Abfangjäger vor der Küste

Flucht nach Europa Mit der Debatte um Auffanglager in Nordafrika ist ein Stein ins Rollen gekommen. Mancherorts werden schon Fakten geschaffen

Mit "Bootsunglück" ist eine kleine Zeitungsmeldung überschrieben. Als ob unachtsame Segler auf dem Bodensee gekentert seien. Doch die Meldung findet sich nicht im Lokalteil. Wieder einmal ist ein völlig überfülltes Boot mit Flüchtlingen vor Italiens Küste gekentert. Geschätzt wird die Anzahl Ertrunkener, die oft in die Hunderte gehen, gezählt werden Leichen, die am Strand angeschwemmt werden. Tragödien spielen sich Woche für Woche, Tag für Tag an den Küsten Griechenlands, Italiens und Spaniens ab. Nach Schätzungen von Menschenrechtsgruppen sind seit 1997 im Mittelmeer mindestens 4.000 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa umgekommen.

Vor wenigen Wochen schwang sich ausgerechnet der deutsche Innenminister Otto Schily zum Anwalt dieser Menschen in Not auf. Mit seiner Forderung, Auffanglager für Flüchtlinge in nordafrikanischen Staaten einzurichten, macht er indes seinem Ruf als Advocatus Diaboli alle Ehre. Schilys Vorstellung nach sollen Flüchtlinge gar nicht erst das europäische Festland erreichen, sondern gleich vor den Küsten Libyens, Marokkos oder Algeriens aufgebracht werden.

Beifall bekam er nicht nur von seinem Parteifreund Oskar Lafontaine, sondern auch von Mitgliedern der rechtspopulistischen italienischen Regierung. Mit Giuseppe Pisanu, dem italienischen Innenminister von der "Forza Italia", den Schily auch seinen Freund nennt, ist er sich einig, dass möglichst viele der neuen "Boat People" abgefangen werden sollten, um dann in Auffanglagern ihre Herkunft und ihr Begehren, in einem europäischen Land Asyl zu beantragen, zu prüfen. Doch selbstverständlich können Flüchtlinge nicht auf beispielsweise marokkanischem Territorium Asyl in Deutschland beantragen.

Entwicklungshilfe für Menschenlager

Der "Schutz Europas vor den Flüchtlingen" findet mittlerweile weit vor den nationalen Grenzen statt. Transit- und Herkunftsländer werden immer stärker finanziell einbezogen. Die Rückübernahme von Flüchtlingen lässt sich die EU etwas kosten. Dabei fließt das Geld Staaten zu, deren Menschenrechtssituation selbst häufig heikel ist. Als der Rechtspopulist Schill 2002 in seiner Funktion als Hamburger Innensenator anregte, afrikanische Staaten könnten mit Entwicklungshilfe belohnt werden, wenn sie abgelehnte Asylbewerber aufnähmen, die man nicht in ihr Herkunftsland zurückschicken könne, war die Empörung groß. Dieser Anstoß ist von europäischen Staatschefs, unter ihnen Schröder, in Sevilla 2002 leicht variiert worden: Dort reifte der Gedanke, die Entwicklungshilfe für Transit- und Herkunftsländer von Asylbewerbern zu kürzen. Auch ein Vorschlag Tony Blairs vom vergangenen Jahr, der ebenfalls Abschiebelager in afrikanischen Staaten anregte, wurde zunächst aufgeregt zurückgewiesen.

Doch auf EU-Ebene wird schon emsig an der Umsetzung gearbeitet. In einem maßgeblich vom noch amtierenden EU-Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit, dem Portugiesen Antonio Vitorino, ausgearbeiteten Papier spricht sich die EU-Kommission für die Prüfung von Asylanträgen und für die Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen in den jeweiligen Drittstaaten aus. Gemeint sind Länder, die in der Nähe von Krisenregionen liegen. Diese Länder sollen darin unterstützt werden, "stabile Anbieter eines wirksamen Schutzes zu werden". Zudem will die EU nordafrikanische Länder wie Marokko dafür gewinnen, dass sie Flüchtlinge aufnehmen, die in Europa abgewiesen wurden.

Derweil wagt Otto Schily einen besonders delikaten Vorstoß. Er schlägt vor, dass einzelne europäische Länder Patenschaften für afrikanische Länder übernehmen könnten. Dabei könne man sich an historischen Verbindungen orientieren. Schilys Idee von EU-Außenlagern in Afrika, wird durch die der Patenschaften noch in ihrem neokolonialen Gestus unterstrichen.

Mittlerweile ist Schily nicht nur Stichwortgeber der rechtspopulistischen Führungsriege Italiens. Die schafft noch vor jeglichen parlamentarischen Beschlüssen Tatsachen. Dass sich Libyen mittlerweile aus der Achse des Bösen freigekauft hat, ist dabei von Nutzen. Bereits seit zwei Jahren versucht Italien, dem libyschen Staatschef die Sicherheitsinteressen der EU ans Herz zu legen. In Tripolis haben Ministerpräsident Berlusconi und Libyens Staatschef Gaddafi nun vereinbart, dass italienische Streitkräfte ab Mitte September in libyschen Gewässern Flüchtlinge aufgreifen dürfen. Italien wird in der EU dafür sorgen, dass die Sanktionen gegen den ehemaligen Schurkenstaat alsbald aufgehoben werden, um die libysche Grenzpolizei entsprechend aus- und aufzurüsten.

Auch der ab 1. November für Flüchtlingsfragen zuständige EU-Kommissar, Rocco Buttiglione, ist von Schilys Auffanglager-Plänen angetan. Die EU arbeitet gerade an einer europäischen Grenzschutzbehörde. Deutschland ist an ihrem Aufbau wesentlich beteiligt. Buttiglione ließ kürzlich verlauten: "Es ist nicht wahr, dass irgendjemand das Recht hat, zu uns zu kommen. Dieses Land gehört vorerst den Europäern." Der künftig höchste Repräsentant der EU für Justiz stellt damit die Gültigkeit und Mindeststandards internationalen Rechts für Flüchtlinge in Frage.

Wie nützlich können Flüchtlinge sein?

Etwas später ließ Buttiglione verlauten, er wolle die Unterscheidung zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen zukünftig aufgeben. "Es geht in vielen Ländern nicht mehr um die Tyrannei der Politik, sondern die Tyrannei der Natur." Die Auffassung Buttigliones, man müsse Asyl auch denen gewähren, die aus wirtschaftlichen Gründen vor Hunger und Armut fliehen, sorgte mancherorts für Verwirrung. Die rechte Regierungskoalition unter Silvio Berlusconi schien sich nicht ganz einig in der Frage, wie nützlich Flüchtlinge denn nun eigentlich sein können. Die Lega Nord möchte strenge Einwanderungsbeschränkungen festgelegt wissen. Gegen die Bootsflüchtlinge vor Italiens Küste würde Lega-Nord-Minister Calderoli sogar mit Gewalt vorgehen. Die Berlusconi-Partei Forza Italia ist aber wirtschaftlichen Interessen gegenüber aufgeschlossen, zum Beispiel Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu verdingen. Offenbar hat Buttiglione mit seiner Äußerung nur der Forderung des italienischen Unternehmerverbandes Confindustria Ausdruck verliehen.

Denn der europäische Niedriglohnsektor verlangt nach billigen Arbeitsimmigranten, die ihre Arbeitskraft für ein paar Euro zur Verfügung stellen. Italien hat den Mangel an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor bislang über Quoten gelöst, die je nach Bedarf jährlich neu festgelegt werden. Denkt man etwas weiter, könnten nordafrikanische Lager mit dem Register, das sie über die Flüchtlinge anfertigen, sogar eine Dienstleistung anbieten. Wenn man ihre Daten den europäischen Unternehmen zur Verfügung stellte, könnte die Agrarindustrie die Zahl der benötigten Saisonarbeiter einfach anheuern.

Soweit ist der Menschenhandel von Staats wegen zwar noch nicht gediehen. Momentan beschäftigt man sich in erster Linie mit der "Sicherung der Außengrenzen". Für die sollen nach Ansicht des künftigen EU-Kommissars Buttiglione alle EU-Staaten aufkommen. "Mit ihrer teuren Küstensicherung leisten Spanien und Italien eine Dienstleistung auch für Länder wie Luxemburg", sagte Buttiglione. Doch wer zahlt, bestimmt mit, deshalb strebt der designierte EU-Kommissar eine "effiziente Koordinierung der europäischen Immigrationspolitik" an. Mit Immigration hat die freilich nicht viel zu tun, denn es geht dabei vornehmlich um die Finanzierung einer europäischen Grenzpolizei.


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