischen, noch gegen den jüdischen Fundamentalismus stünde, als ob sie alle zusammenspielten aus den verschiedensten Richtungen, in Richtung auf ein und dasselbe Ziel, als ob sie alle einem gemeinsamen morphogenetischen Feld entstammten, das sich über diese ganze geschundene Erde zieht und jederzeit zur Strahlung kommen kann, um tausendjährige Reiche zu erzeugen. (…) Wie viele sind unter uns mit verborgenen Strahlenschäden? (Berkéwicz, S. 112 f)“ (alle Zitate aus: Ulla Berkéwicz, Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus, Frankfurt am Main, 2003, Seitenangaben s.o.)

X Der Anarchismus von oben fördert den Vandalismus von unten

„Die Avantgarde der deutschen Anarchisten sitzt nicht auf der Höhe, sondern vor der Höhe in Bad Homburg. In der Stadt am Taunus leben viele Bürger, die beim Umgang mit Geld ein geschicktes Händchen haben. (…) Deshalb war die fiskalische Revolution der 90er Jahre hier zuerst zu beobachten. 1996 hat das Finanzamt Bad Homburg in der Endabrechnung keine Einkommenssteuer-Einnahmen mehr verbuchen können, es musste sogar 3.020 835 Mark zurück erstatten. 1997 betrug das Minus 50 Millionen (F.C.Delius, S.11)"

(…) Das Alles mag nur ein Nebenaspekt der großen Wende der 80er Jahre sein, als das betriebswirtschaftliche Denken über das volkswirtschaftliche siegte. Diese Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein, auch nicht durch eine neue Regierung. Der Triumph der Shareholder und Verlustmacher über die Werte- und Verantwortungsträger ist marktwirtschaftlich konsequent und unumkehrbar, weil er die Dynamik eines immer besser legitimierbaren Egoismus auf seiner Seite hat.

Deshalb dürfte aber auch das emanzipatorische, staatskritische Element, das im Turbo-Anarchismus steckt, nicht zu einer neuen Bündelung konstruktiver Kräfte, zu einem neuen Gesellschaftsvertrag führen. Vielmehr fördert der Anarchismus von oben den Vandalismus von unten. Je reicher wir werden..., desto mehr Verwahrlosung- im mangelhaft ausgestatteten Bildungswesen, in der Rechtspflege, der Jugendarbeit, der Kulturförderung usw., kurz bei der Verteidigung der Zivilität unserer Gesellschaft. (Delius, S.13)“

Heute wackelt die Lieblings- „Ersatzreligion“ der Deutschen noch mehr. Immer klarer wird, dass Millionen Bundesbürger aus Teilzeitarbeit, aus prekärer Beschäftigung, aus individuellen Nöten, wie z.B. Ehescheidungen oder psychischen Erkrankungen, aus Dauerarbeitslosigkeit und sinkenden Anteilen am Wirtschaftserfolg mit einer deutlich ärmeren, eingeschränkten Zukunft und deutlich schlechteren Lebensbedingungen werden zurecht kommen müssen, als ihre Wirtschaftswunder-Vorfahren, während sich für eine größer gewordene, kleine Minderheit die Türen zur Welt weit auftun. - „Die pragmatische Vernunft der Ökonomie - daran glaubt heute kein vernünftiger Mensch mehr.“ (F.C.Delius, S. 39 und 40) Er zitiert Susan George: „>>Die Menschen fühlen, dass ihre Stimmen nichts mehr zählen.<< (F.C.Delius, S.41)" (Zitate zu X: F.C. Delius, Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer, Berlin, 2003, Seitenangaben s.o.)

Christoph Leusch

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