Für einen langen Augenblick hat Joachim Bischoff aus Hamburg Sympathie und Zustimmung im ganzen Saal. Dieser Moment ist einer der wenigen auf dem WASG-Parteitag in Ludwigshafen, in dem die Delegierten nicht in zwei etwa gleich große Blöcke zerfallen: eine Gruppe, die den Fusionsprozess mit der Linkspartei zügig vorantreiben will und dabei Hindernisse wie parteiinterne Konflikte mit strengen Mitteln auszuräumen versucht, und eine, die unbedingt alle mitnehmen will, das Agieren der Linkspartei in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern mindestens skeptisch beobachtet und sich für die Fusion eher noch ein bisschen Zeit lassen will. Die erste Gruppe, für die führende Parteimitglieder stehen, die in der Bundestagsfraktion sitzen, hat sich am Wochenende durchgesetzt. Bischoff, selbst ehemaliges Mitglied der PDS, hätte lieber das Fusionstempo ein wenig gedrosselt, und erntet viel Applaus, als er beklagt, dass sich nun auch ein schlechter politischer Stil durchgesetzt habe. Er kritisiert vor allem das Entscheidungsverfahren und meint, dass nach einer mehrstündigen Debatte "plötzlich das hohe Personal der Fraktion aus dem Busch kommt". Er spricht von "strategischen Unterbelichtungen" und von einer "tiefgreifenden Beschädigung" der WASG. Am Vortag hatte der Parteitag entschieden, einen eigenständigen Antritt der Landesverbände Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zu den Senats- beziehungsweise Landtagswahlen im Herbst zu missbilligen, und - falls die Wahlanzeigen nicht zurückgezogen werden - eventuell "Maßnahmen" zu ergreifen, um einen eigenständigen Wahlantritt zu unterbinden. Mit Joachim Bischoff treten auch Sabine Lösing und Björn Radke vom Bundesvorstand zurück. Diese Rücktritte hätten die meisten Delegierten gern verhindert. Fast fließen Tränen, als Einzelne versuchen, die Betreffenden noch davon abzubringen. "Joachim, du bist unser Intellektueller!", erklärt einer, und ein anderer: "Wir brauchen euch gegen eine Politik der Erpressung, als Gegengewicht für vieles, was aus der Fraktion kommt."
Doch die drei Vorstandmitglieder bleiben bei ihrer Entscheidung. Sie lehnen zwar Konkurrenzkandidaturen gegen die Linkspartei ab, wollen aber einen Verzicht auf administrative Maßnahmen und müssten nun einen Beschluss durchsetzen, hinter dem sie nicht stehen. Vielleicht wird vielen Delegierten jetzt erst bewusst, wogegen sie sich am Vortag entschieden haben: dem Fusionsprozess etwas mehr Zeit zu geben und die Konflikte, die sich an den Regierungsbeteiligungen der Linkspartei.PDS festmachen, sowohl innerhalb der WASG als auch mit der Linkspartei in intensiven Debatten auszutragen.
Was war bis dahin passiert? Oskar Lafontaine hält zum Auftakt eine engagierte Rede, wie man sie von ihm erwartet, findet deutliche Worte gegen Raubtierkapitalismus und Kriege, die zur Sicherung von Rohstoffquellen geführt werden, und für einen Erhalt und eine Erneuerung des Sozialstaats. Er zitiert Rousseaus Begriff von menschlicher Freiheit, der beinhaltet, die Schwächeren in einer Gesellschaft durch Regeln und Gesetze zu schützen, sieht die Linke als eine Freiheitsbewegung, auch für politische Freiheit - unvermeidlich, an dieser Stelle Rosa Luxemburg zu zitieren: "Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden." Er wendet sich strikt gegen eine Veräußerung öffentlichen Vermögens, plädiert sogar für eine staatliche Regulierung der Energiepreise und der Basis-Zinssätze. Von Frankreich könne die Linke lernen, dass man sich erfolgreich gegen ein die Arbeitnehmerrechte einschränkendes Gesetz wehren kann, und fordert ebenfalls ein Recht auf Generalstreik in Deutschland. Zum Thema Berlin sagt er: "Wir wollen mit der Linkspartei eine Partei bilden, nicht mit der Berliner Linkspartei."
