Schule als Lebensort kultivieren

Unterricht anders denken Der Umbau zur Ganztagsschule erfordert ein ganz neues Konzept. Eine neue Kultur des Lernens und Arbeitens muss entwickelt werden. Darin steckt eine große Chance

"Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein Kind zu verlieren." Mit diesen Worten stellt Andreas Schleicher, der OECD-Koordinator für Bildungsanalysen, eine eindeutige Beziehung zwischen der langfristigen ökonomischen Entwicklung eines Landes und der Investition in Bildung her. Gerade vor dem Hintergrund seiner Altersstruktur und dem Mangel an Fach- und Führungskräften wird Deutschland nicht über das Mittelmaß im internationalen Vergleich hinauskommen, wenn das Land es nicht schafft, im Bildungsbereich Chancengerechtigkeit herzustellen. So sprechen heute Bildungsexperten, die nicht nur die Zahlen ernst nehmen, sondern die Stärken und Schwächen von Bildungssystemen analysieren und mit Prognosen zur Bevölkerungs- und Arbeitsmarktentwicklung verbinden.

Die Woge, die von den Ländervergleichszahlen der OECD-Studie Bildung auf einen Blick ausgelöst wurde, ist noch nicht verebbt, da treffen sich in Berlin rund tausend Lehrer, Erzieher, Wissenschaftler, Schulleiter und Eltern, um über die Umsetzung von mehr Ganztagsschulen zu sprechen. Der Termin des Kongresses zum Thema Ganztagsschulen, initiiert und finanziert vom Bundesbildungsministerium, ist geschickt gewählt. Jeder konnte damit rechnen, dass auch die neuen Zahlen eine Bildungsdebatte lostreten. Und so nutzt Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn denn auch die Gunst der Stunde, um einen Paradigmenwechsel für die Bildungsfinanzierung zu fordern. Vier Milliarden Euro hat der Bund für die Einrichtung von Ganztagsschulen vor einem Jahr für das größte Schulentwicklungsprogramm, das es in der BRD bislang gegeben hat, verfügbar gemacht. Bulmahn möchte weitere sechs bis sieben Milliarden Euro bereitstellen, dafür soll die Eigenheimzulage gestrichen werden. Doch bislang sperren sich die Länder noch gegen diesen Schritt.

Auf dem Podium sitzen neben einer Schulleiterin, einer Lehrerin, einer Elternvertreterin auch eine Schülerin und ein Schüler. Beide finden ihre Schule "optimal". Sie gehen auf die Jena-Plan-Schule, die 1989 von reformwilligen Lehrern und Eltern als offene Ganztagsschule gegründet wurde und mittlerweile eine der Leuchtturmschulen in Deutschland ist. In diesem Jahr haben 3.000 Schulen Mittel beantragt, um ihre Umstellung zur Ganztagsschule zu finanzieren. Und es sollen mehr werden, viel mehr, darin sind sich alle Kongressteilnehmer einig. Viele Debatten sind seither geführt worden, über die richtige oder falsche Ganztagsschule, so zum Beispiel die offene oder die gebundene Form. Der offenen Form wurde vorgeworfen, dass sie nicht mehr als eine Verwahrschule sei, wenn nachmittags lediglich Sport- oder Freizeitaktivitäten und Hausaufgabenhilfe angeboten werden, sie dafür aber beträchtliche Mittel zugesprochen bekäme, während die gebundene Form eine komplette Umstrukturierung leisten müsse. Solche Debatten möchte die Bundesbildungsministerin am liebsten beenden. Dass man in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil mit anderen Problemen konfrontiert ist als in manch ländlicher Region, ist keine Neuigkeit. Deshalb könne man auch nicht ein ideales Modell von Ganztagsschule am grünen Tisch entwickeln, meint Doris Ahnen, die Kultusministerin von Rheinland-Pfalz, dem Land, das mit der Umwandlung von Halbtags- in Ganztagsschulen am weitesten vorne ist.

