Die Zukunft gehört allen

Reform Die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen fordert eine Schule für alle. Viele Sonderschulen werden früher oder später schließen müssen

Im kleinen schottischen Städtchen Dingwall mit seinem 8.000 Einwohnern werden an der allgemeinbildenden Schule Gehörlose und stark hörgeschädigte Kinder gemeinsam mit allen anderen Kindern unterrichtet. Vollkommen selbstverständlich lernen alle Schüler die Gebärdensprache, die dort als ganz normale Zweitsprache betrachtet wird. Dabei bekommt jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, die Unterstützung, die es für seine individuelle Lernentwicklung braucht. Wer besondere Hilfen benötigt, besucht zeitweise separat spezielle Unterrichtseinheiten.

In Dingwall geht es nicht nur um die Integration von Kindern mit verschiedenen Arten von Behinderungen. Hier gelingt wie selbstverständlich seit vielen Jahren etwas, dessen Idee hierzulande zwar bekannt ist, sich aber doch nicht durchgesetzt hat: die „inklusive Schule“. Eine Logopädin aus dem Ort beschreibt den Gedanken, der dahinter steht: „Wir glauben, dass das gemeinsame Leben und Lernen ganz unterschiedlicher Kinder, hörender wie gehörloser, hochbegabter wie langsam lernender, die besten Anregungen sowohl hinsichtlich der Sprache als auch der kognitiven Entwicklung bietet.“ Der Erfolg gibt ihnen recht. Von der verblüffend einleuchtenden Praxis der schottischen Schule ganz beseelt, berichtete der Hamburger Erziehungswissenschaftler Karl Dieter Schuck bereits Mitte der neunziger Jahre wie in Dingwall das scheinbar Unmögliche funktionieren kann.

Restschulen für Schwierige

Was in den schottischen Highlands bereits damals Normalität war, wird sich auch hierzulande mehr und mehr durchsetzen. Denn Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenkonvention verpflichtet, ab sofort allen Kindern den Besuch einer allgemeinbildenden Schule zu ermöglichen. Artikel 24 der englischsprachigen Konvention birgt den Begriff „inclusive education“, den man nach einigem hin und her abschwächend als „inte­gratives Bildungssystem“ übersetzt hat. Ein Lehrer erklärt den Unterschied so: „Inte­gration bedeutet, ein Kind passt sich der Schule an. Inklusion bedeutet, die Schule passt sich dem Kind an.“ Das Regelwerk der UN müsste genau genommen nicht weniger als die ganze deutsche Bildungslandschaft umkrempeln und aus ihrem schulpolitischen Dornröschenschlaf wecken. Denn es räumt mehr als alle bisherigen Gesetze Behinderten ein unumstößliches Recht auf den Besuch einer Regelschule ein. Dafür muss man die pädagogischen Konzepte ändern. Nur hier und da einen Behinderten aufnehmen und ihm einen Erzieher beiseite stellen, reicht nicht. Es geht um mehr: um inklusive Schule, die alle Kinder einschließt, also jedes Kind als unbedingt zugehörig einbezieht.

Es ist gewiss kein Zufall, dass die Länder, die beim Pisa-Test regelmäßig besonders herausragend abschneiden, seit vielen Jahren behinderte und nicht-behinderte Schüler gemeinsam unterrichten. Länder wie Kanada und Schweden haben vor etwa 30 Jahren eine eindeutige bildungspolitische Entscheidung getroffen und die Separierung von Kindern in Sonderschulen für Lern-, Körper- und Geistigbehinderte weitgehend abgeschafft. In New Brunswick gibt es wie in den meisten kanadischen Provinzen seit Ende der achtziger Jahre keine Sonderschulen mehr. Der dortige Schulinspektor Gordon Porter berichtet, dass man diesen Weg nicht widerstandslos gehen konnte. Viele Sonderpädagogen und Schulleiter befürworteten starrsinnig die separate Schulform für Behinderte und lehnten gemeinsamen Unterricht für alle ab. Doch irgendwann setzten sich die inklusiven Schulen durch und galten schließlich als Beispiele für das bessere Konzept.

Während auch in vielen europäischen Ländern über 80 Prozent der als behindert eingestuften Kinder eine allgemeine Schule besuchen, ist das Verhältnis hierzulande genau umgekehrt. Von den 480.000 deutschen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden nur 14 Prozent integrativ unterrichtet, die restlichen 86 Prozent besuchen eine Sonderschule. Diese Kinder werden in der gesamten Debatte um Haupt- und Problemschulen immer gerne vergessen. Dabei sind Sonderschulen die eigentlichen Resteschulen, denn der überwiegende Teil von ihren Schülern ist nicht taub oder blind: zwei Drittel der Sonderschüler haben Lern- oder Sprachschwierigkeiten oder Probleme bei der sozialen oder emotionalen Entwicklung. Viele sind Problemschüler, die aus dem Schulalltag der „normalen“ Schulen herausfallen und von genervten Lehrern aussortiert werden, weil sie den Unterrichtsablauf stören. Denn unser Schulsystem lässt es zu, dass schwierige Kinder, die häufig aus finanziell schwachen familiären Verhältnissen kommen, von der Regelschule „nach unten“ durchgereicht werden können.

Kinderköpfe wie Blumentöpfe

Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Irmtraud Schnell kritisiert, dass noch immer in vielen Köpfen die Meinung vorherrsche, „am besten lerne man unter Seinesgleichen, möglichst in kleinen Gruppen“. Dabei geht aus zahlreichen Untersuchungen hervor, dass sogenannte Lernbehinderte in Sonderschulen viel schlechter lernen als in Regelschulen. Inklusion ist dabei ein wechselseitiger Prozess: Auch die Nicht-Behinderten haben etwas von der inklusiven Schule. Sie lernen, wie man den schwächeren Mitschülern hilft und haben Erfolgserlebnisse, wenn sie anderen etwas beigebracht haben.

Auch hierzulande gibt es natürlich best practice-Beispiele inklusiver Schulen, wie die Bugenhagenschule in Hamburg-Alsterdorf, die vor kurzem eine Zweigstelle in Hamburger Vorort Blankenese eröffnet hat. Eltern von behinderten und nichtbehinderten Kindern rennen dieser Schule förmlich die Türen ein, denn sie hat einen hervorragenden Ruf. Als integrative Gesamtschule setzt die Bugenhagenschule anstelle von belehrender Wissensvermittlung auf „eigenständiges Lernen in Projekten, offene Unterrichtsformen und individuelle Begleitung“. Die Rolle der Lehrer wird neu definiert. Sie füllen nicht mehr das Wissen in die Kinderköpfe hinein wie Erde in Blumentöpfe, sondern sind nur noch Begleiter und Berater auf dem jeweils sehr individuellen Lernweg. Mit einem solchen Konzept haben viele Lehrer ihre Schwierigkeiten. Denn man muss ein besonderes Vertrauen in die Schüler besitzen, dass sie aus eigenem Antrieb ihre Wege finden. Und nach wie vor müssen in der Ausbildung Referendare durch die „alte Schule“: Lernziele formulieren und über Klassenarbeiten wie gewohnt Lernerfolge abprüfen. Zwar sind einzelne Bundesländer mit der Integrationsquote schon relativ weit, wie Bremen mit 45 Prozent oder Schleswig-Holstein mit 32 Prozent, verglichen mit Schweden, das 96 Prozent der Förderschüler integriert hat, ist sie aber noch niedrig. Für Länder wie Niedersachsen (Integrationsquote 4,6 Prozent) und Sachsen-Anhalt (5,5 Prozent) ist Inklusion nicht mehr als ein Begriff aus der Mineralienkunde.

Aber nicht nur Lehrer tun sich schwer, auch viele Eltern sind der Ansicht, dass Kinder in homogenen Lerngruppen besser lernen – sie befürchten, dass Schüler mit besonderen Schwierigkeiten die ganze Gruppe ausbremsen. Diese Vorstellung liegt wie ein dichter grauer Schleier seit vielen Jahren über der deutschen Bildungslandschaft. Manche Eltern von behinderten Kindern denken, ihre Zöglinge müssten geschützt werden vor dem normalen Schulalltag, sie seien dort Leistungsansprüchen ausgesetzt, die sie sowieso nicht erfüllen können und erlitten am Ende sogar Ausgrenzung durch die Mitschüler. Dass diese Kinder außerhalb der Schule stigmatisiert werden, ist die Kehrseite dieser Vorstellung. Deshalb kämpfen andere wiederum dafür, dass ihre Kinder die Regelschule besuchen können. Sie müssen oft ihr Recht einklagen. Und immer wieder wird von den Gegnern der „Schule für alle“ vorgerechnet, die Kosten seien nicht zu bewältigen. Behinderte Schüler bräuchten Integrationslehrer und teure individuelle Unterstützung. Doch rechnet man nach, wendet sich dieses Argument wiederum gegen die Sonderschulen. Denn sie beschäftigen die am höchsten dotierten Lehrer und versagen doch bei der Förderung: 80 Prozent ihrer Jugendlichen verlassen die Sonderschule ohne Abschluss. Dies allein ist bereits ein bildungspolitischer Offenbarungseid.

In ein paar Monaten wird Vernor Muñoz erneut die Bundesrepublik besuchen. Als der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung vor drei Jahren erstmals nach Deutschland kam, kritisierte er scharf die frühe Trennung der Schüler im gegliederten deutschen Bildungssystem sowie die Diskriminierung von Schülern mit Behinderungen und mit Migrationshintergrund. Nun, nachdem die Bundesrepublik im Dezember die UN-Behindertenkonvention unterzeichnet hat, steigt der Druck. Will man Vernor Muñoz bei seinem Besuch im Juni 2009 wenigstens zeigen, dass man auf dem richtigen Weg ist, müssten jetzt Schritte getan werden, die Ausgrenzung der Behinderten zu beenden.

Das überwacht die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention in Deutschland. Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen () verwendet den Begriff integratives Bildungssystem. Im englischen Original der Konvention steht der Begriff inclusive education, der ist auf der Seite der Vereinten Nationen einsehbar, auf die Bildung bezieht sich der Artikel 24. Dort gibt es weitere Informationen zum Ratifizierungsprozess und zu den weiteren Zielen der Konvention. Beim Institut für Menschenrechte kann man sich eine herunterladen zum Thema: Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung. Exklusionsrisiken und Inklusionschancen.Deutsche Institut für Menschenrechtedeutschsprachige ÜbersetzungTextStudie

Bei kann man nachlesen, wie der Begriff Inklusive Pädagogik entstand. Aber auch bei der gibt es Infos zum Begriff. Die treibt die bildungspolitischen Ziele, die aus der UN-Behindertenkonvention hervorgehen mit der Kampagne voran. Sie lobt in diesem Jahr erstmals gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung einen Schulpreis aus: Den , für den sich Schulen noch bis März 13. bewerben können. Wer sich mehr mit dem Weg Kanadas zur inklusiven Schule beschäftigen will, kann auf die offizielle kanadische Homepage der gehen. Der schottische Weg zu wird von der Organisation Learning and Teaching Scotland im Auftrag der Regierung unterstützt.WikipediaLebenshilfeBehindertenbeauftrage der BundesregierungAlle inklusiveJakob-Muth-Preis für inklusive Schuleinitiative for inclusive educationinclusive education

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