Für Günter Grass

Günter Grass Eine Generation tritt ab. Mit ihr, einer unserer größten Dichter. Reden und Schreiben, Grass Botschaft gegen die Alltagssprichwörtlichkeit, sind unser Bernsteingold.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Für Günter Grass

I

Dein Faden ist gerissen,

den Klotho rastlos spann,

Atropos hat ihn geschnitten,

an Lachesis Maß entlang.

Ratten, Unken und Aale,

stets erneuert in der Welt,

wissen nichts vom Garne,

das uns alle zusammenhält.

Worte, die im Krebsgang tanzen,

andere ziehen, wie Schnecken, Spuren,

so stellen sie unsere Lebensuhren,

weben Ariadnes Faden zu dem Ganzen.

Glas zerspringt und Schiffe sinken,

ein Jahrhundert, so entmachtet.

Sätze springen, Bilder klingen,

Dichters Stimme hat ´s beachtet.

II

Auf wasserfarbenem Künstlerblatt,

Ein Baum zu Møn, sein Astwerk reckt,

wie seine Wurzeln in der Erde liegen.

Woanders tuscheln, zwischen sandigen Sieben,

die zwiebelhäutigsten Worte, lange versteckt;

Polnische Heide unter der Gdańsker Stadt.

Lengfordas berühmteste Linden,

säuseln kaschubisch im Ostseewind:

Mit Jantôr, Jantôr, mein liebes Kind

verziere mir die Kleckerburg, da hinten.

Nimm auch Kugelflint und Klapperstein,

Länder und Meere wollen solidarisch sein!

Ölmez Otu, Immortelle, Pur evix,

schwappt die Ostsee:

Blubb, pfff, pschsch,

Blubb, pfff, pschsch.

III

Was gesagt werden muss, ruhig weiter sagen;

Was bezeugt werden kann, weiter zeugen.

Dichtung und Wahrheit verpflichten.

1- Møn (Mön, Moen), dänische Ostseeinsel. Dort war Grass, zeichnend, aquarellierend, lebend, oft anzutreffen. Ein urtümlicher Wald, Feuersteingeröll am Strand und unter kreidigen Klippen, geschichtet von natürlichen Kräften, darunter auch ein paar seltene Klappersteine, finden sich auf dieser Insel, ebenso viele Dolmengräber. Klappersteine sind, meist kugelige, Flinte, in denen fossile Reste eines Kieselschwamms, Plinthosella squamosa, leise klackern.

2-Jantôr, kaschubisch, für Bernstein.

3- Ölmez Otu, türkisch, für Immortelle, „Unsterblichkeitskraut“, weil die Blüten beim Trocknen nicht ausbleichen. Auch Currykraut genannt, weil die zerstoßenen Blätter nach Curry und Salbei riechen. Sehr gutes Küchenkraut; Heilpflanze, mit antibakterieller und gegen Schleimhautpilze gerichteter Wirkung, entzündungshemmend, galletreibend, hautberuhigend. Um die 600 Arten von Helichrysum, aus der Gattung der Strohblumen, in der Familie der Asteraceae (Korbblütler), sind weltweit beschrieben, die Helichrysum italicum- Unterarten im ganzen Mittelmeerraum weit verbreitet.

Romantitel Yaşar Kemals, „Ölmez Otu“, dt. „Das Unsterblichkeitskraut“, von 1968, aus dessen anatolischer Trilogie. - Für diesen Freund hielt Günter Grass die Laudatio zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1997. Kemal starb im Februar 2015. - Das eigentliche Unsterblicheitskraut unter uns, bleibt die Sprache.

4- pur evix, Romani/Romanes, für immer und ewig. Immer noch wenig bekannt: Grass setzte sich früh für Sinti und Roma ein.

5-Kleckerburg, eine Sonderform der Sandburg, zugleich Titel eines autobiographischen Prosagedichts von Günter Grass, das in seine Danziger Kindheit zurückkehrt. Es erschien zuerst in der 1965er Wagenbach- Anthologie „Atlas“.

„Blubb, pfff, pschsch“, ein Originalzitat daraus, den ewigen Wellenschlag des milden Mare Baltikum beschreibend, wenn man es lesen kann, wie der begnadete Vorleser Grass es konnte.

Typische Kleckerburgen sehen aus wie eine Ansammlung Stalagmiten aus Tropfsteinhöhlen, an den Strand gebannt. Sie werden folglich mit schlickerndem Sand getröpfelt (gekleckert), nicht geschippt, gekloppt und glatt gestrichen. Kleckerburgen wollen betrachtet werden, bleiben öffentlich. Hinter Kleinkleckerburg, verbergen sich keine Ansprüche auf eine private Familienfestung am Urlaubsstrand.

Christoph Leusch

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden