Einsam, ungelenk, sozial

Einzelhandel Warum der Berliner Spätverkauf nicht stärker reguliert werden darf. Plädoyer eines Insiders
Ausgabe 25/2015

Es begann vor fast 20 Jahren mit kalter Cola nach Ladenschluss. Aus Cola wurde Bier, der Spätverkauf zum Treffpunkt meiner Freunde, später sogar zu meiner Arbeitsstelle neben dem Studium und darüber hinaus, fast zehn Jahre lang. Der Laden, von dem ich spreche, liegt im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich lebe. Er ist mein Wohnzimmer, ich bin spätisozialisiert.

Was sonntags fehlt, wenn man vom Land in die Stadt oder vom Feiern ins Leben zurückkehrt, verkauft in Berlin der Späti. Etwa 1.000 gibt es davon derzeit in der Stadt. Anders als Tankstellen dürfen Spätverkäufe sonntags aber eigentlich nur Brötchen, Blumen, Milch, Zeitungen und Reisebedarf anbieten, das meiste davon nur zwischen 8 und 16 Uhr. Der Verkauf von Alkohol hingegen, in Spätis natürlich nicht gerade ein Ladenhüter, ist offiziell verboten, und doch bekommt man überall in der Stadt auch sonntags sein Bier, seinen Schnaps, seinen Wein. Kontrollen finden zwar nur gelegentlich statt, aber wenn ein Spätverkäufer erwischt wird, drohen drastische Bußgelder, bei Wiederholungstätern sogar bis zu 2.500 Euro. In Berlin-Neukölln schließen einige Spätverkäufer deshalb bereits an diesem doch so wichtigen Tag.

Dagegen regt sich Protest, vor allem in Gestalt einer Onlinepetition. Auf der Plattform change.org wurde „Rettet unsere Spätis und Berlins einmalige Kiezkultur. Für ein freies Verkaufsrecht aller Spätis an Sonntagen“ bereits von knapp 19.000 Menschen unterzeichnet. Darin wird gefordert, dass Spätverkaufsstellen in Berlin mit Tankstellen und Bahnhofsläden gleichgestellt werden. Sie hätten eine soziale Funktion, heißt es in der Petition, als „Anlaufstelle für Einheimische, Zugezogene und Touristen“. Richtig. Spätis sind Orte unter Nichtorten, offene Mikrokosmen für „normale“ Kunden oder Stammgäste und für die vielen Einsamen, Ungelenken, Komplizierten, Verlorenen, Überforderten. Sie alle sagen „mein Spätkauf“ oder „my Späti“, wenn sie den Besuch aus der Heimat durch ihr Viertel führen. „Mein Supermarkt“ hört man da eher selten. Unterschreiben Sie bitte sofort diese Onlinepetition!

Im Loblied auf die soziale Funktion schwingt allerdings etwas mit, für das man als Spätverkäufer feine Antennen entwickelt. Die soziale Funktion, das ist kein Produkt neben gekühltem Bier, wie viele zu glauben scheinen. Sie ist die Summe ihrer Bestandteile, Spätverkäufer und Kunde. Wer als Verkäufer einmal am Spätkauftresen zurückblieb in der Stille, spürt dieses soziale Gefüge. Wenn die Menschen weg sind, wabern gut gemeinte und kluge Ratschläge, großkotzige Bekenntnisse und kleine Träume, Lebens- und Binsenweisheiten, seelische Streicheleinheiten und seelischer Müll einer ganzen Nacht noch lange durch den Raum.

In meiner Funktion als Spätverkäufer außer Dienst verrate ich Ihnen auch noch einen so banalen wie effektiven Trick, der die allergrößte Bedrohung für Ihren Späti abwenden könnte. Schieben Sie einfach unter der Woche oder auch samstags, wenn Sie sich nach 20 Uhr zwischen Supermarktregalen ertappen, Ihren leeren Einkaufswagen wieder zur Tür hinaus und besuchen Sie Ihren Spätverkäufer. Mit diesem Bewusstsein und der Bereitschaft, auch an gewöhnlichen Tagen aus Überzeugung 10 oder 20 Cent mehr für ein Bier zu bezahlen, hätten Sie schon einen großen Teil Ihres Beitrags geleistet – zur sozialen Funktion des Spätkaufs und zu seiner Erhaltung. Dann ist der Sonntag gar nicht mehr so überlebenswichtig.

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