Lafontaine erhält großen Applaus, aber auch Buh-Rufe für seine Haltung zum Fall Berlin. Bereits im Vorfeld des Parteitags hatten führende Mitglieder der Bundestagsfraktion wie Oskar Lafontaine, Klaus Ernst und Ulrich Maurer mit der Spaltung der Partei gedroht und gefordert, die Partei müsse sich sehr deutlich gegen diese Wahlantritte positionieren. In der anschließenden Aussprache machen sich viele Luft. Die einen sind der langen Debatten müde, wollen endlich "Politik machen". Die anderen sehen es als erforderlich, in den Streit über Regierungsbeteiligungen erst richtig einzusteigen, lehnen einen Generalsekretär ab, der "wie zu Honeckers Zeiten" von oben nach unten eine Generallinie durchsetzt. Die Linkspartei wird offenbar verdächtigt, noch diese Strukturen zu besitzen. Ulrich Maurer, Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, fordert null Toleranz mit dem Landesverband Berlin, warnt eindringlich, ein eigenständiger Antritt gäbe den Gegnern Waffen in die Hand. Falls sich das durchsetzen würde, müssten am Ende alle WASG-Bundestagsabgeordneten in die Linkspartei eintreten. "Ein toller Erfolg für die WASG." Würde Maurer das also für schlimm halten? Zeugen auch seine Worte von Konkurrenzgefühlen gegenüber der Linkspartei.PDS? Maurer wird entgegengehalten, der Alarmismus, den er verbreite, sei nicht notwendig. Die Glaubwürdigkeit erfordere es, die Berliner Urabstimmung für einen eigenständigen Wahlantritt der WASG in der Hauptstadt zu akzeptieren, auch wenn man eine Konkurrenzkandidatur nicht für vernünftig halte. Dann wieder eine Gegenstimme: Der Berliner Landesverband habe sich in eine Sackgasse manövriert, wolle eine Splitterpartei, niemand verstehe, wenn man agiere wie im Boxring. Aber auch: Die Freiheit der Andersdenkenden müsse auch für die Berliner gelten. Das Votum der Delegierten kann zu diesem Zeitpunkt niemand voraussagen. Noch am Nachmittag vor der spätabendlichen Entscheidung sind viele unentschlossen, wissen nicht eindeutig zu beurteilen, ob ein eigenständiges Antreten wirklich dem Fusionsprozess schadet oder den Status der Bundestagsfraktion gefährdet.
Nach etwa vier Stunden beschließen die Delegierten ein ziemlich abruptes Ende der Debatte. Erfahrene Manager solcher Versammlungen wissen, dass geschickt platzierte Geschäftsordnungsanträge nicht nur die Dramaturgie eines Parteitags, sondern auch Entscheidungen beeinflussen können. Etwas überraschend wird der Initiativantrag von Oskar Lafontaine zur Abstimmung vorgezogen. Nachdem dieser in einer hitzigen Atmosphäre mit etwa 60 zu 40 Prozent der Stimmen durchgeht, können die übrigen Anträge als hinfällig betrachtet werden, auch der von Joachim Bischoff.
Der Parteitag segnet damit einen strikten, aber auch klaren Beschluss ab. Niemand kann sich über diffuse Formulierungen beklagen. Die Landesverbände von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern werden aufgefordert, ihre Wahlanzeigen zurückzuziehen. Ergänzt wird lediglich: "Parteiausschlüsse und eine Auflösung des Landesverbandes sollten vermieden werden". Einige Delegierte bezeichnen das Abstimmungsprozedere später als Brachialmethode, fühlen sich von Verfahrenstricks übertölpelt. Doch sie kommen nicht daran vorbei, dass es sich um ein demokratisch erzieltes Ergebnis handelt.
Ob jemand in fünf Jahren noch wissen wird, wofür das Kürzel WASG einmal stand? Dann gibt es möglicherweise eine vereinigte Linke, von deren Vorgänger-Parteien eher die PDS im Gedächtnis bleibt. Doch im Moment wollen die Mitglieder der WASG nicht einfach von der wesentlich größeren Schwesterpartei aufgesogen werden, ringen um eine eigene Identität und möchten sich teuer verkaufen. Ihr rasches Wachstum auf derzeit 12.000 Mitglieder haben sie allerdings wohl mehr der Perspektive einer geeinten Partei links der SPD zu verdanken als ihrem Beharren darauf, glaubwürdig sein zu wollen. Die WASG versammelt viele Bewegungslinke mit wenig Verständnis für die Interessen einer Partei und manche Altlinke, die schon häufig Parteien verlassen haben, weil sie keine Kompromisse machen wollten. Einige der über das Ergebnis Missmutigen wollen nun eine innerparteiliche "Opposition" gründen, einen Termin gibt es bereits. Fraglich, ob Bischoff dort dabei sein wird. Klar ist, seinen Abgang will er keinesfalls als Abschied verstanden wissen und kündigt mit Blick auf die Parteiführung schon an: "Ihr werdet euch wundern, was von uns noch kommt."
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