Einige Mutmaßungen über Sex, Pornografie und Zeugung

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Einige Mutmaßungen über Sex, Pornografie, Zeugungschancen und das Feuilleton

Wie man mit Vorteil vorurteilende Artikel schreibt. Eine unsystematische Reflektion auf Ben Goldacres „Erotik für den Stichling“ ( www.freitag.de/wissen/1040-erotik-fuer-den-stichling ).

Biologische Erotik, kann es das als Studienfach geben?

Die „Stichlingserotik“, das musste sein, würde irgendwann das Feuilleton fluten, denn dieses Fischlein ist eines der verhaltensbiologisch am besten beforschten Lebewesen der Erde, einmal ganz abgesehen vom Menschen selbst, zu dem es verhaltensbiologische Studien, sogar reizvoll geschrieben, en masse et en détail, lange schon gab, bevor überhaupt der Begriff und die Theorie der Verhaltensbiologie entwickelt war.

Der Aufhänger Ben Goldacres: Irgendwo und irgendwie im Vereinigten Königreich des National Health Service stehen Männern Pornoheftchen nicht etwa für das Onanieren, sondern für die Samenproduktion zur Verfügung. Die SUN, der Daily Telegraph und Julia Manning, sie muss eine Politgranate auf der Insel sein, entrüsteten sich. Pornografie, indirekt gestützt aus puritanischen Staatskassen, das sei einfach unerträglich und zudem frauenverachtend. - Die Zeitungen selbst gehören Typen, die sehr wahrscheinlich viel eher Geschäfts- und Auflagezahlen nutzen um sich zu stimulieren. Sie sind Presseerzeugnisse der besonderen Art, die eine spezialisierte Begabung besitzen, über selbst hergestellte Inhalte und die Erfindung von einfachen Wahrheiten und Begebenheiten, Entrüstungspotentiale aufzubauen. Damit lieferten sie wiederum Material für die notwendige Abrüstung durch den Psychiater Goldacre im Guardian.

Einerseits gefällt mir das, denn dieser mediale Mist muss auch so benannt und verspottet werden. Andererseits erweist sich gerade bei diesem Thema, wie schnell auch das vermeintlich aufgeklärtere Prozent der Weltbevölkerung mit Anschluss an die Qualitätspresse, dem Hang zu Vorurteilen und Mutmaßungen erliegt.

Der heilige Onan, ein Gott der Reproduktion?

Nun, genau genommen onanieren die Männer in den Boxen, Zimmern, Besenkammern vor der Samenbank oder dem Fertilisationslabor nicht (Allenfalls dann, wenn man die biblische Mythe wortwörtlich so auslegt, wie sie einst niedergeschrieben wurde. Das führte hier vom Pfade.).

Sie produzieren Samen zum Zwecke der Reproduktion. Einsam und allein, ohne die Frau ihres Lebens, manchmal, vielleicht sogar häufiger, für sie, und für den, hoffentlich gemeinsamen Wunsch, ein Kind in die Welt zu setzen, müssen sie ein Samenprodukt abliefern. - Das ist aber nicht der Sinn und Zweck der Onanie.

Aber halt, schon das ist viel zu idealistisch gedacht, denn der Samenspender ist prinzipiell auch in der Lage, mit seinem Samenpaket, aus Kyrotechnik und geeigneter Nährdilution auferstanden, sowohl eine Leihmutter zu befruchten, als auch einer Frau mit Kinderwunsch, ganz ohne Partner, zu einem Kind zu verhelfen, wenn diese auf anonyme, tiefgefrorene Auswahlsamen zurück greift. Ja, sogar Partnerschaften mit zeugungsunfähigen Männern erhalten so ihr gewünschtes Kind.

In einem diffusen Graufeld wird es etliche Damen geben, die sich nicht auf anonymen Samen verlassen wollen und vom Spender zumindest detailierte biologische und soziale Daten wissen möchten, als Rückversicherung, weit über die üblichen Tests bezüglich der Beweglichkeit und eventueller derzeit analysierbarer, erkennbarer Genfehler hinaus. Samen kann nicht zurück gegeben werden und das Kind auch nicht. - Wir dürfen davon ausgehen, dass auch solche Wünsche, bei genügend Kleingeld im Portfeuille, in irgend einer Ecke der Erde auf höchstem medizintechnischen Niveau erfüllt werden.

