An den Reaktionen auf die neue Pisa-Studie sieht man, wer eins und eins zusammenzählen kann und wer nicht. Unmöglich kann man von Maßnahmen oder Reformen, die im Anschluss an Pisa I eingeleitet wurden, einen Effekt für Pisa II ableiten. Denn zwischen der Veröffentlichung der ersten Studie und den Erhebungen für Pisa II lagen gerade einmal anderthalb Jahre. Das umfangreiche und schwerwiegende Zahlenmaterial, das nun zum zweiten Mal vorliegt, ist in eben dem Maße nützlich, wie damit umsichtig und kompetent umgegangen wird. Wer also aus den neuen Zahlen schlussfolgern will, dass diese Maßnahmen richtig und jene falsch waren, hat nicht nur eine Rechenschwäche, sondern kann auch nicht richtig lesen, denn die Studie weist ausdrücklich auf diese Diskrepanz hin.
Insgesamt haben 250.000 15-jährige Schülerinnen und Schüler in 41 Ländern an Pisa II teilgenommen, davon 4.660 in Deutschland. Während im ersten Pisa-Test die Lesekompetenz schwerpunktmäßig geprüft wurde, galt diesmal das Augenmerk der Mathematik. Vergleicht man die "Leistungsmittelwerte" der Länder, steht Finnland wieder ganz oben, ganz nah bei den fernöstlichen Staaten Japan und Südkorea. Deutschland hat sich rangmäßig leicht verbessert, liegt aber nach wie vor im unteren Durchschnitt und weit unter dem, was zu erwarten wäre. Allein im Lösen von Alltagsproblemen liegen die deutschen Schüler etwas über dem Durchschnitt. Doch sie können dieses Wissen nicht in mathematisches Fachwissen umsetzen. Im unteren Leistungsbereich hat sich zudem überhaupt nichts verändert. Dementsprechend zeichnet die Frage nach Bildungschancen in Deutschland nach wie vor ein düsteres Bild: 22 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler gehören einer Risikogruppe an, die nicht einmal mit Grundkenntnissen ausgestattet ist. Kinder mit Migrationshintergrund haben besonders große Nachteile.
Andreas Schleicher, der OECD-Koordinator für Deutschland, bemerkte bei der Präsentation der Studie nüchtern, dass man die Frage stellen müsse, inwieweit das Potenzial, das in jungen Menschen stecke, genutzt werde. Hier zu Lande ist das bei der hohen Zahl an Schulabgängern, die aus dem Raster herausfallen, sicher nicht der Fall. Schleicher folgert daraus eine geringe Produktivität und ein niedriges Wirtschaftswachstum für den Standort Deutschland. Man kann sich streiten, ob der Blick auf das verfügbare Humankapital, das in jedem schlummert und durch die Bildungsmisere der Wirtschaft vorenthalten wird, eine angenehme ist. Dementsprechend wird von Bildungsexperten aus den Reihen der OECD auch gefordert, nicht von Bildungskosten, sondern von Bildungsinvestitionen zu sprechen. Doch vermutlich ist die ökonomische Argumentation die eingängigste, wenn es darum geht, Veränderungen anzumahnen. Und dass diese notwendig sind, steht außer Frage.
Besonders die Dreigliedrigkeit des Schulsystems wird in der Debatte zu Recht für die soziale Auslese verantwortlich gemacht. Pisa hat auch diesmal wieder deutlich gezeigt, dass die Schulsysteme, in denen Schüler möglichst lange zusammen in einer Schulform unterrichtet werden, die leistungsfähigeren sind. Doch allein mit der Einführung einer "Einheitsschule" wäre es nicht getan. Wer denkt, der Systemwechsel würde alle Probleme lösen, übersieht, dass wir es mit Menschen zu tun haben. Erfolgreiche Bildungsnationen legen gesteigerten Wert auf die individuelle Förderung. Dann gehört zum Erfolg auch Chancengerechtigkeit.
Wenn Andreas Schleicher, ganz offen nach dem Zusammenhang von der Dreigliedrigkeit unseres Systems mit den schlechten Leistungen befragt wird, weist er darauf hin, dass "offene Bildungssysteme", die einen "konstruktiven Umgang mit Heterogenität" gefunden haben, im Vergleich besser abschneiden als diejenigen, die auf homogene Systeme setzen. In Deutschland ist es für Eltern außerdem ein Risiko, wenn sie sich nicht gründlich über die Schule informieren, in die sie ihre Kinder schicken. Denn die Leistungsunterschiede der Schulen untereinander sind groß. Eine erfolgreiche Bildungsnation wie Finnland hat dieses Problem nicht. Dort können Eltern blind die Schule wählen, ohne die Zukunft ihrer Kinder dem Zufall zu überlassen. Außerdem gibt es dort langfristig angelegte Strategien und ein differenziertes System zur nationalen Evaluation, durch das man über die Stärken und Schwächen der einzelnen Schulen gut informiert ist. Finnland hat sich seit Pisa 2000 nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht, sondern beständig an der Verbesserung der Qualität seiner Schulen weitergearbeitet.
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