Jedes Mal, wenn Datensammler Überwachung rechtfertigen, zeigen sie mit dem Finger auf besonders schlimme Delinquenten. Wie wurde nicht bereits das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ausgehebelt, um Kriminalität und natürlich Terrorismus zu bekämpfen. Doch groß angelegte Rasterfahndung führt nicht dazu, der Straftäter habhaft zu werden, seien sie nun potenzielle oder reale Kriminelle. Der Berliner Senat weitet nun die Argumentation der massenweisen Datenerhebung zwecks Kriminalitätsverfolgung auf Minderjährige und junge Erwachsene aus: Schulschwänzer und straffällig gewordene Schüler sollen mit der zentralen Schülerdatei besser ausfindig gemacht werden. Das Abgeordnetenhaus hat die zentrale Erfassung der Schülerdaten am Donnerstag vergangener Woche für Berlin beschlossen. Das ist ungefähr so wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Neben allgemeinen Angaben (Name, Adresse) werden auch persönliche Daten über Gesundheit, Förderungswürdigkeit und Sprachkenntnisse erfasst sowie Daten von Eltern und Lehrern.
Falsch gerechnet?
Das zweite Argument für eine zentrale Schülerdatei ist, man könne so besser den Lehrerbedarf ermitteln. Auf den von der GEW seit Jahren prognostizierten Lehrermangel hätte man sich allerdings vorbereiten können. Nun tut man so, als sei eine Schülerdatei notwendig, um den Lehrerbedarf zu berechnen. Die Schülerdatei ist vielmehr eine klassische Ersatzhandlung für etwas, was man versäumt hat oder fürchtet, zukünftig anzupacken, weil es Kosten verursacht. Warum erkundigt sich der Bildungssenator nicht einfach bei seinen Mitarbeitern im Senat, die für diese Kalkulations-Tätigkeit ausgebildet sind? Oder geht notfalls zur GEW, die offenbar bessere Mittel zur Berechnung hat? Der Bildungssenator steht in Verdacht, das Personal an Schulen nur noch knapper kalkulieren zu wollen. Leider beseitigt man Lehrermangel nicht dadurch, dass man ihn immer wieder von neuem feststellt.
Verbrecherkartei für Schüler
Bereits seit fünf Jahren wird über eine zentrale Schülerdatei diskutiert. 2006 nahm sich die Kultusministerkonferenz des Themas an. Die Datenbank wurde ursprünglich republikweit in Erwägung gezogen, doch einzelne Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen lehnten den „gläsernen Schüler“ schnell ab. Datenschützer und die GEW stellten sich dem Vorhaben entgegen. Bayern war dem Plan eher zugetan, unterschätzte aber die Elternproteste. Die bayrische Elternbeiratsvorsitzende nannte eine solche Datei eine „Verbrecherkartei für Schüler“. Aber die dortige CSU findet es vorteilhaft, dass man so die gesamte Bildungskarriere von Schülern verfolgen kann. Jeder Schüler soll demnach eine Identifikationsnummer erhalten, die ihn vom Kindergarten bis zum Studium begleitet. Einer landesweiten Registrierung könnte schließlich eine bundesweite Datenbank folgen, so die kühnsten Träume der Datenjunkies. Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Jugendämter sollen zugreifen können.
Bittere Proteste
Es ist schon erstaunlich, wie wenig Eindruck die Datenskandale der letzten Zeit hinterlassen. Fröhlich beschließt man in Berlin indessen die Schullaufbahn von Heranwachsenden zu dokumentieren. Es hagelt bittere Proteste von empörten Eltern und Boykottaufrufe. Man kann darauf warten, wer es als erstes schafft, die geplante Anonymisierung zu knacken. Schlimm genug wäre es, wenn dies einem geschickten Schüler gelänge, der die Daten ins Internet stellt, um damit ein paar Mitschüler zu ärgern. Die Schülerdaten drücken den Kindern dann bereits einen Stempel auf. Denn das Internet vergisst bekanntlich nie. Ein möglicher späterer Personalchef könnte sich dann über bestimmte „Schulversager“ briefen.
Kommentare 8
Ach ja, das altbekannte Prinzip: In Zeiten wirtschaftlicher Not, in Zeiten, in denen die Verhältnisse zerbrechen, versucht man eben die Bevölkerung mit dem Prinzip des Panopticons einzuschüchtern. Alles wird gespeichert, alles kann auf ewig gegen Dich verwendet werden! Setze also schon einmal schnell die Zensurschere im Kopf ein, die ohnehin sehr viel effektiver als die eines jeden wahrhaftigen Zensors ist!
schon eigenartig, wie man in kaum einen Bereich der Gesellschaft mehr andere Wege sieht, als Disziplinierung, Kontrolle, Sanktionen. Hier muss ein gewaltige Brise autoritären Charakaters in die Amtsstuben wehen. Trimmen, auf Trab bringen, folgen und fleißig sein, wehe dem, der aus der Reihe tanzt. Der wird sanktioniert bzw. wie es heute heißt: angereizt. Die Metaphysik des Anreizmenschen, der sich bei seiner eigenen Anreizung durch äußere Anreizsysteme noch applaudierend zuschaut, feedbackt, wo die Anreize Wirkung zeigen, merkt nicht, dass er sich dabei für seine eigene Unterdrückung anreizt und fleißig attraktiv macht. Kinder können das alles sowieso nicht merken. Aber wenn es Erwachsene auch nicht merken oder es sich nichgetrauen zu sagen. Und wer es sich dann eingerichtet hat, darf dem postmodernen anything goes frönen. Darum ist es ohnehin schon wieder recht ruhig geworden.
Zwei Dinge, die mir in dem Artikel von Connie Uschtrin fehlen:
1. Mit neuen Computersystemen kann man eine Menge Geld verdienen. Politiker verstehen außerdem meist wenig von Technik. Von wem stammen eigentlich die Vorschläge für die Schülerdatenbank? Gibt es hier Stiftungen, Firmen oder Personen, die man nennen kann?
2. Was sagt eigentlich unsere liebe Partei "Die Linke" zu all dem? Sie sitzt doch in Berlin in der Regierung, oder nicht?
zu 2.
Teile der Linken im Abgeordnetenhaus haben wohl dagegen gestimmt, Linken-Dompteur Wowereit hat sich die fehlenden Stimmen dann von der CDU geholt. Wechselnde Mehrheiten also, erst kürzlich in Hessen von den Konservativen incl. medialem Gefolge noch als beinahe Teufelswerk gebranntmarkt ist hier wohl hoffähig; nützt es doch einem "guten" Zweck.
@ ebertus: Danke für die Information. Freilich bleibt die Linke natürlich in der Koalition, denn 'man kann da ja noch immer mehr als in der Opposition bewegen', 'die Realpolitik fordert nun manchmal Zugeständnisse', und so weiter, und so weiter!
Äußerst nützlich ist das natürlich für die FDP, die schon lange entdeckt hat, dass man die hässliche neoliberale Haut sehr schön durch bunte, individual-freiheitliche Kleidung verdecken kann!
@schackerbilly: Frage 2: Was die Linke in Berlin dazu sagt, kann man am Protokoll der betreffenden Sitzung im Abgeordnetenhaus vom 19.02. nachlesen.
http://www.linksfraktion-berlin.de/index.php?id=9571[tt_news]=12026[backPid]=0=1
Die Partei sagt es so: „DIE LINKE Berlin hält daher die Einrichtung einer automatisierten Schülerdatei für berechtigt, solange und soweit sie in diesem Sinne zur der Verbesserung der Schulorganisation und der Umsetzung der Schulpflicht dient und nicht zu andern Zwecken, etwa der individuellen Erfassung von Bildungskarrieren oder strafrechtlichen Ermittlungen, eingesetzt werden kann.“ Sie wollen in einen "intensiven Dialog mit den Betroffenen und dem Datenschutzbeauftragten zu treten". Dazu haben sie ja heute bei der Demo gegen die Schülerdatei um 16 Uhr vor dem Bildungssenat die Gelegenheit.
Zur Frage 1: Das werde ich noch versuchen zu recherchieren, danke für die Anregung.
@ Connie Uschtrin : Vielen Dank für diese Auskunft und das Interesse. Zumindest in Hessen scheint man bislang computertechnisch auf das Programm LUSD der Firma CSC, gekoppelt mit SAP/R3-HR der Firma SAP zu setzen:
http://www.mathiaswagner.de/cms/bildung/dokbin/145/145370.kleine_anfrage_und_antwort_betreffend_un.pdf
http://bildungsklick.de/pm/55297/grundlegende-ueberarbeitung-der-lehrer-und-schuelerdatenbank-lusd/
Wie die Verhältnisse in Berlin sind, weiß ich leider nicht.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde den Bericht nicht besonders informativ.
Die folgende Passage erweckt durch das Präsens zudem den Eindruck, das Thema sei in Bayern noch nicht vom Tisch:
[Zitat]Aber die dortige CSU findet es vorteilhaft, dass man so die gesamte Bildungskarriere von Schülern verfolgen kann. Jeder Schüler soll demnach eine Identifikationsnummer erhalten, die ihn vom Kindergarten bis zum Studium begleitet.[/Zitatende]
Im vorigen Monat war aber zu lesen, dass die CSU-Pläne durch den geheimen Teil des Kolationsvertrages mit der FDP gegenstandslos sind und die Eltern ihre Verfassungsbeschwerde jetzt ruhen lassen.
http://www.elternbeirat-gg.de/?cat=12
Hätte sie da mitgemacht, hätte Frau Leutheusser-Schnarrenberger ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Schließlich hatte sie sich gerade bundesweit als Kritikerin der neuen Datensammelwut profiliert. Ich halte die Information deshalb für glaubwürdig und die präsentische Behauptung des Freitags für zweifelhaft. Ein neuer Erkenntnisstand hätte zumindest begründet werden müssen.