Totalkunst und Gesamtkunstwerk, private Expressionistenutopie

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Expressionistische Träume vom Gesamtkunstwerk und ihr Ende in Privatheit

Auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, -die dortigen Ausstellungsgebäude und die Villen am Rande des Musenhügels, rechnen sich dem Jugendstil zu-, kann derzeit eine sehenswerte Ausstellung zum Gesamtkunstwerkanspruch des Expressionismus bewundert werden. Das passt, vertrat doch schon der Jugendstil eine solche Haltung. Darmstadts Weltkulturerbe ist der gebaute Versuch, es wenigstens einmal zu zeigen. Das Ensemble aus Hochzeitsturm, Austellungshalle, Villen, Parkanlage und russisch-othodoxer Kirche spricht als Stadtkrone zur Residenz -und Bürgerstadt im Tal, und direkt zu jedem Besucher der seinen Weg hierher findet. Wer durch die Expressionsimusschau flaniert, merkt schnell, wie mit dem 1.Weltkrieg, durch die sozialen Verwerfungen, ja, selbst durch eine beispiellose Grippe-Pandemie, der Traum von einer Gesamtkunst zerstob.

I Egon Schiele, der Künstler als Gesamtkunstwerk, Individualist, beeindruckter Expressiver

Gleich am Eingang begegnet der Besucher den Arbeiten Egon Schieles. Der Wiener Sezessionismus erweist sich als Bindeglied zwischen dem Expressionismus und dem Jugendstil. Schiele ist dafür ein sehr gut gewähltes Modell. Um 1910 ist er auf dem Weg zu einer eigenen Bildsprache, mit großformatigen Akten und vielen Selbstbildnissen. Dazwischen immer kleinformatige, sehr ästhetische Arbeiten zum Thema Stadt, die „Kleine Stadt“, Häuserfluchten, Dach- und Dorflandschaften. Gezeigt werden Gedichte Schieles aus seiner expressiven Suchphase. „Nasser Abend“ in einer eigenen Kunstschrift, mit einem dicken, blauen Signierstift geschrieben, kennt „WETTERBAUME“, „BAUERNSCHRITTE“, „WETTLAUFALLEEN“, „REGATTENBAUME“.

Im berühmten Gedicht „Tannenwald“ (1910) heißt es:„Ich kehre ein/ in den rotschwarzen Dom des dichten Tannenwaldes,/ der ohne Lärmen lebt und mimisch sich anschaut./ Die Augenstämme, die dicht sich greifen/ und die sichtbare nasse Luft ausatmen./ Wie wohl! – Alles ist lebend tot.“- An einen Freund, Oskar Reichel, schreibt er, es wolle „nicht draufsehen, sondern hinein sehen“, in die Seele.

Keine Frage, das ist expressionistisch gedacht und die Kunst ist es auch, nicht auf eine sehr optimistische Art und Weise. Das große Selbstbildnis, „Selbstseher II (Tod und Mann)“, von 1911,wirkt wie eine Ausformung Schlehmihlscher Gedanken. Die eigenen Schatten marschieren losgelöst als Tod hinter ihm her. Die frohe und frische Naivität, die so manchen Brückekünstler oder auch die Blauen Reiter erfasste, fehlt hier völlig.

Bei Schiele ist der Tod, das Absterben, das innerliche Leersein ein Thema. Eine soziale Gesamtkunst oder eine zur Gesellschaft hin geöffnete Kunst produziert er nicht. Über seinen väterlichen Künstlerfreund Gutav Klimt, hatte Schiele Gelegenheit, sich an kunsthandwerklichen Aktivitäten der „Wiener Werkstätten“ zu beteiligen, aber sein Werk bleibt auf das Selbst, das Ich und seine Wahrnehmung bezogen.

Zahlreiche Aktdarstellungen, teils sind die Modelle in ganz ungewöhnlichen, bizarren Haltungen eingefangen, sind für Schiele so kennzeichnend, wie die Obsession, sich in jeder Situation selbst abzubilden. Die Akte werden zu einer gerichtlichen Verurteilung führen. Man beschlagnahmt mehr als 160 Bilder, 24 Tages sitzt Schiele hinter Gittern. Die Selbstbildnisse zeigen seine beständige Introspektion und seine verstörenden Selbstunsicherheit ebenso, wie das nun folgende, in Darmstadt vorgestellten Gedicht (www.centrum166.at/programm/2003/ ):

SELBSTBILDNIS DES KÜNSTLERS (1910)

ICH BIN FÜR MICH UND DIE,

DENEN DIE DURSTIGE TRUNKSUCHT

NACH FREISEIN

BEI MIR ALLES SCHENKT,

UND AUCH FÜR ALLE,

WEIL ALLE - ICH AUCH LIEBE, - LIEBE!

ICH BIN VON VORNEHMSTEN

DER VORNEHMSTE -

UND VON RÜCKGEBERNDER

RÜCKGIEBIGSTE. -

ICH BIN MENSCH, ICH LIEBE DEN TOD

UND LIEBE DAS LEBEN.

Hier absichtlich gesperrt und konsequent groß geschrieben, kommt die Textschrift dem großen Eigenwillen näher, mit dem er seine Lyrik mit dem dicken Signierstift und eigener Typografie zu Papier bringt. Die „Rückgiebigkeit“, als Ausgleich zur „Vornehmheit“, ist kein Bestandteil des sich voll entfaltenden Industrie- und Finanzgesellschaft. In der hat alles einen zählenden und zählbaren Wert, trägt alles ein Preisschild. 1918 stirbt Schiele an der so genannten, spanischen Grippe, ein paar Tage nach seiner Frau, gerade einmal 28 Jahre alt.

II Ernst Ludwig Kirchner - Die Wohnstube als Totalsalon, Gesamtkunstwerk en miniature

Den Aschaffenburger Kichner zieht es nach Dresden zum Studium der Architektur. Als bildender Künstler und Mitbegründer der Brücke, wirtschaftlich erfolglos, treibt es ihn bald weiter nach Berlin. Er ist nun schon kein Brückemaler mehr, obwohl er deren umstrittenes Manifest noch kurz vorher verfasst hatte und damit den Trennungsstreit auslöste. Die ehemals reinen Farben und komplementäre Kontraste seiner Bilder mischen sich mit gebrochenen und gedeckten Valeurs. Kirchners fluchtende Straßenszenen mit den Berliner Kokotten enthusiasmieren später Sammler und Kunsthändler. 1912/1913 ist er arm wie eine Kirchenmaus und seine Situation hängt vom Wohlwollen weniger Mäzene ab.

In Darmstadt stehen die Jahre vor dem Weltkrieg im Vordergrund. Kirchner lebt in zumeist engen Wohnungen, die größten Räume wirken wie schmale Hotelschlafzimmer. Sie werden vom Teppich bis zur Tapete von ihm ausgestaltet. Die Wohnstube ist das Gesamtkunstwerk. - Fotos und Beschreibungen seiner gemeinsame Wohnung mit der Lebensgefährtin Erna Schilling, die er 1913 in Berlin Friedenau bezieht, lieferten die Vorlage für das nachgebildete Wohnatelier, genauer, der Künstlerkuschelecke in der Dachschräge. - Die Kissen und Sofabezüge wirken durch das streng durchgehaltene Muster eher noch ein wenig jugendstilig. Freundin Erna stickte die Muster in die Kissen und Bezüge. Ein kleiner Leopardentisch aus Kamerun diente als Beistellage.

Zu Festen, langen Salonabenden und ausgiebigen Gesprächen schaut der damals expressionistisch schreibende Arzt Alfred Döblin vorbei. Ihn beschäftigt die Novelle, „Das Stiftsfräulein und der Tod“ (1913), zu der Kirchner das Frontispiz und vier weitere Holzschnitte beisteuert, seine erste Buchillustration ( www.antiquariat-lindner.de/img/kirchner_g.jpg ).

Von der Gesellschaft existieren gut restaurierte und gut fotografierte Bilder Kirchners. Sein kleiner Freundeskreis zeigt sich in der privaten Situation entspannt, lässig, manches Mal sogar zu einem Foto-Scherz aufgelegt. Am Ende der Bilderreihe stehen jedoch Abzüge, die den Soldaten Kirchner in Feldpostfotopose zeigen. Er steht inmitten der kleinen Wohnung, den Selbstauslöser in der Hand und markiert. - So kündigt sich der erste Weltkrieg an, die gesuchte Stärkung durch den ultimativen Außenreiz. - Viele Künstler, auch Kirchner, möchten freiwillig ins große Schlachten. Die Macht und Heldenpose übt er, wie abertausende andere Bürger, vor dem Spiegel, dann in den Fotoateliers. Schon das Soldat-Sein wird Kirchner bald fertig machen. - Ornament und Schmuck, gemäß der modernen, mobilen Lebensart, -ständig wird umgebaut, ständig umgezogen, in der fix, fixen und fix-fertigen Stadt-, sind eine Sache für private und kleine Räume. Dieser Feldgraue mit Sturmpickelhaube sprengt die Zivilität buchstäblich weg.

Kirchner gerät durch seine Selbsteinberufung als Soldat in eine schwere psychische Krise. Er säuft Absinth (Wermutschnaps), wird Morphinist und Schlafmittelabhängiger, zehrt aus. Nur mit Mühe können ihn Freunde und Mäzene retten. Monatelang hält er sich, bezahlt von den Gönnern, zur Genesung in Dr. Kohnstamms exklusivem Privatsanatorium in Königstein /Ts. auf und malt, wohl als Sachleistung für die Unterkunft, Wandbilder in der Technik der Enkaustik. Dazu werden in heißem Wachs gebundene Farben, schnell auf einen Trockenputz aufgetragen ( ). - Die Front muss Kirchner nicht sehen, um zu wissen, dass dort nicht der Weltbeglückungsgedanke, die neue Gesellschaft erkämpft wird. Von den Psychiatern im Taunus hält er nichts. Sie sind ihm Seelenprokrustese, die nur tauglich, aber nicht glücklich machen. 1937 werden die so genannten Fehmarn Bilder, allesamt Badeszenen als Reminiszenz an Kirchners vier Sommeraufenthalte auf der Insel, zerstört. Kirchner lebte seit 1917 in der Schweiz, auch, um einer drohenden Wiedereinberufung zu entgehen. 1938, in Deutschland war der mittlerweile berühmte und museale Künstler für „entartet“ erklärt und aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen worden, tötete er sich aus Verzweiflung selbst. Die wieder aufgebrochene Morphiumsucht und die Furcht vor den Nazis, -sie raubtem ihm die Existenzgrundlage-, wollte er nicht mehr. Ohne die Basis aufgeschlossener Museumskuratoren und Direktorate, ohne die enteigneten, wahrhaft leidenschaflichen Förderer des Neuen, die jüdischen Kunsthändler und Sponsoren, gab es keine Kunstmoderne in Deutschland mehr.

III Ludwig Meidner – Expressionismus als soziale Kunst

Eine Berliner Kanallandschaft des Schlesiers Ludwig Meidners, 1913, relativ großformatig mit schwarzer Tusche gezeichnet und sein Blatt „Aufgeregte Gesellschaft“ (1914) zeigen nun eine andere Richtung an, die sich mit der expressionistischen Bildsprache gut erfassen lies: Die Großstadt und die Großstadtmenschen. Deutlicher als die bisher vorgestellten Künstler, ahnte Meidner, hinter aller emotionaler Aufregung, hinter der Mischung aus Amüsement und Radikalität, hinter der Vorliebe für alles Schnelle und Momentane, den Untergang. Nicht als persönliches und individuelles Lebensschicksal, sondern als Krieg der Welten und der Massen. - Die Straßen fluchten, sie laufen förmlich weg. Die Häuserzeilen stürzen ineinander, dazwischen bewegt sich der Mensch als Masse und als beständig angegriffenes Subjekt. - Die Stadt verbraucht das Ich. .

Die aufgeregte, gebildete Gesellschaft trifft sich mit ihrem zahlungskräftigen Teil vorwiegend im übervollen Kaffeehaus. Dort findet niemand Erlösung, sondern es droht der ewige Wartesaal. Meidner wird sich politisch dem Sozialismus zuwenden. Ende 1913, Anfang 1914, ist er eher Beobachter und wahrhaftiger Seismograph. Es brodelt und die Sehnsucht vieler Intellektueller und eine großen Zahl der wirtschaftlich und politisch entscheidenden Kreise, nach dem baldigen Vulkanausbruch ist unverkennbar. Es entstehen eindrucksvolle Grafiken und Zeichnungen, sowie einige hervorragende Gemälde, die den kommenden Massenkrieg und die Straßenkämpfe in Deutschland vorweg nehmen.

Berlin ist um diese Zeit der Lichter in den Cabarets und Cafés, lange Zeit des Jahres, besonders wenn es kalt wird und kein Westwind herrscht, eine dampfende, schwefelkohlige Angelegenheit. Meidner ist der Künstler, der das Ich diesem Moloch gegenüberstellt. Um sein abgekämpft wirkendes Selbstbildnis rauchen die Schlote und stürzt die Stadt. ( lyrik.antikoerperchen.de/bild.php?bid=117 ) - Schon 1920 kommt für ihn eine Wende.

Die auf halbem Wege gescheiterte Novemberrevolution beendete seine revolutionäre Phase. Nun wendet er sich seiner religiösen Herkunft zu, und beschäftigt sich intensiv mit dem jüdischen Glauben. 1933, mit seiner Frau ins Exil nach London gezwungen, kehrt er nach dem Weltkrieg allein zurück. Er lebt, weitgehend vergessen, in Frankfurt, im Taunus und zuletzt hier in Darmstadt. Seinen Nachlass bewahrt das jüdische Museum in der Mainmetropole. - Welch´ großartiger Porträtist und Menschenmaler er war, belegt sein Bildnis des Breslauer Dichters und Romanciers Max Hermann-Neiße ( www.meinda.de/start/gruppen/viewbulletin/228-MATHILDENH%C3%96HE+DARMSTADT+|+AUSSTELLUNGSER%C3%96FFNUNG+GESAMTKUNSTWERK?groupid=3 ).

Straßenszenen mit Demonstrationen, Polizeirazzien, Saalreden und Streiks, zeichnete Hans Slavos, den heute kaum noch jemand kennt. Seine Holzschnittserie heißt programmatisch „Mensch gegen Mensch“ (1916), die ausgewählten Titel: „Demonstration“, „Propaganda“, „Revolution“. In dem später verkauften Mappenwerk folgen noch Blätter zum Kriegsgeschehen ( www.kiefer.de/auktion_artikel_details.aspx?KatNr=2616&;;;;Auktion=64 , leider ist nur dieser Holzschnitt im Web greifbar).

IV Die Künstler- und Intellektuellengmeinde als Gesamtkunstwerk

Es sind illustre Namen, die sich wie eine „gläserne Kette“, schon der Name einer der Zusammenschlüsse ist ein Omen, aneinander reihen: Brücke, Blauer Reiter, Neopathetisches Cabaret, Sturm-Kreis um Herward Walden, Arbeiterrat für Kunst. - Treffen sich da Gleichgesinnte, treffen sich prekär lebende Künstler mit einigemaßen etablierten Kräften und mit den wenigen, aber überzeugten Mäzenen? - Ja. Die Anfänge Kirchners als Künstler beweisen es. Zu einer wirklichen Zusammenarbeit kommt es nur bei wenigen und zeitlich sehr begrenzten Projekten.

Nein, denn die „gläsernen Ketten“ erweisen sich allesamt als zu zerbrechlich und nicht halbwegs so Bergkristall-ewig, wie die Architektur-Zeichnungen und Kleinskulpturen Wenzel Habliks in der Darmstädter Austellung. Das dort vorgestellte Neopathetische Cabaret, bestand mit einem sichtbaren Programm gerade einmal eineinhalb Jahre! Trotz klingender Namen, z. B. wirkten Kurt Hiller, Jakob von Hoddis, Jeremin Wolfsohn, Ernst Blaß, Emil Unger, Hans Joachim von Winterfeld und Gustav Meyrink, gelang es nur kurzzeitig die Kräfte zu bündeln. Lieber überwarf man sich und gründete eine neue Vereinigung. - Deutsche Tugend, oder deutsches Laster?

Ja, weil es tätsächlich Künstlervereinigungen gab, die dauerhafter an sozialen Projekten und gesellschaftsorientiert arbeiten wollten. Ein solcher Zusammenschluss ist der „Arbeiterrat für Kunst“, der von 1919-1921 bestand. In ihm waren weit mehr als einhundert namhafte Kulturschaffende verbunden. Spätestens nach dem Scheitern der Räteidee in Berlin und München, endgültig nach dem Ende des Ruhrkampfs, zerfiel das Bündnis. - Tief beeindruckend, der Steckbrief der bayrischen Polizei, Kopfgeld 10.000 Mark, zur Ergreifung Ernst Tollers in der Ausstellung. Der Dramatiker war Mitglied des Arbeiterrates für Kunst und der revolutionären Räteregierung. Bald gefasst, wird er, der Erschießung durch Fürspache entronnen, zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Ein Teil der Künstler macht später am Bauhaus weiter. USPD und KPD, aber auch die Sozialdemokraten, banden erstaunlich viele Künstler an sich. Ein anderer Teil wandte sich von sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen ab und nahm Anlauf zu ganz bürgerlichen Karrieren, häufig verbunden mit der Arbeit an den aufstrebenden Massenmedien (Film, Zeitungen) und in der Werbeindustrie. Die Absichten des Arbeiterates waren einst klar: „Kultur für Alle“, neues Bauen, Volkshäuser als Kunst-, Kultur- und Bildungszentren. - Wer noch ein gutes Gedächtnis hat, der erinnert sich, dass es solche „radikalen“ Forderungen, auch einmal in der Bundesrepublik gab und sich der Kulturbetrieb nicht im Wunsch erschöpfte, die bestversicherten Inkunabeln des Weltkunsttauftriebs zu präsentieren.

V Expressionistischer Film

Kein Medium ist so angewiesen auf die Zusammenarbeit vieler Künstler und Techniker, wie das Medium Film. Der expressionistische Film setzt von der ersten brauchbaren Lichttechnik, über den weiter entwickelten Bühnenbau des Theaters, von der Choreografie und der absichtlich überschminkten Maske mit halonierten Augen, schrundigen Falten, großkonturierten Mündern und Gesichtslinien, bis zur komponierten Musik alle handwerklich und technisch verfügbaren Mittel ein. - In Darmstadt steht das „Cabinet des Dr. Caligari“ (Regie Robert Wiene) im Mittelpunkt einer Abteilung, die sich eines weiteren Leitthemas der expressiven Kunst annimmt: Große, gar übersteigerte Gefühle, die reale Furcht und Angstlust vor bedrohlichen Mördern und sonstigen Verbrechern, wird zur unerklärlichen, grausigen, nicht beherrschbaren Angst, zur Lebensangst gesteigert.

Es herrscht allenthalben „Überspannung“ Unter der manches Mal kokaininduzierten Überdrehtheit, verändern sich Räume und Orte. Die Welt rennt, sie stürzt übereinander. Nichts ist mehr gerade oder einfach nur rund, sondern alles ist zur gleichen Zeit so und auch ganz anders. Das Böse, das Grausame tritt personifiziert auf und ist doch nichts anderes, als die nach außen gewendete Innerlichkeit der eigenen Seele. Um den expressiven Raumeindruck zu vermitteln, baute man in Darmstadt die Rampenarchitektur des Films, allerdings halbherzig, nach. Der Oberflächen- und Raumtiefeeindruck der Realkulissen muss über die kleinen Dioramen und Bühnenmodelle Hermann Warms von 1965 erschlossen werden. Es besteht eine enge Verwandtschaft des expressionistischen Films mit den Anliegen der damaligen Bühnenbildernerkunst.

VI Tanz:

Die bildenden Künstler seit dem Impressionismus pflegten eine Obsession. Sie liebten es Tanzende abzubilden und konnten dabei freier vorgehen, als die Fotografen, die ihnen die Realitätsabbildung lange schon abgenommen hatten. Die Leidenschaft steigerte sich noch, denn mit dem Ausdruckstanz, dem modernen Tanz, mit einer neuen dramaturgischen Choreografie und dem Wissen um den Tanz in fremden Kulturen, löste sich die Tanzkunst vom klassischen Ballet. - Eine besonders schöne Arbeit wird mit Emil Noldes großer Lithografie „Tänzerin“ von 1913, gezeigt (www.kunstmarkt.com/kunstmarkt/cms/upload/news/thumb450/nw5_nolde.jpg ), die seine Eindrücke aus einer Südseereise festhält.

Neben der mittlerweile recht bekannten Geschichte um die Nackt- und Ausdruckstänzerin Anita Berber, verblüffen in Darmstadt die Beispiele einer systematischen Suche nach einer neuen Tanzsprache. Larvinia Schulz und ihr Partner Werner Holdt tanzen nicht nur expressiv, sondern entwickeln eine expressionistische Philosophie um den Tanz. Die Tanzschrift Larvinia Schulz´, eine choreografische Partitur zu „Vier Sätze der toten Frau“ (1921) erinnert formal an Steinschriften ägyptischer Grabmalen und Tempel, ein wenig auch an die Übbögen heutiger Bundesjugendspiele der Turner. Die Balletkleidung wird eingetauscht gegen raffinierte, aus simplem Papier, Pappe und Holz hergestellten Tanzmasken von Minja-Diez Dührkoop, für das Paar Schulz/Holdt in „Toboggan“ (Innu-Schlitten, aber auch Teufelsrutsche), 1924.

VII Bauen

„Das bunte Glas zerstört den Hass“. Paul Scheerbarts Spruch, stand über dem Eingang der Rundbau- Glasarchitektur Bruno Tauts für die große, teure und erst einmal letzte Werkbundaustellung in Köln, 1914. Wenige Wochen später erschien das so absurd, wie wohl den meisten Zeitgenossen die Entwürfe der Kristall- und Glasarchitekten fremd erschienen. Wenn sich auch die „Gläserne Brücke“, ganz im Sinne des programmatischen Manifests Paul Scheerbarts, von der Backsteinarchitektur loslösen wollte, zugunsten der Glas- und Lichtarchitektur, so sind, ein Witz der Baugeschichte, expressionistische Bauten meist mit Backsteinklinkern, z.B. das Chile- Haus in Hamburg ( www.hamburg-tourism.de/typo3temp/pics/chilehaus800_02_3ca562ba48.jpg ), mit Beton, oder als massive Steinbauten ausgeführt. Teilweise wurden sie verputzt, wie z.B. der berühmte "Einsteinturm" Mendelsohns, dessen Modell in Darmstadt gezeigt wird (architectureinberlin.wordpress.com/2008/02/12/erich-mendelsohn-and-the-einsteinturm/ ). Sehr häufig wurden sie mit eher sparsamen Wandöffnungen und Fenstern oder gar Schlitzen ausgestattet. Im Inneren herrschen hoch gewölbten Räumen, eine Art Hypergotik.

Der Werkbund zerstritt sich über die Kölner Ausstellung. Die traditioneller arbeitenden und etablierten Architekten redeten programmatisch von einer nationalen Baukunst. Ein legendärer Streit entbrannte zwischen Hermann Muthesius´ Kreis und den modernistischen Richtungen um Gropius, Buno und Max Taut, van de Velde. Die Modernisten zogen nicht wirklich an einem Strang. Ihnen ging es um die Kunstfreiheit und die Internationalität der Architektur, ja, um eine Menschheits- und Weltarchitektur, läge sie auch in gähnenden Höhen. - Unter dem Einfluss des nationalisierenden 1. Weltkrieges war das keine sehr gemeinschaftsstiftende Idee mehr.

VIII Bildung und Kultur für Alle:

Ein Wort zum Katalog: Der ist opulent, strotz von Fachwissen und kennt wirklich fast jede Verästelung des Expressionismus als Gesamtkunstwerk. Die Kuratoren und Katalogautoren sorgten für viele Originaltexte, von Schriftstellern, von den Doppel- und Dreifachbegabten unter den Künstlern, sowie für biografische Notizen und Manifeste aus der Zeit. Dieses über fünfhundert Seiten starke, glänzend bebilderte, bestens indexierte und recherchierte Katalogbuch ist ein Referenzwerk. - Nun kommt der Haken: Es ist zu teuer! 45,- Euro sorgen dafür, die Bildung und Anregung zu einer Angelegenheit der Kaffeetische zu machen, ´mal durchblättert, dann bei den anderen bunten Werken in der Schrankwand abstellen. 25,-Euro wären immer noch ein stolzer Preis. Das hätte vielleicht 25.000-30.000 Euro mehr an Zuschuss, Spenden, Budget verschlungen, die man leicht an der spektakulären, aber doch halbherzigen Einbauarchitektur zur Wirkung des Films „Das Kabinett des Dr.Caligari“, hätte sparen können.