Dass jede Schule ihren eigenen Weg gehen muss, ist dabei genauso klar wie der Umstand, dass die Ganztagsschule nicht einfach eine Verlängerung der Halbtagsschule darstellt. Die Chance, die die Ganztagsschule nach Meinung der anwesenden Bildungsforscher bietet, ist nicht weniger als die einer vollständigen Veränderung der Schulkultur, die von Vertrauen und dem Interesse von Lehrern und Schülern füreinander bestimmt ist. Kinder sollen individuell gefördert, der strenge 45-Minuten-Takt aufgegeben, neue Unterrichtsformen gefunden werden. Die Lerngruppen sollten heterogen und altersgemischt sein, Kinder können viel voneinander lernen. Um das alles zu ermöglichen, muss man Räume neu gestalten, die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern suchen und sich über die Fortbildung von Lehrern, aber auch erzieherischem Personal Gedanken machen. Rhythmisierung des Unterrichts ist eine Formel, die für die richtige Mischung von Anspannen und Entspannen steht. Die zusätzliche Zeit, die man gewinnt, kann nicht nur zur Erholung, sondern auch zur Beziehung zwischen Lehrern und Schülern beitragen und viel Mitbestimmung ermöglichen. Als Anstalt der Belehrung gehört die Schule endgültig abgeschafft, stattdessen soll sie zu einem Lebensort werden.

Wenn man mitbekommt, wie bereichernd ein Lehrer in einem Arbeitsforum die ehrliche Meinung eines Schülers empfindet oder wie interessiert mancher Schüler das Gespräch mit Lehrern auf gleicher Augenhöhe sucht, ist man ganz erschrocken, wie abgekapselt die Welten doch sonst voneinander sind. Umso klarer wird, wie wichtig der Faktor Beziehung ist, und welche Rolle er bei der Umsetzung der Ganztagsschule spielt. Zum Beispiel ergibt sich am Mittagstisch schon mal das eine oder andere Gespräch.

Best-Practice-Schulen, die für Kinder, Jugendliche und Lehrer zum Lebensmittelpunkt geworden sind, gibt es schon: Die Bodensee-Schule in Friedrichshafen ist seit 1971 Ganztagsschule. Ihr Schuldirektor Alfred Hinz ist einer der Missionare der Ganztagsschule. Er sagt, "wir brauchen in der Schule eine Balance zwischen kognitiver, emotionaler und sozialer Leistung". Lehrer dürfen allerdings nicht mit ihrer Zeit geizen. Das zahlt sich aus. "Warum sollen Lehrer nicht bis zur zehnten Klasse in anderen Fächern unterrichten?" fragt Hinz. Wenn ein Lehrer von Physik keine Ahnung hat, könne das für die gemeinsame Arbeit mit den Schülern an einem physikalischen Problem sehr fruchtbar sein. Und noch eine Missionarin mischt sich in die Debatte, die finnische Kati Jauhiainen. Sie erzählt begeistert von der ruhigen Atmosphäre an Finnlands Schulen, wo alle Schüler ihre Lehrer duzen und das Mittagessen kostenlos ist.

Doch der Widerstand, dem Befürworter der Ganztagsschule in den Lehrer-Kollegien begegnen, ist groß. Eine Schuldirektorin, die mit viel Engagement die gebundene Form in ihrer Schule auf den Weg gebracht hat, gibt auf Nachfrage zu, dass von dem ursprünglichen Kollegium niemand geblieben sei. "Es fand ein kompletter Austausch statt." Auch auf Seiten der Eltern ist eine ablehnende Haltung nicht selten. Manche fürchten den umfassenden Zugriff der Schulen auf ihre Kinder und denken, dass die Familien auseinanderbrechen könnten. Aus Kreuzberg etwa wird berichtet, dass die meisten Migrantenkinder die Angebote der offenen Ganztagsschule nicht nutzen. Muslimische Kinder gehen nachmittags eher in die Koranschule. Wegen der großen Schwierigkeiten und der Überzeugungsarbeit, die vielerorts noch ansteht, wirkt die Veranstaltung manchmal wie eine riesige Selbsthilfegruppe. Ratschläge werden ausgetauscht, Netzwerke aufgebaut, Mut zugesprochen. Doch das Prinzip Hoffnung haben sich alle zum Programm gemacht. Und eine gewisse Aufbruchsstimmung wird beschworen. Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Der Filmemacher Reinhard Kahl hat in seinem Film Treibhäuser der Zukunft Ganztagsschulen porträtiert, die besonders gut gelingen. Ab Oktober ist die ausführliche Version des Films auf DVD für 29,50 Euro beziehbar über die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Berlin, E-Mail: archivderzukunft@dkjs.de


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