Sind reproduktionstechnologisch arbeitende Tiermediziner und Biologen die wahren Dr. Sexe?

Dieses ganze Procedere geht eindeutig über Stichlingsverhalten hinaus, welches doch so genau, vom männlichen Kommentkampf, über das Balz- und Paarungsverhalten, bis zur Fischbrutpflege, analysiert ist. In der biologischen Welt der Ethologie scheint es nur einen Zweck des sexuellen Verhaltens zu geben, nämlich die Fortpflanzung. Dem widerspricht aber, wie häufig Homosexualität (z.B. bei den Stichlingen, aber auch bei Hunden) und zudem eine von den menschlichen Tieren so eingeschätzte Hyper- und Bissexualität, z. B. bei Bonobos, den kleinsten Menschenaffen, zu beobachten ist. - Diese Einschätzungen tragen alle diese menschliche Färbung, gerade weil wir uns ja nicht sicher in unserer Interpretation der Tierseele sein können.

Jedenfalls weicht das strenge soziobiologische und ethologische Denken auf, und den Tierspezies wird so etwas wie Lust, spielerische Erregung und Befriedigung zugebilligt, weil eine Konstruktion im Sinne reiner Fortpflanzung für dieses beobachtbare Verhalten als nicht sehr wahrscheinlich gilt.

Gut, das ist der Stand der Dinge. So springen gekörte Zuchteber lustvoll auf ein Sauenphantom, so liefern Deckhengste an einer Stutenattrappe ihr Sperma ab. Der Geruch rossiger Stuten, die Größe superoptimaler Auslöser für männliche Stichlinge, die Anwesenheit ebenfallls begattungswilliger Konkurrenz, das alles hat mehr oder weniger Auswirkungen auf die männliche, und ich bin überzeugt, auch auf die weibliche Fruchtbarkeit.

Das Krankenhaus der Liebe

Eine ungelöste Frage bleibt allerdings, warum sich bei zeugungswilligen, aber nicht fähigen Paaren, nur das ist ja ganz sicher durch eine Ethik gedeckt, sich die Partner nicht ein wenig treffen können, die sowieso dann zusammen sind.

Liebevoll Hand anlegen ist ja keine Sünde, zumal der Zweck sogar im puritanischen Krankenhaus klar ist, so lange es sich um keine Anstalt der gekränkten und verletzten Liebe handelt. - Das sparte sicherlich die Pornomagazine und steigerte die Potenz, eventuell sogar Menge und Qualität des Spermas. Wie gesagt mit Leihmüttern und Leihvätern verkompliziert sich alles, weil hier auch das Recht mitspielt und die kulturelle Bedeutung der Liebesbeziehung für die Haltung zu Kindern und Wunschkindern.

Warum es doch besser ist auf die Nachfahren Freuds, Kinseys, Hirschfelds, Johanna Elberskirchens, Fromms, Charlotte Wolffs und Oswald Kolles zu hören

Beim Menschen muss allerdings die Sexualität noch ganz anders abgesichert und sinnvoll sein, wenn sie befriedigend sein soll.

Schon mit dem Beginn der menschlichen Kulturen ist klar, - Davor herrscht ein Erkenntnisdunkel, welches eher Mutmaßungen gestattet, die aber sowieso meist den Tatsachen vorgezogen werden. -, Menschen strebten fieberhaft danach, ihre Fruchtbarkeit zu reduzieren und die erlebare Sexualität, als Erfahrung von Nähe und Lust, von der biologischen Zeugung zu entkoppeln. Die biologischen Kalendarien, primitive Suspensorien, ätzenden Kräutertampons zeugen ebenso davon, wie die Technik der Ejaculatio praecox, das Praktizieren langer Stillzeiten, die Erfindung der Pille und alle primitiven und brutalen Methoden der Abtreibung.

Ein Hauptmerkmal des Menschen ist vielleicht gerade sein Streben, die Kopplung der Triebe, auch des Todestriebes und der Aggression, an rein biologische Funktionen aufzuheben!

Ein heftiger, auch wissenschaftlich geführter Streit tobt, ob die Abkopplung und Übertragung der Lust, z.B. auch auf ursprünglich nicht durch den Sexus aufgeladenen Verhaltensweisen und sogar auf Gegenstände Frauen besser gelingt als Männern. Nicht jedoch wird um die Tatsache an sich gestritten. Sie ist auch zu klar erkennbar.

Leser mögen beachten, wir bewegen uns immer noch nicht auf dem fatal komplexen Feld der Liebe, sondern kratzen gerade erst einmal an der äußeren Schale des Beobachtbaren, also an spür- und meßbaren Lust- und Erregungsphänomenen.

Pornografie ohne das Tierreich zu bemühen

Nun kehre ich zu Goldacres Artikel zurück. Pornografie, so ist doch mein nicht ganz erfahrungsloser Eindruck, ist kaum mit der Fortpflanzung verkoppelt. Das Zeigen und Ausmalen der Sexualität ist eher davon weg gerichtet. Aus Pornografie soll in 99,99 % der Fälle, wenn sie konsumiert wird, keine Nachkommenschaft erwachsen. Das glatte Gegenteil ist der Fall.

Woran könnte das urtümlich liegen? - Die dauernde Vermehrung der Art durch Zeugung ist über den langen Zeitraum der Potenz und Zeugungsfähigkeit der relativ alt werdenden Menschentiere kein biologisch sinnvolles Muster mehr. Menschen sind, seit Urzeiten, mit vielen Kindern in eigener Verantwortung, als Väter und Mütter schlicht nahe an der Überforderung, was nicht heißt, dass manche Großfamilien und Familien unter glücklichen Umständen (Versorgung und Betreuung gesichert, Hilfe fast immer erreichbar) mit vielen Kindern vernünftig leben.

Mit relativ großer Sicherheit kann heute angenommen werden, dass in der Urhorde relativ viele miteinander irgendwie verwandte Erwachsene, allerdings mit sehr geringer Lebenserwartung, mit relativ wenigen Kindern lebten. Mehr Kinder und viele Alte wären bei der so starken Ausrichtung der Ernährung auf Proteine, nicht durch zu bringen gewesen. Nur so ist zu erklären, dass ein im Grunde immer sexuell fähiges Wesen über mehrere zehn- oder sogar hunderttausende Jahre nicht etwa ein schnelles Populationswachstum zustande brachte, sondern lange nur existenzgefährdende, sehr geringe Reproduktionsraten erreichte. Die Subspezies Sapiens, Sapiens sapiens waren davon so bedroht wie die ausgestorbene Subspezies Homo neanderthalensis.

Auch aus diesem Grunde schaltet die Menschennatur die weibliche Fruchtbarkeit ab einem gewissen, durch die biologische Alterung und Umweltfaktoren bedingten Zeitpunkt aus. Warum hat das beim vorgeschichtlichen Mann biologisch nicht funktioniert? Vielleicht, weil der in der Regel starb, bevor ein solcher Mechanismus etwas gebracht hätte?

Jedenfalls komme ich zu dem Schluss, dass nur der Mensch auf dieser Erde einen Sinn, einen Blick und ein Gespür für das Pornografische und Erotische entwickeln konnte. - Viele Menschen sind allerdings nicht einmal in der Lage einen Unterschied der genannten Begriffe wahrzunehmen oder zu formulieren, obwohl das doch eine kulturelle und aufklärerische Leistung wäre, die auch ein wenig mehr Lustgewinn abwürfe.

Er, der Mensch, pornografiert sogar die Natur und unterstellt ihr sein eigenes tierisches So-Sein. Das ist natürlich nicht sachlich, nicht logisch, aber auch nicht unbedingt schädlich. Nur zur Kenntnis sollte man es nehmen.

Eine Diskussion darüber, zum Beispiel in der Form Goldacres, bleibt reiner Feuilletonismus, d.h. eine Art Textualität, die einzig und allein zur Unterhaltung und nicht zur Erkenntnis, nicht einmal zur Erkenntnis des Wesens und der Bedingungen der eigenen Lust betrieben wird.

Auf dieser Ebene müssen sich selbst kluge Menschen mit der Frage beschäftigen, ob ihnen nicht die Tiere zuvor gekommen wären und schon lautierten, „bring´ uns den extraordinären Pornostichling, zeig´ uns die Super-Vererber-Sau!“, bevor es überhaupt Menschen gab. Die Tiere sind tatsächlich an solchen Themen nur in unserer Wahrnehmung interessiert, so wie man sich auch auf hunderten Seiten dazu auslässt, ob Tiere eigentlich die Aufnahme in das Himmelreich erlangen können.

Christoph Leusch

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