2014: Die Anderen

Zeitgeschichte In einem Sommer des Missvergnügens und der sozialen Depression taucht in Spanien eine Partei auf, die Resignation nicht mehr gelten lässt und recht bald regieren will
Ausgabe 30/2018

Seinerzeit gab es in Spanien Alltagsgespräche, die sich womöglich oft wiederholten. In La Marina de Port, einem Arbeiterquartier in Barcelona, hörten sie sich so an: Der eine Bewohner klagte über eine schlecht bezahlte Arbeit, über eine Hypothek, die er nur knapp bedienen könne, und über die Perspektivlosigkeit seiner Kinder. Der Nachbar teilte diese Sorgen, hielt aber entgegen: „Es gibt doch jetzt diese neue Partei Podemos und diesen Pferdezopf – Pablo Iglesias heißt er. Der setzt sich richtig für uns ein. Podemos wird den Mächtigen die Leviten lesen. Du wirst sehen, die werden etwas in Bewegung bringen.“

Im Sommer 2014 wirkte Podemos (zu deutsch: „Wir können“) fast wie ein Allheilmittel gegen soziale Depression und die Wirtschaftskrise, die eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent ausgelöst und einen schweren Verlust an Lebensqualität bewirkt hatte. Dazu kam ein politischer Gemütszustand, der bedrückte. Das Vertrauen der Bürger in die Politik hatte spätestens mit der „Bewegung der Empörten“ vom Mai 2011 einen Tiefpunkt erreicht. Das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten – in Spanien seit jeher angespannt – war zerrüttet. Die beiden Volksparteien, der konservative Partido Popular (PP) und der sozialistische Partido Socialista Obrero Español (PSOE), standen für eine nahezu identische austeritätskonforme und korruptionsanfällige Politik. Eine Stimmung des Überdrusses lag über dem Land. Die Krisenverlierer dachten und sagten über die Eliten in Wirtschaft und Politik nur noch eines: „¡Que se vayan todos!“ – Sie sollen alle gehen!

In diesem Augenblick des Abgesangs tauchte ein schmächtiger Politologe auf, 35 Jahre alt, mit Zopf, Jeans und knittrigem Hemd ausgestattet. Pablo Iglesias, Privatdozent an der Universidad Complutense in Madrid, prangerte bei Fernsehauftritten unerbittlich die Verfehlungen der Politik an – und predigte Moral und Mut, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit. Iglesias wirkte auf viele wie ein Aufrührer, von dem man sich mitgerissen fühlte. Einer, der – um sich Friedrich Nietzsches Metaphern zu bedienen – wie ein Löwe das Alte niedertrampeln und zugleich wie ein Kind Neues schaffen konnte. Tatsächlich inszenierte sich Iglesias bereits vor der Entstehung von Podemos als Sprachrohr der Underdogs, der den Status quo umkrempelt, würde man ihm nur die Möglichkeit dazu geben.

„Die Empörung in politischen Wandel überführen“, lautete der Titel des Gründungsmanifests von Podemos, das im Februar 2014 veröffentlicht wurde. Zunächst war das Projekt nur eine Idee, entstanden in einem kleinen Kreis linker Akademiker rund um Iglesias. Sie fragten sich, sollte es möglich sein, eine neue Partei zu lancieren, die sich der Empörung in der Gesellschaft annimmt, die Abgehängten als Wähler sammelt und vertritt? Iglesias und seine Mitgründer Íñigo Errejón, Carolina Bescansa oder Juan Carlos Monedero faszinierte das Vorbild der neuen lateinamerikanischen Linken. Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador standen Pate für den Parteitypus, den Podemos verkörpern wollte. Es sollte zunächst eine Sammlungsbewegung geben, die sich darauf konzentriert, das Ende der Austeritätsdogmen ebenso wie den Schutz des Sozialstaates zu verlangen, dazu eine Neugründung des Staates, um einen „Proceso constituyente“ zu forcieren, soziale Rechte und eine radikalere Demokratie der Mitbestimmung zu etablieren.

Für den Erfolg dieses Programms sollte eine Partei bürgen, die bewusst auf „altlinke“ Symbolik und Rhetorik verzichtete. Dies sollte mit dem Namen beginnen: „Podemos“ erinnerte an das Motto der Plattform der Hypothekenschuldner (PAH), jenes berühmte „Sí se puede!“ (Ja, man kann!), dem beim Kampf gegen Zwangsräumungen so viel Nimbus anhaftete. Das Lila stach vom bisherigen Rot ab und würdigte den Feminismus, während der Kreis des Podemos-Logos die basisdemokratische Kraft der „Círculos“, der Mitgliederversammlungen, hervorhob. Der Erfolg des Projekts hing zunächst besonders an seinem charismatischen Führungspersonal. Iglesias, aber auch Errejón, Monedero, Bescansa und Co. traten wie Volkstribunen auf, die jede Chance zur medialen Intervention nutzten, um den Empörungsdiskurs zu artikulieren.

Zu Hilfe kam ihnen die Europawahl Ende Mai 2014, die für Podemos zur ersten Bewährungsprobe wurde. Konnte man als Newcomer reüssieren und zumindest ein oder zwei Mandate für das EU-Parlament gewinnen? Als Gradmesser für das, was erreichbar sein könnte, galten die ersten Podemos-Meetings Anfang 2014. Oft spontan von Facebook-Gruppen ausgerufen, kamen an größeren und kleineren Orten Hunderte, oft Tausende von Sympathisanten zusammen, eine Melange aus linksalternativen Milieus, mehr und weniger Politisierten, Spaniern und Migranten. Das Gros der Bevölkerung konnte jedoch mit Podemos nicht viel anfangen, weshalb man auf den Wahlzetteln vorsorglich mit der Silhouette von Iglesias warb. Mit Erfolg. Das Europavotum verhalf Podemos zum Durchbruch. Mit acht Prozent der Stimmen und fünf EU-Abgeordneten wurde die Empörungsplattform, die bis dahin in Medien und Politik beflissen ignoriert worden war, jäh zum relevanten Akteur. Bald schoss Podemos in den Umfragen steil nach oben – auf bis zu 30 Prozent. Der Sprung von der Straße in die Institutionen, gar an die Staatsmacht, schien plötzlich nur eine Frage der Zeit zu sein.

Podemos hat in vier Jahren ihr großes Ziel erreicht: eine linke Volkspartei zu werden

Vier Jahre später, im Sommer 2018, sitzen im spanischen Parlament 71 von 350 Abgeordneten mit einem Mandat von Podemos und seinen Verbündeten. Bei den letzten Wahlen im Juni 2016 kam die Partei auf 21 Prozent, sie lag quasi gleichauf mit den Sozialisten und deren 22,5 Prozent. Besonders signifikant war der Durchbruch in den großen Städten. In Madrid, Barcelona, La Coruña, Pamplona oder Valencia regieren Allianzen unter Einschluss von Podemos. Bürgermeisterinnen wie Manuela Carmena (Madrid) oder Ada Colau (Barcelona) versuchen nicht nur diskursiv, sondern auch verwaltungspraktisch die Versprechen der „neuen Politik“ einzulösen: anders zu regieren, sich für die Schwachen einzusetzen, die Starken in ihre Grenzen zu weisen.

Podemos ist es tatsächlich in vier Jahren gelungen, das zu werden, was einmal als großes Ziel proklamiert wurde: eine linke Volkspartei. Einerseits. Andererseits reicht die Kraft noch nicht aus, eine Mehrheit der Spanier für sich zu gewinnen. Das Podemos-Momentum hat an Zugkraft verloren. Gewiss wird die Partei immer wieder als „populistisch“ verunglimpft und bei jeder noch so kleinen Gelegenheit gegen sie gehetzt.

Doch hat man sich auch selbst Schaden zugefügt, da interne Querelen um Strategien und Personalien nie vollends überwunden wurden. Von der Bruderschaft der Begründer blieb nur Pablo Iglesias in vorderster Front. Die anderen sind entweder freiwillig ins Glied getreten oder wurden von der Rampe gedrängt. Dazu kamen Zerwürfnisse zwischen Mitgliedschaft und Führung. Die Basisdemokratie blieb beim Marsch in und durch die Institutionen auf der Strecke – die „Círculos“ wirken längst relativ ausgedünnt. Vielleicht hielt man sich zu sehr an das Beispiel von Syriza in Griechenland und wollte zu schnell in Regierungsverantwortung kommen. Dabei wurde übersehen, dass der Zuspruch nicht nur deshalb zustande kam, weil man sich sozialer und demokratischer als die Konkurrenz positionierte. Die Partei Podemos gab sich nicht anders – sie war es.

Das Gespräch zwischen den beiden Bewohnern von La Marina de Port im Sommer 2014 enthielt übrigens einen Hinweis darauf, welche Lehre Podemos aus diesen ersten Jahren ziehen sollte. Die mit der neuen Partei verbundenen Hoffnungen wurden schon damals skeptisch reflektiert. „Podemos hin oder her, in diesem Land wird sich erst etwas verändern, wenn wir aufhören, auf die große Politik von oben zu setzen, sondern ihr von unten Druck machen.“ Diese Überzeugung könnte Pablo Iglesias daran erinnern, weshalb er in die Politik eingestiegen ist.

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Geschrieben von

Conrad Lluis Martell | conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

conrad lluis

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