In ihrem vermutlich legendärsten Video schlendert die Schweizer Performance-Künstlerin Pipilotti Rist in einem geblümten Sommerkleid leichtfüßig an einer Reihe geparkter Autos vorbei und zerdeppert wie nebenbei mit einer riesigen Kunstblume reihenweise Autoscheiben. Vielleicht kann man Rists ironisches Spiel, ihre subversive Anarchie unter Einsatz weiblicher Reize zu dem humorvollen Blick einer jüngeren Generation von Künstlerinnen zählen, die ein neues Verständnis von Weiblichkeit entwickelt haben. Dazu gehört es wie selbstverständlich, weibliche Erotik zu thematisieren, sie bisweilen ins Schrille zu überzeichnen, den weiblichen Körper aber auch irritierend schonungslos zu analysieren. "Für mich sind Frauen wie eine Tierart, die ich untersuche. Ich bin eigentlich Zoologin und spezialisiert auf die Kultur der Frau," sagt Rist.
Auch der sieben Jahre jüngeren Schriftstellerin Dace Ruksane, gelernte Biologin, kann man einen gewissen "zoologischen" Blick nachsagen. Kaum jemand kennt das kleine flache Lettland am dünenumsäumten Meer, aus dem sie kommt. Ihre ersten Romane aus dem Jahr 2002 haben dort für einige Aufregung gesorgt, vor allem wegen des offenen Umgangs mit Erotik. Einen etwas anderen Akzent setzt Ruksane in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman Warum hast du geweint: Es geht um das Erwachsenwerden. Katrina ist ein Vorstadtmädel aus dem Riga der achtziger Jahre, für die eine sommerliche Alpinisten-Reise in die kaukasischen Berge der UdSSR mit ihren gewaltigen Fünftausendern einen vierwöchigen Ausbruch aus der Enge des Elternhauses verspricht. Das tolpatschige, trödelige Mädchen, das "auf Schulfeten kein einziger Junge zum Tanzen auffordert", und das sich Geld im Schweinestall verdient - in den sowjetischen Bergen kann es sich frei fühlen. "Ein Monat konzentriertes Paradies, elf Monate verdünnte Existenz." Katrina fühlt sich von der machohaften Männerwelt der russischen "Instruktoren" (Bergführer) angezogen, und verliebt sich in den wesentlich älteren Instruktor Oleg, der sie "Krümelchen" nennt.
In den schroffen Bergen Nordossetiens ist die Liebe leidenschaftlich, gläubig und zerbrechlich. Oleg verspricht ihr: "niemals-werde-ich-dir-weh-tun", und sie weiß insgeheim, dass er es doch tun wird. Aber im Hier und Jetzt der Bergwelt "erlaubt sich jeder, wirklich jeder zu glauben, daß das Paradies ewig ist, es hatte keinen Anfang, es wird kein Ende haben, es wird sich fortsetzen und fortsetzen, denn die Berge sind ewig, die Liebe ist ewig, und so hat es immer zu sein." Gleich drei Mal wird Katrina von ihrem väterlichen Liebhaber aus lebensbedrohlichen Situationen gerettet. Jedes Mal beobachtet die junge Frau im Moment der Gefahr mit eher distanziertem Interesse die Verletztlichkeit ihres Körpers, die sie wenig zu beeindrucken scheint. In dieser rohen Welt hat Katrina gleichzeitig ihre lustvollsten und zärtlichsten Erlebnisse: "Olegs Lippen schmecken nach Honig. Olegs Hals duftet nach Bienenstock. Oleg hat einen klebrigen Bauch und süße Leisten. ... Oleg klebt an Katrina fest und geht nicht mehr ab." Wenn die Ich-Erzählerin in die dritte Person wechselt, steht ein kleines Mädchen da, das noch nicht "Ich" sagen kann und dafür den Eigennamen setzt. Ruksane legt ihr eine kindliche, verspielte Sprache in den Mund. "Warum hast du geweint?", fragt er beim Abschied. Erst als die Katrina auf der Heimreise ihren Oleg zufällig mit seiner Familie sieht, entgeht sie der Enttäuschung nicht mehr.
Wieder im elterlichen Haus durchlebt sie eine schwere Lungenentzündung und qualvollen Liebeskummer, erholt sich nur langsam und kehrt in das alltägliche Leben zurück. Mit ihrer geliebten kleinen Schwester kabbelt sie sich von Zeit zu Zeit, teilt mit ihr alle Geheimnisse, spielt mal die ältere Ratgeberin, bewundert aber auch insgeheim die Taffheit der jüngeren Schwester. Dann sterben in kurzer Zeit zwei von ihren russischen Bergfreunden. Als die Eltern sich trennen, realisiert Katrina ihre fehlende Nähe zur Mutter, deren tiefe Einsamkeit sie nicht mehr durchdringen kann. Die Mutter stürzt sich schließlich von der Eisenbahnbrücke.
Katrina fällt in eine tiefe Depression. "Jetzt, da Mama tatsächlich tot ist, kann ich fast nichts spüren. Leere. Ich stehe neben ihrem Sarg und weine darüber, daß tatsächliches Leid nicht im entferntesten jenen Emotionen der Kindheit gleicht, die mich in ihre Gewalt nahmen, ohne den geringsten Raum für etwas anderes zu lassen. Keine Spur von Verbitterung, Bedauern, Zorn, kein bißchen Schuldgefühl. Nur unendliche Leere und ausgedörrter Wind in der Kehle." Ein paar Mal ruft Katrina Oleg noch an, er bittet sie um Verzeihung, wechselt schließlich die Telefonnummer.
Dann kommt in Lettland der politische Umbruch. Die Sowjetunion zerfällt. Droht dem kleinen baltischen Staat ein Krieg? Katrina erlebt die Wende auf dem Land, bei ihrem Vater. Hand in Hand verfolgen sie vor dem Fernseher die Ereignisse. Die Freiheit, auf die jetzt Aussicht besteht, verbindet sie - anders als ihr Vater - nicht mit überschwänglichen Hoffnungen. Unter Freiheit versteht die Tochter etwas anderes. "Seine Unfähigkeit zu lieben, wie ich die Liebe verstehe, stellt alles auf den Kopf, was uns verbunden hat." Der Roman erzählt nicht zuletzt auch von der zwanghaften Liebe zu einer Stadt: "Ich bin eine Stadtgöre, und alles, was mir angetan wurde, gebe ich Riga zurück. Riga hat mich erschaffen, verschlungen, zermalmt und wiedergekäut."
So schonungslos wie Pipilotti Rist mit ihrer Schlagstockblume auf Autos eindrischt, geht Dace Ruksane nicht vor. Wo Rist eine widerständige Akteurin zeigt, lässt Ruksane ihre Protagonistin noch in der Passivität verharren, die einer verlorenen Kindheit nachtrauert und den Schmerz des Erwachsenwerdens behütet. Doch im Raupenkokon steckt Power, der lakonische Humor gibt darauf Hinweise. Das mädchenhafe, manchmal nervige Geplapper, das weite Strecken des Romans bestimmt, mündet am Ende in einen schwermütigen Monolog, der eine desorientierte Gefühlswelt offenbart. Das unermüdliche Schwatzen hat schließlich die therapeutische Aufgabe, den Schmerz zu überwinden. Rists und Ruksanes unterschiedliche Weiblichkeitsentwürfe treffen sich dort, wo die Protagonistinnen individuelle Freiheitsvorstellungen entwickeln. Katrina wendet sich von der Männerwelt der Berge ebenso ab wie von den Freiheitsfantasien ihres Vaters. Dass sie ihr "Paradies" verloren hat, muss für sie nicht tragisch enden - sie wird sich im Schreiben versuchen.
Dace Ruksane: Warum hast du geweint. Roman, aus dem Lettischen von Matthias Knoll, Ammann Verlag, Zürich 2007, 256 S. 19,90 EUR
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