Liebevolle Körperverletzung II

Grundrechtekonflikt Kann über das aktuelle Aufregerthema sachlich geschrieben werden. Des Versuchs zweiter Teil.

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Liebevolle Körperverletzung? - Teil II

(Fortsetzung des ersten Teils, https://www.freitag.de/autoren/columbus/liebevolle-koerperverletzung-i )

Beschneidung und Hygiene

Häufig werden von muslimischen und jüdischen Gelehrten zum Thema hygienische Gründe genannt, so, wie sie auch für die säkularen Beschneidungsmoden vergangener Jahrzehnte in den USA vorgebracht wurden, um den Eingriff zusätzlich zu rechtfertigen.

An Orten mit mangelhaften Lebens- und Hygieneverhältnissen (Afrika), glauben heute manche Epidemiologen einige positive Effekte der Zirkumzision statistisch belegen zu können. Bei heterosexuellen Bevölkerungsgruppen, nicht aber bei Homosexuellen, soll HIV weniger leicht weiter geben werden, wenn die Männer zu einem großen Anteil beschnitten sind. Prüft man die Studienergebnisse, dann bleiben diese Effekte bestenfalls gering und zudem sind die Befunde nicht einheitlich. Für andere, sexuell übertragbare Krankheiten wurden ähnlich widersprüchliche Ergebnisse veröffentlicht.

Wahrscheinlicher ist derzeit, dass in Ländern mit einem hohen Anteil an männlichen Beschneidungen die Zahl der bösartigen Cervix-Karzinome bei Frauen sinkt. Warum das so ist, oder ob soziale und sozioökonomische Faktoren und deren Änderung (Prostitution, Gelegenheitsprostitution, allgemein häufiger Wechsel der Partner ) in den bisher untersuchten Ländern eine viel größere Rolle spielen, ist bisher nicht geklärt.

Korrelation, also das überzufällig häufige, gemeinsame Auftreten beobachtbarer Phänomene, -es kann nur immer wieder neu gesagt werden-, ist nicht Kausalität!

Es führte zu weit, nun alle beschriebenen Vor- und Nachteile der Beschneidung gegeneinander abzuwägen. Die Literatur dazu füllt analoge und digitale Bibliotheken. - Ich möchte hier nur so viel sagen: Bezogen auf Gesundheitsaspekte gibt es keine eindeutige Einschätzung, ob die Beschneidung, bei der auch noch ganz unterschiedliche Formen und Techniken, die Hygiene und Kunstfertigkeit der Ausführenden, sowie die Gewissenhaftigkeit der Nachsorge eine große Rolle spielen, hauptsächlich gute oder schlechte Auswirkungen hat. In fast allen westlichen Ländern wird ein medizinischer Nutzeffekt der Beschneidung gesunder Kinder oder Erwachsener von den höchstens medizinischen Fachgesellschaften und Standesorganisationen verneint.

In "The Law and ethics of male Circumcison: Guidance for Doctors", BMA, J Med Ethics 2004;30:259-263, bietet die britische Ärzteorganisation einen sachlichen Überblick an und hält Rat bereit, was bedacht werden sollte bevor eine Beschneidung aus rituellen Gründen erfolgen kann: http://www.cirp.org/library/statements/bma2003/ .

Die Beschneidung als Körper- und Psychotrauma

Die rituelle Beschneidung im Säuglings und frühen Kleinkindalter setzt kein anhaltendes Schmerz-oder Köpergefühlstrauma, auch wenn das, unter bezug auf eher dubiose Interpreten der Traumaforschung und der analytischen Psychologie immer wieder in Publikumsmedien behauptet wird. Pulsanstiege und Stresshormonmessungen, Schreie und einige Tränen, belegen kein bleibendes Trauma, höchsten Pfusch oder Nachlässigkeit bei der Schmerzlinderung und der OP-Technik.

Die älteren Jungs

Die Situation ändert sich allerdings bei älteren Kindern, insbesondere dann, wenn Komplikationen auftreten, wie das im Kölner Fall geschah.

Die Berichte und Studien über psychische Probleme Beschnittener beziehen sich auf Erwachsene, seltener auch auf ältere einsichtsfähige Kinder oder Jugendliche, die entweder an der Tatsache der Beschneidung selbst, im Zusammenhang mit ihrer männlichen Sexualität und der damit verbundenen, körperlichen Unterscheidbarkeit leiden, oder aber, gegen ihren Willen, selbst wenn er sozial und familiär nicht laut geäußert wurde, eine Beschneidung erdulden mussten.

