Zeugnis ablegen, eine humanistische Pflicht

Chile 1973, China heute Pierre de Menthons Buch, >>Je témoigne : Québec 1967, Chili 1973<<, sendet eine Botschaft: Rettung erwächst aus Zeugenschaft, wenn Hoffnungen sinken.

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»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«

Überlegungen zu einem Interview, das Romy Straßenburg mit Gulbahar Haitiwaji führte, einer uigurischen Migrantin aus Paris, die mittels eines Vorwandes zurück nach China gelockt und 32 Monate in Haft gehalten wurde:

Ich schätze an Frau Straßenburgs Journalismus, was ich für eine allgemein erstrebenswerte Tugend halte, die ich auch Bloggern oder Kommentierenden in Webforen wünsche. Geht es um wichtige Dinge, zum Beispiel darum ein persönliches Zeugnis aufzunehmen, also um Bekenntnis und Wahrhaftigkeit, hilft eine nie übertreibende, einfühlsame und offene Vorgehensweise. Ihr Interview spiegelt diese Haltung und die dF- Titeltextenden fanden die durchaus pathetische Formel, die das Anliegen der interviewten Uigurin, Gulbahar Haitiwaji, aufgreift.

Trotzdem gab es in der dF- „Community” viel Kommentarkritik, es sei zu wenig Verständnis für das Vorgehen und die Motive der chinesischen Regierung gezeigt worden. Zu der Uigurin passe der hohe Ton der Überschrift nicht.

Vielleicht hilft es sich zu vergegenwärtigen, dass Franzosen die Formel kennen, ohne den Romanisten Victor Klemperer zu kennen, ohne unbedingt mit ihm und seinen Schriften vertraut zu sein.

Die öffentlichen Debatten in Frankreich, bekannt für den scharfsinnigen Spott der Kontrahenten, ihre damit einhergehenden vielfachen Verachtungsformeln und einer gesteigerten Sucht, alle Argumente zu zerlegen, achten jedoch den Mut der Zeugenschaft. Zum Beispiel von Migranten aus der ganzen Welt, die dort, besonders aber in „Paname” (Paris), trotz aller Widrigkeiten, Schutz und eine neue Heimat fanden und erstmals frei reden und schreiben können.

Pierre und Françoise de Menthon, Botschafter der Humanität, 1973

"Ich bezeuge" (>>Je témoigne<<) steht auf dem Titel jenes Buches, das der französische Diplomat Pierre de Menthon verfasste (Éditions du Cerf,1979). Er beschreibt darin die Ereignisse während und nach dem Pinochet- Putsch, gegen die legitime chilenische Regierung Salvador Allendes.

Die Anhänger und politischen Mitstreiter des ermordeten Präsidenten, die Verteidiger der Legitimität und Legalität, die Wahrer der Menschen- und Grundrechte, hatten damals keine Chance, gegen die brutalen Militärs, den Geheimdienst und die politische Polizei, die CIA und jene skrupellose Außenpolitik der Vereinigten Staaten, geleitet von Henry Kissinger und abgesegnet von Richard Nixon, die den Staatsstreich vorbereiten half.

Pierre de Menthon und seine Frau Françoise sorgten jedoch dafür, die Tore der Botschaft Frankreichs in Santiago de Chile zu öffnen, um so viele Menschen wie nur möglich vor der Hatz und der Rachsucht der Schergen Pinochets zu bewahren.

Die waren beileibe nicht nur hinter den politischen Führungspersönlichkeiten der weggeputschten Regierung her, sondern gingen gegen Kulturschaffende, Wissenschaftler und Studenten, Journalisten, Arbeitervertreter, sowie völlig apolitische Menschen vor, die sich in ihren Augen verdächtig machten oder einfach nur auf der Straße, am Arbeitsplatz oder in ihren Wohnvierteln verhaftet wurden.

Gegen die geltenden diplomatischen Regeln, wohl aber mit stillen Zustimmung des damaligen Präsidenten, George Pompidou, der keine Sympathien für die Regierung Allendes hegte, nahm das Botschafterehepaar hunderte Geflüchtete auf, organisierte deren Unterbringung und Versorgung und dokumentierte, was ihnen die dem Terror Entkommenen berichteten. Françoise de Menthon führte zu diesem Zweck persönliche „Carnets du Bord” (Bordbücher, Tagebücher). - Aus ihren Erinnerungen geht hervor, dass nicht nur der Botschafter und seine Frau die Hilfaktion aktiv betrieben, sondern die große Mehrheit der damaligen BotschaftsmitarbeiterInnen und das Umfeld der kleinen französischen Gemeinde in Chiles Hauptstadt. Nur so, konnte für ca. 800 Flüchtlinge Platz gefunden werden. Nur so, funktionierte die Versorgung der Botschaftsasylanten.

Wen es interessiert, der wird entlang der Familiengeschichte der beiden katholischen Christen erkennen, dass Herkunft und Résistance- Beispiele eine gewisse Vorbild-Rolle für ihr konsequentes Verhalten lieferte.

Carmen Castillo, ein Leben lang Zeugnis ablegen

Nachdem Chris Marker bereits 1973, mit »L'ambassade« einen Film zu dieser Geschichte der Botschaft produziert hatte, pseudodokumenatrisch, weil er die Ereignisse in Santiago de Chile in Paris nachstellte, noch bevor sie endgültig Geschichte wurden, gelang dies 2019 auch der chilenisch- französischen Regisseurin, Autorin, Historikerin und Filmdozentin Carmen Castillo, deren Mann Miguel Humberto Enríquez Espinosa („Miguel Enríquez”), von der chilenischen Geheimpolizei oder den begleitenden Militärs erschossen wurde, während sie, mit viel Glück von einem Nachbarn gerettet, schwerverletzt überlebte. Genesen, durfte sie später, zusammen mit ihren Kindern, nach Großbritannien ausreisen, nachdem sich eine internationale Solidaritätskampagne für sie eingesetzt hatte.

Zu ihrem vielschichtigen Dokumentarfilm »Chili 1973 : une ambassade de France face au coup d'Etat«, sagte sie auf France culture:

»Dans ce film, la question je pose est celle-ci : à quel endroit l'histoire politique du Chili rencontre l'histoire politique de la France ? Je la pose parce que je suis française et chilienne, parce que j'ai déménagé il y a trois ans au cœur du quartier de La Chapelle, dans lequel arrivent les migrants. Je la pose, parce que la mémoire vient toujours du présent, et elle émerge quand il y a urgence, et que le présent nous appelle à l'évoquer, soit pour nous protéger, soit pour nous alerter et nous dire qu'il est possible de faire autrement. Ces rencontres inattendues, riches et merveilleuses avec ces réfugiés d'aujourd'hui m'ont emmené à écouter la parole des réfugiés chiliens. Cela m'a ramené au souvenir de la France qui m'a accueillie, aimable et solidaire, et vers une histoire que je ne connaissais pas personnellement. Nous sommes dans un autre temps, une autre époque et un autre monde, mais quand même, l'histoire est toujours imprévisible. «

„Die Frage, die ich mit diesem Film aufwerfe: Wo treffen sich die politischen Geschichten Chiles und Frankreichs? Ich stelle sie, weil ich Französin und Chilenin bin; weil ich mich vor drei Jahren im Herzen des Viertels La Chapelle (Paris, m.Einf.) niedergelassen habe, wo die Migranten ankommen. Ich stelle sie, weil die Erinnerung immer aus der Gegenwart kommt und auftaucht, wenn sie notwendig ist. Die Gegenwart erfordert sie hervorzubringen. Sei es, um uns aufzuwecken und uns zu sagen, dass es möglich ist es anders zu machen. Diese unerwarteten, dichten und wunderbaren Begegungen mit den Flüchtlingen von heute, fassten mich an, mir die Erzählungen der chilenischen Geflüchteten anzuhören. Sie brachten mich zurück, um mich an das Frankreich wiederzuerinnern, das mich aufnahm, liebvoll und solidarisch, und hin zu einer Geschichte, die ich persönlich nicht kannte (Castillo war nicht in der Botschaft, m.Einf.). Wir befinden uns in einer anderen Zeit, einer anderen Epoche und einer anderen Welt, aber, wie auch immer, die Geschichte ist nicht vorhersagbar.”

Wer bei diesen Worten an Walter Benjamins visionäre Ansicht zur persönlichen und historischen Erinnerung denkt, liegt richtig. Carmen Castillo erwähnt ihn häufig und bezieht sich auf ihn, bei ihrem professionellen Engagement, das oftmals auf die Ereignisse in Chile bezogen ist. Zu ihrem persönlichen Schicksal, zum Gedenken an ihren Mann und den Umständen seines Todes, drehte sie 2007 »Rue Santa Fe« („Calle Santa Fe”).

Auch 2019/2020 war sie wieder unermüdlich in ihrer ersten Heimat unterwegs, um die Straßenproteste, „El Estallido Social”, gegen die Regierung und deren neoliberalen Wirtschaftskurs, mit ihren chilenischen Dokumentarfilm- Studenten aufzuzeichnen.

Nach 29 Toten, tausenden Verletzten und ebenso vielen Inhaftierungen, während des Notstands, trat zwar nicht der Präsident, Sebastián Piñera, zurück, aber er musste ein neues Kabinett bilden und einem Referendum zu einer neuen verfassungsgebenden Versammlung zustimmen, das erfolgreich ausging. Trotz der Corona- Pandemie, gab es auch 2020 Demonstrationen und gewaltsame Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. Die Zahl der Toten stieg auf 36.

So schließt sich der Kreis und die Idee des Zeugnisablegens lebt weiter.

Christoph Leusch

PS: Mittlerweile konnte ein weiterer Dokumentarfilm zu den Geschehnissen in der französischen Botschaft entstehen. Thomas Lalires, »La Residence« (2020), bezieht sich vor allem auf Françoise de Menthons „Carnets” und jene Gespräche, die er mit der fast Einhunderjährigen am repäsentativen Wohnsitz der Familie, dem Château de Menthon nahe Choisey (Région Bourgogne-Franche-Comté, Dep. Jura), sowie mit anderen ZeitzeugInnen führen konnte. Françoise verstarb 2019.- Die Webseite zum Filmprojekt ist sehr empfehlenswert. Ebenso sehenswert: die kurzen Clips mit Zeugenschaften, die „Papyrus” zur Förderung des Films auf Vimeo einstellte.

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