„Ist irgendetwas passiert?“ Die Stimme Sophies, meiner Freundin, wirkt leicht irritiert, in ihrer Frage scheint bereits die bleierne Nachricht mitzuschwingen, die ich ihr an diesem Nachmittag kurz nach sechs am Telefon mitteile: „Es hat ein Attentat auf den Ramblas gegeben – ein Lieferwagen ist in die spazierende Menge gerast. Es gibt Tote und Verletzte.“ Nun ist Sophie klar, warum an einem Tag wie jedem anderen so wenig Menschen in der Untergrundbahn saßen. Und weshalb die wenigen Fahrgäste still und besorgt auf ihre Smartphones starrten, warum die Stimmung so anders war als sonst, etwas Bedrückendes in der Luft lag.
Für viele Barcelonesen wird später die Rückkehr nach Hause zur Odyssee. Niemand weiß genau, wo die Metro noch fährt, und welche Strecken gesperrt sind. Gerüchte kursieren, wonach die Estació de Sants, einer von Barcelonas großen Fern- und Umsteigebahnhöfen direkt bei mir um die Ecke, gesperrt sei. Es hätten sich ein oder mehrere Attentäter in Restaurants der Innenstadt verschanzt. Noch sei das Ganze nicht vorbei, es müsse mit weiteren Anschläge gerechnet werden.
Aufgewachsen in Ripoll
Anfangs wirkt das alles auf mich wie ein virtuelles Schauspiel. Im Moment des Verbrechens bearbeite ich in einiger Entrücktheit einen Artikel. Als mir klar wird, was passiert ist, schalte ich das Radio ein und blicke beinahe ununterbrochen auf die Nachrichtenportale, die im Minutentakt ihre Informationen aktualisieren. Zunächst überwiegt der Eindruck, ein grausames, jedoch merkwürdig irreales Geschehen zu verfolgen, das weit entfernt scheint, als hätte es sich nicht in meiner Heimatstadt, sondern woanders abgespielt – in Paris, Brüssel, Berlin, Nizza oder Istanbul. Langsam wandelt sich die Wahrnehmung. Die eintrudelnden Anrufe, Mails, Whats-Apps, Chats und Facebookposts erzeugen das ungewohnte Bewusstsein einer kaum fassbaren Gefahr. Die Promenade Las Ramblas bin ich hunderte Male hoch und runter gelaufen.
Verstörender als die Kommunikationsflut ist die Erfahrung, wie ein solcher Anschlag das Leben einer Stadt verändert. Die sonst so vitalen, lauten Straßen meines Viertels – es liegt nicht gerade in Innenstadtnähe – wirken auf einmal wie stillgelegt. Es sind kaum Passanten unterwegs, und wenn, dann allein und schnellen Schritts, als suchten sie Schutz. Eine befremdliche Ruhe nistet sich ein, die auch an den folgenden Tagen nicht weichen wird: Barcelona ist verletzt. Es wirkt wie eine erstarrte Stadt, die nicht glauben kann, was ihr widerfahren ist.
Am 17. August gegen 17 Uhr fährt ein Lieferwagen, wie es davon so viele gibt, in wildem Zickzackkurs die Ramblas Richtung Hafen hinab und hinterlässt eine schauerliche Spur: 13 Tote und mehr als 100 Verletzte. Am Steuer sitzt ein 22-Jähriger marokkanischer Herkunft. Nachdem das Fahrzeug auf den Ramblas zum Stehen kommt, muss der Täter durch das Gewühl von La Boqueria, dem unübersichtlichen Altstadtmarkt, geflohen sein. Er entkommt, indem er ein Auto stiehlt und dessen Fahrer ersticht. Anfang der Woche wird dieser Younes Abouyaaquoub im Ort Subirats von der Polizei aufgespürt und erschossen.
Nicht anders ergeht es seinen mutmaßlichen Mittätern. In der Nacht zum Freitag werden in der Küstenstadt Cambrils, etwa hundert Kilometer südlich von Barcelona, fünf junge Männern von Sicherheitskräften getötet. Was bestürzt, ist der Umstand, dass die Terroristen sehr jung sind, zwischen 17 und Anfang 20. Die meisten stammen aus dem urkatalanischen Städtchen Ripoll, das in den Vorpyrenäen liegt. Wahrscheinlich sind sie aufgewachsen wie tausend andere auch, mit einer Kindheit in Katalonien und familiären Wurzeln in Marokko, alles in allem können sie nicht viel weniger katalanisch gewesen sein als die Kinder in der Nachbarschaft.
Warum waren sie anfällig für die islamistische Verführung, an der in Ripoll ein Imam beteiligt gewesen sein soll. Ein Prediger, der erst vor einigen Jahren in die Gegend gezogen ist. Was hat die Täter dazu gebracht, einen Anschlag in Dimensionen zu planen, die letztlich nur der Zufall verhindert hat?
Viele meiner Freunde, auch ich, haben geglaubt, dass Spanien politisch grundsätzlich anders als Mitteleuropa gepolt ist. Protestbewegungen wie die Indignados (Empörten), neue Parteien wie Podemos, sogar Kataloniens Unabhängigkeitsbegehren sprechen entweder eine linke oder eine unzweideutig demokratische Sprache. Relativieren die blutigen Ereignisse dieses Urteil? Kaum sind sie geschehen, da behaupten schon Politiker der konservativen Volkspartei (PP), die derzeit unter Premier Mariano Rajoy in Spanien regiert, das Land „befände sich in einem globalen Krieg“, müsse seine Werte mit mehr Sicherheitsvorkehrungen verteidigen und „islamistische Elemente“ stärker ins Visier nehmen.
Couragierte Taxifahrer
Diese Position findet ihren Widerhall in der Gesellschaft. Islamophobe Stimmen werden in diesen Tagen wieder lauter, ob in den sozialen Medien, im Bistro oder auf dem Markt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Aversionen und Affekte eine öffentliche Agenda prägen und das dauerhaft. Die meisten Reaktionen auf den Anschlag weisen freilich in eine ganz andere Richtung. „Barcelona ist eine Stadt des Friedens und Dialogs“, so lautet nicht nur die Botschaft der Bürgermeisterin Ada Colau, das sagen mehrheitlich auch die Beileidsbekundungen von Einwohnern wie Besuchern.
Wenn das Verhalten nach einem monströsen Verbrechen eines auszeichnete, dann waren es weniger die üblichen Fanfaren über die Verteidigung westlicher Werte und eines ebensolchen Lebensstils, sondern die spontanen, sehr emotionalen und couragierten Zeichen der Solidarität überall: Taxifahrer, die Verletzte evakuierten; Menschen, die in den Hospitälern Schlange standen, um Blut zu spenden; Laden- und Restaurantbesitzer, die ihre Lokale als Zufluchtsstätten für unter Schock stehende Passanten öffneten.
Vielleicht wirkt die lange Erfahrung, die Barcelona mit ungezügelter politischer Gewalt besitzt, bis heute nach. Ältere Bürger erinnern noch die Anschläge der baskischen Untergrundorganisation ETA, etwa den Angriff auf das Einkaufszentrum Hipercor am 19. Juni 1987, der 21 Menschenleben kostete. Viele glauben, mit der Amokfahrt auf den Ramblas sei das Herz der Stadt verletzt worden – und dies obwohl die Flaniermeile zuletzt als Sinnbild eines überbordenden Tourismus galt. Seit Monaten schon tobt in ganz Spanien und besonders in Barcelona eine heftige Debatte um das gängige Tourismusmodell und seine Grenzen. Nun aber lassen Entsetzen und Trauer die häufig gezogene Trennlinie zwischen Bewohnern und „Guiris“, wie die Touristen oft abfällig genannt werden, vorübergehend verschwinden. Die Opfer besaßen alle möglichen Staatsangehörigkeiten, zu beklagen gab es Tote und Verletzte aus 34 Ländern, westlichen und nichtwestlichen.
Wie wird sich das alles auf die Ramblas und ihre Gravitationskraft auswirken? Wird uns die Angst vor erneuten Terrorattacken der Innenstadt entfremden oder könnten die Geschehnisse ein Anstoß sein, die Ramblas als Ort der Begegnung zurückzugewinnen? Im Augenblick wirkt der Boulevard von Grund auf verändert, weniger wegen der Kamerateams und omnipräsenten Polizei. Der Eindruck hat mit den Blumen und Kerzen zu tun, die überall auf dem Trottoir zu finden sind, ein dicht gewebter Teppich der Anteilnahme, der erst dort endet, wo das als tödliche Waffe missbrauchte Fahrzeug zum Stehen kam.
Es dürften noch ein paar Tage vergehen, danach wird sich die Aufmerksamkeit im In- und Ausland wieder anderem zuwenden. Was trotzdem bleibt? Vielleicht ein kollektives Bewusstsein für eine Verletzbarkeit, die niemanden verschont. No tenim por! Wir haben keine Angst!, so der spontane Ruf am Tag danach während des Gedenkmeetings in Barcelonas Innenstadt. Sicherlich hatten manche der Teilnehmer – es waren Zehntausende – in Wirklichkeit Angst und wollten sich der Verunsicherung gemeinsam stellen, friedlich versammelt auf der Plaҫa Catalunya, dem Nabel der Stadt.
Werte und Normen kommen und gehen, es bleiben die Menschen, ihr Leben und Sterben. Das furchtbare Blutvergießen in Barcelona könnte wenigstens dazu dienen: Weniger im Zeichen des Ich und mehr in dem des Wir zu leben. Wir sollten weniger liberale Werte gegen angebliche Feinde verteidigen, als uns vielmehr eine andere Lebensform aneignen. Gemeinsamkeiten suchen, solidarischer sein, füreinander Sorge tragen.
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