Auch sexuelle Störungen und neurotische Fehlentwicklungen im Erwachsenenalter, die Patienten/Klienten auf den Akt der Beschneidung als Säugling und die damit verbundene, dauerhafte Veränderung am Penis zurück führen, werden in der Literatur häufig beschrieben und diskutiert.

Manche ältere Kinder leiden unter der Beschneidung selbst, die sie als massiven Eingriff, durchaus als eine Art Kastration an ihrem sich gerade entwickelnden männlichen Selbst- und Körperbild erleben. Das gilt insbesondere dann, wenn das Ritual in einer Entwicklungsphase durchgeführt wird, in der die Jungen erste libidinöse Impulse verspüren, die nicht nur aus autoerotischen Handlungen bestehen oder auf Partialobjekte gerichtet sind, sondern sich mit dem ausbildenden sexuellen Eigenbild und der Wahrnehmung des Gegenbildes eng verknüpfen. - Die Religionen reagieren darauf, indem sie den Beschneidungsakt für ältere Jungen zu einem möglichst freudevollen und für das neu beschnittene männliche Gemeinde- bzw. Familienmitglied zusätzlich aufwertenden Ereignis ausgestalten.

Es bleibt als gesichertes Faktum, dass ein sehr geringer Prozentsatz jüdischer oder muslimischer Männer, die in der Kindheit oder Jugend beschnitten wurden, später tatsächlich psychisch leidet und ein weiterer, sehr kleiner Prozentsatz, durch Fehler bei der Operation, Infekte oder übersehene Risiken (Haemophilie), sowie unzureichende Nachsorge, körperliche Schäden davon trägt.

Ja, es gibt auch Todesfälle, durch übersehene Risiken, dubiose Praktiken und mangelnde oder fehlende Nachsorge. Völlig absurd sind allerdings Angaben, Todesfälle nach Beschneidungen seien mit dem plötzlichen Kindstod (ca. 2100 Fälle/Jahr) die dritthäufigste Todesursache bei Säuglingen in den USA. Selbst eine häufig angegebene Schätzung von ca. 100 Todesfällen ist eher umstritten (http://en.wikipedia.org/wiki/Circumcision ). Zudem gehen diese Todesfälle häufig auf übersehene allgemeine Gesundheitrisiken bei dem betreffenden Kind zurück.

In diesem Zusammenhang ist es sehr hilfreich zu wissen, dass beide betroffenen Religionen empfehlen, die Beschneidung nicht in einer Phase angeriffener Gesundheit, in einer körperlichen Mangelsituation oder während einer schwierigen sozialen Notlage durchzuführen. Dass dieser Maßgabe unter Umständen beim Kölner Fall zu wenig Rechnung getragen wurde, drängt sich angesichts der bekannt gewordenen Einzelheiten auf.

Allerdings gibt es bezüglich der Probleme mit der Geschlechterdefinition, sexueller Probleme aller Art oder gar der Verwirklichung von Glück und Unglück im familiären Leben, oder bezüglich der Häufigkeit psychischer und körperlicher Erkrankungen die irgendwie in einen Zusammenhang mit Beschneidungen stehen könnten, nicht einen einzigen, wirklich beweisbaren Unterschied zwischen unbeschnittenen und beschnittenen Männern. Jüdische und muslimische Gesellschaften weisen diesbezüglich keine belegbar höhere Zahl an Problemfällen auf, als säkulare oder christliche Gesellschaften, auch wenn die Ursachen und Motive für soziale und psychische Fehlentwicklungen durchaus völlig unterschiedlich sein können.

Das Sexleben muslimischer und jüdischer Männer, bezogen auf den „kleinen Unterschied“, unterscheidet sich von dem der restlichen Männerwelt nicht. Studienergebnisse die das beweisen oder widerlegen wollen, bleiben vollkommen widersprüchlich, obwohl jedes zweite Jahr, aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus, erneut ein „wissenschaftlicher“ Beweisversuch gestartet wird.

Gerade zu diesem Aspekt entwickeln viele Menschen wildeste Spekulationen und Theorien in der scheinaufgeklärten Öffentlichkeit. Manche Beschneidungskritiker, aber auch Befürworter in seltsamer Annäherung der Meinungen, lassen sich zu abstrusen Vermutungen hinreißen, beschnittene Männer hätten schlechteren oder eben besseren Sex, beschnittene Männer sorgten für mehr oder weniger Befriedigung ihrer Partnerinnen. - Das ist alles nebbich, gerade in seiner fortgesetzen Bemühtheit.

Ob nun die Beschneidung die Ursache oder eher der Anknüpfpunkt für alle möglichen Projektionen sexueller und partnerschaftlicher Nöte Erwachsener sein kann, sei einmal dahin gestellt. Realität ist, dass Männer, die therapeutische Hilfe suchen, diese Koppelung als Grund anführen.

Es verhält sich damit so, wie es andere Menschen in das Leiden an der selbst zugefügten Körperveränderung oder gar zur Ablehnung der eigenen, natürlich existierenden Körperlichkeit treiben kann, wenn sie von einer Norm oder von einem auch nur vermuteten Ideal abweichen, oder glauben, andere, Frauen und /oder die eigenen Geschlechtgenossen, bezögen sich in ihrer Ablehnung oder Zustimmung ihnen gegenüber auf äußerliche Merkmale.

Dort, wo die Beschneidung als übliche Praxis vorherrscht, dürfte sich weitaus mehr soziales und psychisches Leid aus der Unbeschnittenheit und damit an den Folgen der eingebildeten oder realen, sozialen und familiären Ausgrenzung ergeben, als umgekehrt. Allerdings sind das auch die Länder in denen die Rate der Komplikationen höher liegen dürfte, weil die medizinischen Standards nicht ausreichen.

Die Frage muss geklärt werden

Es ist klar, mindestens zwei Grundrechte stehen hier gegeneinander. Die Religionsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Sie sind beide in wichtigen, gleichrangigen Artikeln des Grundgesetzes verankert. Artikel 2, Satz 2, schreibt zudem unmissverständlich eine Klärung vor, auch wenn sich bisher der juristische Konflikt der Grundrechte selten verwirklicht hat (Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Beklagter und kein Richter).

Artikel 4 GG,

„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Artikel 2 GG,

„(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, Erziehung meint hier auch in gewisser Weise Vorprägung der religiösen Zugehörigkeit, -man bedenke das-, ist durch die Verfassung ebenso gut gedeckt, wie der Schutz des Individuums durch den Artikel 2. In solchen Fällen geht es um eine Güterabwägung, unddie beste Form des Ausgleichs ist ein Kompromiss.

Gerade weil die 1. kleine Kammer des Kölner Landgerichts in der Urteilsbegründung schreibt, schon der Paragraph 1631 BGB, -„(...)(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“(...)-, dieses untergeordnete Recht weise den gebotenen Weg, bleiben noch mehr Fragen und eine Menge Zweifel an der hier unbedingt notwendigen salomonischen Weisheit des Gerichts.

Muslimische oder jüdische Eltern wollen mit der Beschneidung ihrer Söhne weder mit Gewalt erziehen, noch körperlich bestrafen, noch ihnen Schmerzen zufügen. Mit Ausnahme jener wenigen Anhänger in allen Religionen und unter Atheisten, denen körperliche Leiden und sogar Schmerzen in Glaubenangelegenheiten überaus wertvoll erscheinen, denken die meisten Juden und Muslime bei der Beschneidung eher an Freude, an Teilhabe, an die Aufnahme in die Gemeinde und an ein großes, fröhliches Fest.

Ebenso wollen Juden oder Muslime mit der Beschneidung ihre Söhne nicht seelisch verletzen oder entwürdigen. Das genaue Gegenteil ist ihr einziges Herzensanliegen und ihr sehnlichster Wunsch.

Allerdings, wer die Beschneidung gegen den Willen eines schon einsichtsfähigen Jungen durchführen möchte, der muss sich die Vorwürfe gefallen lassen und kann dafür nicht die Duldung irgend eines säkularen Rechts erwarten. Dies ist auch der Punkt, an dem sich in Zukunft die Religionsgemeinschaften mehr Mühe geben müssen, ohne jene, die sich anders entscheiden aus der religiösen Gemeinschaft auszugrenzen.

Zeitpunkte und die Art und Weise der Beschneidungen werden zukünftig eine große Rolle spielen

Die meisten Beschneidungen nach jüdischem Ritus erfolgen am achten Tag nach der Geburt. Über die Art der religiös gebotenen Beschneidung lässt sich theologisch trefflich streiten. Ob damit tatsächlich die völlige Freilegung der Eichel gemeint sein muss, so, wie sie heute als so genannte vollständige, „chirurgische Beschneidung“ durchgeführt wird, oder ob nicht vielmehr ein schonenderer Eingriff, gar nur eine symbolische Handlung ausreichte, dazu wird in den Religionsgemeinschaften selbst gestritten. Die weniger radikalen Formen, für manche Juden sogar nur die Andeutung einer Beschneidung, sofern dabei ein wenig Blut abfließt, erfüllen das Gebot nach deren Auffassung ebenso. Eine sehr kleine Minderheit lebt ihr Judentum bewusst ohne Zirkumzision.

Ohne Frage hat die Vorhaut eine gute biologische Funktion. Der natürliche Gleitmechanismus der Vorhaut-Doppelhülle und die Oberflächensensibilität die dort besonders stark ausgebildet ist, bliebe bei schonenderen Operationen besser erhalten und auch eine Verletzung des Frenulums, also jenes Bindegewebsbändchens zwischen Vorhaut und Pensisspitzenwurzel, unterbliebe.

Allerdings verlangen alle weniger radikalen Arten der Beschneidung eine viel sorgfältigere Schnittführung und eine verfeinerte Nahttechnik (ein Problem bei dem Kölner Fall !), sowie mehr kundige Nachsorge, um Verklebungen und spätere Verwachsungen, oder gar eine so erzeugte Phimose zu vermeiden.

Grundsätzlich sinnvoll und wünschenswert wäre, Beschneidungen nur von ausgebildeten Personen und in einem ausreichend mit Hilfsmöglichkeiten (Schmerzbekämpfung, Anästhesie, Notfallversorgung im Hintergrund, Nachsorge) versehenen ärztlichen Umfeld stattfinden zu lassen. In Abspache mit den Religionsgemeinschaften könnten Ausbildungen angeboten und regelmäßig überprüft werden (Vorbild Großbritannien).

Die betroffenen Religionsgemeinschaften waren zu Recht schockiert vom Kölner Urteil, das in letzter Konsequenz zur Richtschnur erhoben, Beschneidungen von Säuglingen und Kleinkindern unmöglich machte. Andererseits verwundert es, dass die innerreligiösen Diskussionen um die Zeitpunkte, die Art und Weise der Beschneidung und die unterschiedlichen theologischen Begründungen dafür, so wenig berücksichtigt werden. Jüdische und muslimische Gemeinden sollten diskutieren, wie sich mehr Freiheit und Flexibilität bei der Auslegung und Durchsetzung der Gebote, den Empfehlungen und theologischen Ratschlägen für ihre Gläubigen sicher stellen.

Was passiert mit Eltern die offen in der Gemeinde erklären, sie wollten ihre Jungen nicht oder nur in anderer Form, zum Beispiel nur symbolisch, beschneiden lassen, aber weiterhin der Gemeinde angehören? Solche und noch ganz andere Fragen müssen in einer offenen Gesellschaft und in jeder Religionsgemeinschaft diskutiert werden, anstatt in klagsame Schockstarre zu verfallen.

Denn, so wie mit allem Recht und guten Gründen die Religionsfreiheit und das Elternrecht hervor zu heben ist, als ein Maß für die individuelle Freiheit der Gesellschaft, so müssen sich umgekehrt die Glaubensgemeinden, die die Beschneidung für obligat halten, fragen, wie sie mit gläubigen Menschen umgehen, die genau in diesem Punkte von der Gemeinschaftsüberzeugung abweichen.

Die Struktur der jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinden bietet da einen gewissen Vorteil. Einzelne Gemeinden können in ihren Ansichten und Auslegungen erheblich voneinander abweichen. Trotzdem bleibt es eine stehte Frage, wie die jeweiligen Mehrheiten damit umgehen und wieviel Toleranz und Akzeptanz innerhalb strenger Gemeinden herrscht.

So wird es zukünftig Zeitfenster geben müssen, in denen mit je unterschiedlicher und abwägender Begründung, Beschneidungen zwanglos möglich sind, weil sonst tatsächlich das freie Leben und die Religionsausübung großer und wichtiger Gruppen in unserem Land unmöglich wird.

Andererseits wird man nicht darum herum kommen, einen Alterszeitraum, eine Phase der Lebensentwicklung davon abzugrenzen, bei dem in Zukunft Beschneidungen nur noch aus medizinischer Notwendigkeit erfolgen können, weil mit dem Ritual ein relativ höheres Risiko ein aktuell erlebtes und dauerhaft wirkendes Trauma bei den heranwachsenden Jungen auszulösen, nicht ausreichend sicher ausgeschlossen ist.

Denkbare Lösungswege

Praktisch hieße das, es bliebe die Möglichkeit der Beschneidung kurz nach der Geburt im Säuglingsalter bis ins frühen Kleinkindalter.

Ein Psychotrauma ist hier unwahrscheinlich, weil dafür ein dauerhaftes Erinnerungs- und Vorstellungsgefüge schon vorhanden sein müsste, und es bliebe die Beschneidung älterer Jungen, die in den Eingriff bedingt (Eltern müssen auch noch zustimmen!) einwilligen können. Dieser zweite Zeitpunkt muss nicht exakt festgelegt sein und er kann auch nicht erst bei dem hohen Alter von 14 Jahren beginnen, zu dem die Selbstbestimmung in der religiösen Orientierung gesetzlich verankert ist. Praktisch werden die Eltern (Sorgeberechtigte) und eventuell zugezogene Theologen oder religiöse Berater nichts anderes zu tun haben, als die Jungen als Gemeindemitglieder, nach dem Grad der Reife, liebe- und verständnisvoll aufzuklären.

Wenn alle Seiten, die Vertreter des Rechts und des säkularen Staates, und diejenigen die, die theologischen Ratschläge erteilen, so weise sein könnten über ihre Positionen nachzudenken, trüge das eher unscheinbare und schlichte Urteil sogar viel Gutes in unsere Gesellschaft. Es erhöhte die Akzeptanz der großen Unterschiede, statt uns alle in Verhalten und Sitten gleich zu machen und ganze Gruppen der Gesellschaft aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen zu kriminalisieren. Tote und psychisch wie körperlich schwer verletzte Kinder und Jugendliche wird es dann geben, wenn aus mangelnder Abwägung in der Öffentlichkeit und vor dem Gesetz, die Menschen mit ihrem Gewissen und ihrem religiös motivierten Willen in der Illegalität agieren müssten. Daran kann keinem Bürger diese Landes, von ein paar Abgedrehten, die eine ganz andere, gewiss sehr viel unbarmherzigere Gesellschaft als Ziel ins Auge fasssen, je gelegen sein.

Christoph Leusch

Update 21.08.2012:

Kleine Ergänzung zu den beiden Teilen der "liebevollen Körperverletzung". Wäre dieser Beitrag der BBC früher entstanden, dann hätte ich mir viel Arbeit hier sparen können und einfach übersetzt: "Circumcision, the ultimate parenting dilemma", by Cordelia Hebblethwaite BBC News, Washington DC, http://www.bbc.co.uk/news/magazine-19072761 ,vom 20.08.2012.

Sachlicher und trotzdem aufmerksam zugewandter, Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zuhörender, Journalismus. Sehr lesenswert und für jedes Hirn verständlich aufbereitet.

PS: Einen unaufgeregten Blick wagt Andrea Roedig (dF). Sie stellt Wolfgang Schmidtbauers und Matthias Franz psychotherpeutisch-analytische Kritik an der Beschneidungspraxis der Muslime und Juden vor, ohne gleich in die Dogma-Falle zu tappen (http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/verstoerender-schnitt ). Freuds Psychoanalyse ist kein Zettelkasten, den man bei jeder passenden Gelegenheit nach Etiketten durchstöbern kann, ohne unredlich zu argumentieren. Daher gefiel mir auch: „ Und natürlich ist der von Sigmund Freud propagierte Kastrationskomplex auch eine mythische Kategorie. Trotzdem sind die psychologischen Einwände ernst zu nehmen, vor allem der dringende Hinweis darauf, dass das Alter, in dem die Beschneidung stattfindet, entscheidend sei. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt ist sie definitiv weniger verstörend.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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