Living in the Wasteland of the free

Vogelfrei AL Kennedy nutzt den Hype um die Neubesetzung der Rolle Dr. Whos in der gleichnamigen britischen Kultserie, um auf die sozialen "Bare necessities" aufmerksam zu machen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

"Hope of deliverance“ (Paul McCartney): http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=ck-h0oG2msA

Living in the wasteland of the free

>>Es braucht mehr, als Peter Capaldi (Schauspieler), um den Schaden zu reparieren, der Großbritanien angetan wurde<<, Observer, Sonntag, den 11.08.2013.

Unter dieser Überschrift wütet AL Kennedy, eine jener raren Intellektuellen und Schriftstellerinnen des Vereinigten Königreichs, der man ihre Früchte des Zorns als glaubwürdige Entrüstung, angesichts der zunehmenden Spaltung der britischen Gesellschaft, abnehmen kann.

Zugleich schimpft sie, mit viel trockenen Sprachwitz und mit dem Gepäck der eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen, zu denen die Serie Dr. Who die gerade 50 Jahre alt wird, gehört, über den Journalismus auf der Insel, der sich selbst und die Leser zunehmend infantilisiert, mit allem möglichen Bohei um die angeblichen Sensationen der Unterhaltung und des Boulevards, und die nun Jahrzehnte anhaltende, mediale Affirmation der Phrasenpolitik notorischer Lügner in höchsten Ämtern, die der Gesellschaft schon lange nicht mehr dienen, sondern fast alles was allen gehörte, bis auf die Schulden, an Privat verkauften.

Peter Capaldi und Dr. Who

Der nicht ganz nichtige Anlass: Peter Capaldi übernimmt die Rolle des witzigen, fast alles wissenden und heldenhaften Dr. Who, der mit Tardis, einer Zeitmaschine, immer wieder aufbricht die Welten der Anderen, der Vielen zu retten, während er selbst sich beständig neu, hinter den Türen einer blauen „Police box“ inkarnieren muss, und also auch die Schauspieler in die Rolle im fliegende Wechsel nacheinander einspringen.

Die Kultserie ist nicht nur auf den Inseln, an und für sich ein Grund auf ein wenig „Hope of deliverance“, zumindest für die Kinder- und Jugendlichen und die Erwachsenen mit jenem Anteil kindlichen Gemüts, der erhaltens- und bewahrenswert bleibt.

Die gespaltene Gesellschaft, das gespaltene Recht

Zu Weihnachten spekulieren derweil immer mehr junge Briten, ob sie persönlich in einem gigantischen "Bleak house" der Möglichkeiten für Reiche schuften und leben müssen oder ob es doch noch einen Hinterausgang in die soziale und gerechte Gesellschaft gibt.

Es wird Zeit, dass wir in ganz Europa erkennen, wo die Reise hinführt, wenn es so weiter geht wie bisher. In Deutschland wiegt man sich noch zu gerne in falschen Sicherheiten, obwohl auch hier längst viel des staatseigenen Tafelsilbers und der sozialen Errungenschaften verkauft wurde. Übrig bleiben ein paar mehr Sicherheitsbeamte und jene, die nie auf Sozialstaat und garantierte Dienstleistungen in ihm angewiesen waren und sein werden und sich weiterhin alles, auch Diener aller Arten, Böden, Landschaften, Stadtzonen, Ressourcen und weiteres Spekulationsmaterial einkaufen. Sie treten seit geraumer Zeit, aus rein geschäftlichen Gründen, mit den privaten Policen an uns heran.

Kennedy nutzt die Gelegenheit, die furchtbar nackten und unabweisbaren sozialen Fakten des in England von Labour, Liberals und Konservatives fast 30 Jahre unaufhörlich geförderten Finanzkapitalismus und Neoliberalismus vorzutragen:

>>Where I live, it's estimated 26% of children live in poverty, up the road it's 23%, down the road it's 30%. Elsewhere in London, figures can be more than 50%. Where I used to live in Glasgow, it's 26%, elsewhere higher. Horrifying figures repeat all over the UK. And when your back's against the wall, small causes for hope become precious, so I'm all for the Doctor.<<

(Wo ich wohne, sind es 26% der Kinder, die in Armut leben, die Straße hoch 26%, die Straße ´runter 30 %. Anderenorts in London, können es mehr als 50% sein. Wo ich herkommen, in Glasgow, sind es 26%, woanders mehr. Die erschreckenden Zahlen wiederholen sich im ganzen Vereinigten Königreich. Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, werden schon geringste Hoffnungszeichen wichtig. Daher bin ich für den Doktor.)

Könnte doch Dr. Who im Königreich, direkt vor Whitehall und Downingstreet 10 landen und die Böswilligen besiegen! Dem langsamen Erosionsprozess der bürgerlichen Gesellschaften Europas zuschauen zu müssen, das ist bitter, und so wirken solche Wünsche schon ein wenig wie Verzweiflung.

Private Verträge statt Staatsgarantien

Besser wäre es freilich, so fährt AL Kennedy fort, die heutige Kindergeneration hätte die Krankenversicherung, die sie hatte, den Zugang zu guter Bildung, die Chance auf ein sicheres und gesundes Leben. Nun bleibt nur Doktor Who. - >>Er wird nie in deren Wohnzimmer auftauchen und die streitenden, weglaufenden und weinenden Eltern aufhalten, nie da sein, wenn es Martini am Letzten heißt, aber Doktor Who war eine Art Vereinbarung der Erwachsenenwelt, Sorge zu tragen. Eine Verpflichtungserklärung der Welt vor 50 Jahren. Er verkörperte, neben anderen Eigenschaften, die Idee, es könnte erfüllend und schön sein, jemand anderen, außer sich selbst, gesund zu halten und zu beschützen.<<

Die Generation Kennedy, in der Mitte des Lebens schaut zurück und ist noch in der Lage, aus eigener Erfahrung den Einsäuselungen und dem medialen Dauerbeschuss zu widerstehen, wir lebten derzeit in der besten aller Welten. >>Während die Politiker ängstlich besorgt darum sind, ich sollte das Vergessen umarmen, kann ich mich zum Beispiel an die langen und gesunden Zeiten erinnern, als Gesundheit und Sicherheit nicht für zeitweilig und unterdrückerisch galten.<<

Einst gehörte der schottischen Britin das Eisenbahnsystem, sie besaß die meisten Buslinien, Wasser war kollektives Bürgereigentum, die meisten Ärzte und Krankenhäuser arbeiteten im Auftrag der Bürger und nicht im Auftrag von Leuten, die mit den Bürgern möglichst viel Geld verdienen wollen, auch wenn sie heute beständig Anzeigen schalten, sie dächten nur an das Gemeinwohl und heilige, soziale Aufgaben.

Einst, klagt Kennedy, war sie in dem Glauben aufgewachsen, dass Kinder in Großbritannien vor vermeidbaren Krankheiten beschützt würden, dass sie das Haus nicht ohne Frühstück verlassen oder ohne die anderen nötigen alltäglichen Dinge, dass sie nicht der Mildtätigkeit anheim fielen. Einst glaubte sie, der gesellschaftliche und soziale Fortschritt führe dazu, eine spätere Generation müsse nur noch über die Hilfe in weniger glücklichen Ländern nachdenken und ein paar Igel vor dem Feuertod retten, sowie alle jene, die von bösen Kräften, Zombies und Cyborgs aus der Science Fiction -Welt versklavt werden, von den Kräften des Guten befreit würden, unter gütiger Mithilfe Dr. Whos.

>>Heute werde ich aufgefordert Gesundheit und soziale Sicherheit zu verachten, dafür anderen Leuten zu helfen, Geld aus der Zerstörung dessen zu machen, was einst mein Eigentum, unser Eigentum, unser kollektiv geteiltes Eigentum war.<<

Das Gemeinschaftsprojekt UK, es ist auf die jährliche Fortsetzung einer Kultserie in der BBC geschrumpft, wie bei uns allenfalls vier TV-Sendungen den letzten gemeinsamen Nenner bilden: Reserveoffiziers- und Schminkmasken-Nachrichten, Tatort, Jauch und Wetten-das.

AL Kennedy hat Recht. Dr.Who ist nicht genug. Ganz im Gegenteil, die jahrzehntelange Anspruchslosigkeit gegenüber der Politik und deren generellen Zielen, sie wird zur größten Gefahr für die europäischen Gesellschaften.

Christoph Leusch

AL Kennedys Originalartikel im Observer. Glänzend geschrieben und auf den Punkt: http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/aug/11/peter-capaldi-doctor-who-children

Ich kann nur singen: My dear >>Charlie<<, Alison Louise, you write so lovely, your fancy neb aloft. We need such endangered species alike, kind Parrotqueen. Let wise fools rush in.

Zugabe:

„Living in the Wasteland of the Free“, Iris DeMent aus dem Album „The way I should“. Heute und hier ist sie die amerikanische Schwester AL Kennedys:

http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=SYqDpL0YCvI

Der Text dazu:

We got preachers dealing in politics and diamond mines
and their speech is growing increasingly unkind
They say they are Christ's disciples
but they don't look like Jesus to me
and it feels like I am living in the wasteland of the free

We got politicians running races on corporate cash
Now don't tell me they don't turn around and kiss them peoples' ass
You may call me old-fashioned
but that don't fit my picture of a true democracy
and it feels like I am living in the wasteland of the free

We got CEO's making two hundred times the workers' pay
but they'll fight like hell against raising the minimum wage
and If you don't like it, mister, they'll ship your job
to some third-world country 'cross the sea
and it feels like I am living in the wasteland of the free

Living in the wasteland of the free
where the poor have now become the enemy
Let's blame our troubles on the weak ones
Sounds like some kind of Hitler remedy
Living in the wasteland of the free

We got little kids with guns fighting inner city wars
So what do we do, we put these little kids behind prison doors
and we call ourselves the advanced civilization
that sounds like crap to me
and it feels like I am living in the wasteland of the free

We got high-school kids running 'round in Calvin Klein and Guess
who cannot pass a sixth-grade reading test
but if you ask them, they can tell you
the name of every crotch on MTV
and it feels like I am living in the wasteland of the free

We kill for oil, then we throw a party when we win
Some guy refuses to fight, and we call that the sin
but he's standing up for what he believes in
and that seems pretty damned American to me
and it feels like I am living in the wasteland of the free

Living in the wasteland of the free
where the poor have now become the enemy
Let's blame our troubles on the weak ones
Sounds like some kind of Hitler remedy
Living in the wasteland of the free

While we sit gloating in our greatness
justice is sinking to the bottom of the sea
Living in the wasteland of the free
Living in the wasteland of the free
Living in the wasteland of the free

(Vielen Dank, Paranoid 1, auf Absolute lyrics. Ich versichere, dieser umwerfende Songtext steht hier nur und ausschließlich aus didaktischen Gründen. Keine einzige kommerzielle Absicht ist damit verbunden.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden