Wir brauchen mehr musikalische Gazastreifen

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Wir brauche mehr musikalische Gazastreifen

(Erst nach Sonnenuntergang zu spielen, sonst wirkt es nicht! - Anregung: Verena Reygers, Das Lied des Nahen Ostens, www.freitag.de/alltag/1105-meet-the-east , den Tunesiern und Ägyptern gewidmet, die gerade erleben, wie schön es ist frei und selbstbestimmt zu sein. Hoffentlich wird es nicht nur ein arabischer und maghrebinischer Prager Vorfrühling! Kaum eine könnte eine solche Widmung besser singen als es Nina Simone 1976 in Montreux gelang: www.youtube.com/watch?v=5dlrXCYrNYI&;;;;feature=related . - Wen der ganze übrige Schmonzes hier nicht interessiert, der sollte sich wenigstens diese Stückchen Weltweisheit und musikalischer Genialität anhören.)

Das leere Haus Frau Welts

Ja. Ein wenig ratlos steht „Mann“ vor den vielen Fundsachen der eigenen Musikrezeption und bemerkt, wie eurozentrisch, wie wenig multikuturell es da letztlich immer zuging!

Die lang gehaltenen, sehr komplizierten Rhythmen der Musik des Maghrebs, ja ganz Arabiens, diese Stimmen, die Töne endlos ziehen, dann fallen lassen, dieses kleinschrittige Variieren in den Tonlagen und bei der Dynamik der Musik, dieses musikalische Wiegen, eine Art Slow-music wave, dieses immer wieder zurück kehren zum Ausgangspunkt, ist uns doch einigermaßen fremd.

Dabei bereichern arabische Musiker unsere Ohren mit einer Ausdauer, die uns, die Konsumenten der alltäglichen Dudel-Hintergrundmusik und der großen Eventmusik, ein ganz anderes Zeitmaß anzunehmen anregt. Wo sind die starken Verbindungsfiguren zu diesen Kulturraum im Musikgeschäft zu finden?

Verena Reygers nennt die Richtungen in die geblickt werden muss. Paris und London, aber auch Belgien, die Niederlande, Schottland und die nordeuropäischen Länder. Sie sind die Haupt-Exilorte der musikalischen Migranten Arabiens, weil dort Labels und Studios für diese Art Weltmusik aufgebaut wurden und die Migranten aus diesen Ländern sich hier sammeln.

I

Natacha Atlas, der musikalische Gazastreifen

Ein rühmliches Beispiel, seit Jahren, Natacha Atlas, die Belgierin, polyglotte Weltbürgerin, der singende und tanzende „Gazastreifen“, wie sie sich, nicht ganz wörtlich, frei nach meinem schwachen Gedächtnis, selbst bezeichnete.

Der musikalisch-geistige „Gaza-Strip“ reicht bei ihr jedoch von der Türkei bis nach Marokko, die ganze Mittelmeerküste entlang. Nein, ganz ums Mare nostrum herum, und von da weiter, auf verschlungenen Pfaden, über die USA, wieder zurück,... bis nach Schottland! - Dazu später.

Natacha Atlas ist Muslima, aber auch überzeugt, dass Religion, politisch genutzt, eher der Verständigung im Wege steht. Nicht im Wege sind allerdings die Worte Allahs, die sie in ihre Songtexte einfließen lässt. Das ist alte Sufi-Tradition, auf die sie sich ausdrücklich bezieht. Das Multitalent arbeitet mit dem Ensemble Transglobal Underground, als Solosängerin, mit großen arabischen Orchestern, neuerdings zusammen mit ihrem Partner, dem ägyptischen Violinisten Samy Bishai. Gemeinsam fügen sie gerade eine neue Facette ins Repertoire, nämlich die Bezüge zur indischen Populärmusik.

Als Studio- und Gigmusikerin ist Natacha Atlas generös für andere tätig. Als Botschafterin für die UN, als Bauchtänzerin, als veritable Filmmusikerin kennt man sie von Asien, bis in die Türkei. - Das ist sicher noch gar nicht alles, was sie so macht. Mir fällt nur nichts mehr ein.

Madame Atlas ist das, was das famose senegalesische „Orchestra Baobab“ selbstbewusst für sich attestiert und auf die zahlreichen MC-, LP- und CD-Cover drucken lässt: „Specialist in all styles“. Sie vermischt Hip-Hop, Ambient Music, klassische arabische Folklore, Folk, Popelemente und Singer-Songwriter-Qualitäten und kennt sich im euopäischen Pop, im Rap und im Chanson bemerkenswert gut aus.

Hier folgt erst einmal ein typisches, trommelunterlegtes und daher regional gut zuordenbares Stück mit ihrer Band.

„Sky Giant“ heißt es und die unter dem Clip übersetzten arabischen Verszeilen zeigen den Bezug zum wahren Koran (Der Mensch als ewig Lernender und schöpferisch Bewahrender auf dieser Welt). Der Witz dabei ist dieser starke Ambient music-Einschlag. Solche Musik gehört in Lounges und eignet sich auch für lange Zugfahrten, wenn der Blick interesselos durch die ICE-Scheibe gähnt: www.youtube.com/watch?v=sfgdjfgtJw4&;;;;feature=related .

1995 hieß ihr erfolgreiches Album „Diaspora“ und genau das ist diese, mit Dubs und Oberdubs hinterlegte Tanzmusik für die Ethnodisco einer inneren Diaspora in der arabischen Welt. Der folgende Song „Yalla“, so populär und vielfach aufgeführt, schreit nach dem Bauchtanz, den Frau Atlas so gerne auf der Bühne zeigt (www.youtube.com/watch?v=7xysfYhyUNg&;;;;feature=related ), selbst wenn es ihr manchmal in Europas Festivalhallen zu kalt ist.

Das neue Album Natacha Atlas´, „Mounqaliba“

Ende 2010 kam ihr neues Album heraus. Natacha Atlas sieht die Welt in Transition oder Lost in translation, suchen wir es uns aus. „Mounqaliba“, der Albumtitel bedeutet, „In a state of reversal“. Das ist, wie der kleine Rückwärtslauf der Schneckenwindung, bevor es wieder ein Stückchen vorwärts geht. - Die Mega-Städte werden die Zentren sein, in denen die neue Drehung einsetzt.

Im folgenden Clip singt sie einen Françoise Hardy- Titel von 1964. Das Ergebnis ist verblüffend und die Anspielung führt in eine Zeit zurück, in der ebenfalls das Gefühl stark ausgeprägt war, dass ein "Rücklauf" die Welt erfasst habe und sie nun auf einen neuen Impuls wartete. - Kennedy ermordet, der kalte Krieg auf einem Höhepunkt, Afrika im Status der abhängigen Unabhängigkeit, von Kriegen und Hunger geplagt, der Vietnam-Krieg, heftiger weiter tobend und die Mauer quer durch Deutschland hatte sich längst zu Beton verfestigt ( www.youtube.com/watch?v=4ni9Wh_EeDg ). - Das Original, Françoise Hardy, www.youtube.com/watch?v=QikPpNPWK70 .

2001 hat Atlas mit ihrem Video zum Song „Mish Fadilak“ sicherlich stilbildend gewirkt. Das geht sogar so weit, dass zu Natachas Musik Genfer Bürgerinnen den Bauchtanz schulen und exemplarisch vorführen, einmal ganz abgesehen von den Plätzen in ganz Arabien und im Maghreb, in denen sie als Weltstar längst anerkannt ist. Das Orignial erschien auf dem Album „Ayeshteni“, ebenfalls 2001 (www.youtube.com/watch?v=m0TzI0bC8OI&;;;;feature=related ). Wer behauptet, der Orient sei hinter der Populärmusik Amerikas oder neuerdings Indiens zurück, der findet hier haufenweise Gegenbeweise.

Wie der manches Mal zuckrige Avantgardismus der Musikerin wirkt, das verdeutlichen die folgenden beiden Clips. Freudige Nachahmungen und der Wunsch, noch etwas dazu zu tun, die Vorlage zu steigern, beweisen am besten, welchen Einfluss Natacha Atlas hat:

Claudine-Richard-Zemmour aus dem Studio Ghawazi in Genf führt den, abgesichert der historischen Aufführungspraxis entsprechenden ( ;-)) ), Bauchtanz, mit Natacha Atlas´ „Marifnaash“(CD „Halim“) vor ( www.youtube.com/watch?v=olKaBTfvHE4 ). Das Original der Belgierin besticht, neben ihrem Gesang, durch die hervorragende Instrumentierung, www.youtube.com/watch?v=Jg1nR8fW8nY .

„Gafsa“ (www.youtube.com/watch?v=FlCP6I45z6s ) , aus dem Album „Halim“ (1998), ein Lied mit marokkanischen Wurzeln, hat es bis in den internationalen Film geschafft. Eine bekannte türkische Soap- TV-Serie nutzt es und, verblüffender noch, der südkoreanische Regisseur Kim Ki-Duk hinterlegte Szenen seines Films „Bin-Jip“ damit ( www.youtube.com/watch?v=FxvPx3pcbtw ). Die beiden Hauptpersonen in diesem kunstvollen Liebefilm sprechen nicht, oder nur am Ende des Films. Golfbälle spielen ein große Rolle und das „3er -Eisen“ („3-iron“), unter dessen Namen der Film international bekannt ist. 2004 gewann Ki-Duk mit ihm den silbernen Löwen von Venedig (Regie). - Bei uns heißt er „Leere Häuser“ oder aber, bei der ARD, 2007, „Der Schattenmann“.

Mit Frau Atlas geht die Reise weiter in den Libanon, an die Levanteküste. - Besser schmachten, als mit diesem libanesischen Volkslied lässt es sich kaum. Dort oder in der Türkei, kennt es jeder. Bei uns vielleicht ein paar Hörer über Natacha Atlas´ Fassung „Ya Laure Hobouki“. Ein ganz einfaches Liebeslied, das aber auch transportiert, was den Libanon als Land so anziehend macht ( www.youtube.com/watch?v=REFxxr_4-kQ&;;;;feature=related ). Dina, die freundliche Übersetzerin auf der folgenden Webseite, hilft, den Inhalt zu verstehen: tribes.tribe.net/bellydancetranslations/thread/0642444e-204f-46ac-9e9d-d3d41ffc8378 .

Vor einem kleinen Themenwechsel: Warum spielt Natacha Atlas heute weniger Fusion- Music, kehrt zur Schlager und Volksliedwelt der arabischen Länder aus den 50er und 60er Jahren zurück? Klarer als sie selbst, kann es niemand sagen( www.youtube.com/watch?v=gf3yOJREIEM&;;;;feature=related) . - Die Zeit ist endlich reif!

II

Black is the colour of my true love´s hair

(Für Daniel Barenboim, das West Eastern Divan Orchestra und Edward Said )

Was bedeutet ein Song, wenn er in der Lage ist alle musikalischen und kulturellen Grenzen zu überwinden? - Mehr, sehr viel mehr!

Natacha Atlas, die Frau mit palästinensischen, marokkanischen, ägyptischen, jüdischen und britischen Wurzeln, sang „Black is the Colour of my true love´s hair“ und ihre Version ist beeindruckend, weil sie das Lied wunderbar moduliert vorträgt und spüren lässt, worum es in dem einfachen Lied geht. Geschickt nutzt sie die Dehnungen, das Aushalten der Töne, aus der arabischen Tradition und fügt so ein traumartiges Element hinzu. Ähnliche Dehnungen finden sich z.B. auch in der traditionellen Musik der europäischen Sinti und Roma und in der Folklore des Balkans: www.youtube.com/watch?v=OdUhp6NfXjg&;;;;feature=related .

Das Lied ist ursprünglich wohl ein iro-schottisches Traditional, das mit den großen Auswandererwellen des 19.Jahrhunderts seinen Weg in die Vereinigten Staaten fand und dort von den Siedlern am Abhang der Appalachen gesungen wurde. Es verbreitete sich und gehört lange schon zum Standardrepertoire der Folksinger, Singer-Songwriter, der Schwarzen und Weißen Protestler der 60er und 70er Jahre, der Jazzer und Experimentalmusiker. Es gibt praktisch keine Musikrichtung, keine Musiksprache, in der dieses Lied, dazu noch in einer männlichen und einer weiblichen Version, nicht einmal auftaucht. - Sie glauben es nicht, ich versuche es zu beweisen!

Wie es heute und ganz irisch klingt, das zeigen Vater und Sohn in Darkey Kelly's Bar in Dublin. Der Sohn, Gesang und Gitarrre, der Vater am Banjo ( www.youtube.com/watch?v=NpjsqP8WoLM&;;;;feature=related ).

Eine charismatische Institution des Irish Folk, Christy Moore, spielt mit Declan Sinnott die Glasgow-Version und erklärt anschließend, im zweiten Clip, was das Erfolgsgeheimnis des Songs sein könnte: www.youtube.com/watch?v=uYpgsPB-Bkw&;;;;feature=related (Leider hat diese You tube-Version einige kleine Aussetzer. Nicht abschrecken lassen, denn der Clip vermittelt, welche Stimmung herrscht, hören Schotten oder Iren dieses Lied), www.youtube.com/watch?v=RKNN4jl_xqw&;;;;feature=related (die Erklärung daür).

Esther Ofarim singt es in dem Herbert Reinecker Krimi „11 Uhr 20“, 1970. Auch wenn man hier bekannte Filmgesichter erkennen mag, die ablenken, die Hauptrolle für die Länge des Liedes spielt eindeutig Esthers Gesang. Schade, dass dieser Künstlerin kaum mehr Kränze geflochten werden. Allein das kurze Stückchen zeigt, es lohnte sich, bald einmal journalistisch und musikalisch eine Retrospektive nachzuholen.

Esther Zaied aus Galiläa heiratete Abraham Reichstadt, der sich als Choreograph und Tänzer Abi Ofarim nannte. Wie Natacha Atlas waren die beiden zehn Jahre lang als Gesangsduo mehr Weltbürger als Staatsbürger, und Frau Ofarim sang später auch auf Deutsch, auf Ladino, der Sprache des Engardins, auf Englisch, Hebräisch und Französisch ( www.youtube.com/watch?v=qFApa21pH0U ).

Nun treten Nina Simone und Emile Latimer auf und unser Lied gewinnt schon wieder eine neue Bedeutung, über die simple Liebesgeschichte irgendwo an den Ufern des River Clyde hinaus, entlang der Appalachian Mountains, bis ins Sumpfland des amerikanischen Südens.

Vielleicht ist „Black is the colour of my true love´s hair“, dessen eigentlicher Komponist immer unbekannt bleiben wird, jedoch nichts anderes, als eine verschüttete, melancholische Erinnerung an eine Jahrhunderte überspringende Liebeslyrik und Liebesmusik der Sizilianer, dieser verbrannten Menschen des italischen Südens, eine Erinnerung an die Mauren, die mit der Nordwestküste Schottlands und Irlands auf geheimnisvoll-historische Weise durch Mönche, Königsgeschlechter und Händler eng verbunden sind. Die männliche und die weibliche Version nähern sich bei Nina und Emile stark an: www.youtube.com/watch?v=NWmCbEbMmeU  .

Luciano Berio (+ 2003) nutzte das Lied als Eröffnung seiner insgesamt elf „Folk Songs für Mezzosopran und Orchester“. Berio neigte häufig zu Spaziergängen in der Weltmusik und in der traditonellen Volksmusik, und er war ein bessesener Zitierer aus der Geschichte und Literatur. - Ich glaube, dass dieser moderne Komponist, wie kaum ein anderer, das dichte Gewebe Menschheit, diesen unauflösbaren Filz der Welt, vertanden und geliebt hat. Hier seine Version unseres Song-Themas, komponiert und arrangiert, 1963/1964: www.youtube.com/watch?v=5-YMbtkOuvQ&;;;;feature=related

Bis nach Südtaiwan, in die Stadt Kaohsiung, wandert das Lied und wurde dort von einem atemberaubend gut klingenden Chor einstudiert. Der Kaohsiung Chamber Choir singt, nur mit Klavierbegleitung, “Black is the colour of my true love´s hair”, mit einer schönen dunklen Note und feiner Geschlossenheit: www.youtube.com/watch?v=LcpnUMRg6us&;;;;feature=related .

Mit der russisch-schottischen Künstlerin Clann Lir kehrt der Song zu seinem Ursprungsort zurück. Die keltische Harfe, die Flöte, die Stimme, das reicht völlig: www.youtube.com/watch?v=uVAdno40y-E

Ende der kleinen Nachtmusik

Christoph Leusch

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