Hervorheben möchte ich Karl Schmidt-Rottluffs Beitrag „Idealprojekt“, von 1919, der sich den Bau einer kleinen Bergstadt von 8.000-10.000, mit „große(r) einheitliche(r) Silhouette“ für den Arbeiterrat für Kunst fantasierte. - Mit der Berliner oder Dredner Luft, den mehrheitlichen Talbewohnern in der Republik von Weimar, hatte das nicht viel zu tun. Nichts, mit einer baubaren Realität für die Massen.

Kurt Tucholskys Weltbühnen-Text, „Dämmerung“ von 1920, zeigt ihn als genauen Beobachter des Feuilletonismus und der Kulturszene. Könnte das nicht heute genau so geschrieben werden?: „Diese Zeit hat durchaus Gespensterhaftes. Die Leute gehen täglich ihren Geschäften nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten und lesen Bücher-: aber es ist alles nicht wahr./ Was man so gemeinhin Kunst und Kultur nennt: sie sind nicht möglich ohne gemeinsame Voraussetzungen. Die sind nicht mehr da. (…)/ Wohin treiben wir? Die Form ist angefressen, an vielen Stellen gesprengt, hinfällig und unnütz. Der Inhalt fiktiv wie des Königs Kleider. Man muß an ihn glauben, wenn man ihn sehen will. Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wer’s glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung. ("Dämmerung", aus: "Die Weltbühne", 11. März 1920, S. 332 ) “

Kostbar, Karl Lorenz Beitrag, aus; „Die Rote Erde“, zur Tanz- und Tongestaltung Larvinia Schulz´ und Werner Holdts, im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 1921: „ Die Lösung dieser Aufgabe wird sicher von großer Bedeutung sein für die deutsche Sprach-, Tanz-, und Theaterkultur. Wo sind die Menschen, die weitsehend genug sind und diese beiden Menschen stützen?! Zum Schluß noch einmal das Ergebnis des Abends bildlich zusammengerafft: Lavinia Schulz: Das Durchgreifende, das Durchpeitschend-Wirbelnde. Tier-Mensch, der Blume zustrebend. Walter Holdt: Das erhebend leuchtend Freudige, das verkündend Klingende. Blume-Mensch in letzter Reinheit, schon klingend!“ - Pathosrede, selbst für die kleinsten Anlässe! Reine Hoffnung, eine Kunstrevolution sei noch möglich, selbst wenn schon lange nicht mehr von einer gesellschaftlichen Revolution die Rede ist und die Auftritte eher private Zimmerkunst bleiben.

Gut lesbar und detailgenau zugleich, schreibt Werner Durth über die Wunschträume der Glasarchitekten und die Stadtfantasien die sich damit verbanden. - Vielleicht ahnen wir, die wahrhaft, wahnhaften Verwirklicher im 20. und 21. Jahrhundert, jetzt, da überall die Projekte tatsächlich an Wolken kratzen, wie sehr die Sihouetten und Fassaden der Hochhäuser nur spiegeln. Die wirtschaftlichen Vorgänge in den Türmen und auf den Hügeln vor den Toren der einzigen Hochhausstadt Deutschlands, Frankfurt am Main, bleiben verborgen. Das geschieht mit Absicht. -Nein, wir hingegen, haben immer noch literarische Feuilletonistinnen die sich lautlich nach Adorno nennen, aber partout nicht mit ihm denken wollen. Die beten die Silhouetten am Main an, wie Manolo Blahnik Stilettos. Christoph Leusch

Quellen: Der umfangreiche und klug editierte Katalog, viele Texte sind ein wenig überfrachtet mit Informationen, kostet 45,-Euro. Wer einmal anlesen und ansehen möchte, was ihn erwartet, der greife auf folgenden Link zurück: www.mathildenhoehe.info/www/download/katalog_ex_komplett.pdf , 14,5 MB. Die Anregung zu diesem Beitrag verdanke ich Rudolf Walters Überblick im „dF“, www.freitag.de/kultur/1046-diffuses-streben-nach-totalit-t, der fast alles aufzählt, was überhaupt in Darmstadt gezeigt wird. Die Ausstellung selbst, läuft noch bis zum 13. Februar 2011.

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