So konfrontativ wie am 24. Oktober war in Madrid lange keine Parlamentsdebatte mehr. Der konservative Oppositionsführer Pablo Casado beschuldigte den sozialistischen Premier Pedro Sánchez, „Teilhaber und Verantwortlicher eines Staatsstreiches zu sein“. Schließlich kollaboriere er mit katalanischen Separatisten. Damit war eine rote Linie überschritten, Casado brach den Burgfrieden zwischen Sozialisten und seinem Partido Popular (PP). Bis dahin hatte man aus staatspolitischer Verantwortung oft kooperiert.
Selbst am 1. Oktober 2017, als Polizeigewalt das katalanische Unabhängigkeitsreferendum flankierte und Spanien international im Fokus stand, hielt Sánchez, damals seinerseits Oppositionsführer, zum damaligen Premier Mariano Rajoy von der Volkspartei. Und das, obwohl er für eine konziliantere Linie stand. Diesmal wies Sánchez den Hardliner Casado hart zurecht: „Sie können die Regierung kritisieren, aber nicht beschimpfen, diffamieren und verleumden. Wenn Sie daran festhalten, breche ich die Beziehungen zu Ihnen ab.“
Klassisch sozialdemokratisch
Es galt als ausgemacht, dass die traditionellen Parteien, der sozialistische PSOE und der konservative PP, ausgedient haben. Seit 2014 kamen mit der Wirtschaftskrise und den Protestbewegungen rechts wie links zwei neue Parteien auf, die sich anschickten, die Bestandsparteien zu ersetzen: links Podemos, rechts Ciudadanos, Letztere gerade in der Katalonien-Krise 2017 mit einer höchst erfolgreichen Melange aus Neoliberalismus à la Macron und offensivem Nationalismus. Im Herbst 2018 jedoch ist das Momentum von Ciudadanos und – mehr noch – von Podemos fürs Erste vorbei. Beide müssen wieder den Altparteien als Hauptdarstellern weichen. „Wenn wir wollen, dass alles gleich bleibt, muss sich alles ändern“, dem berühmten Motto sind Sozialisten und Konservative eifrig gefolgt. Der PSOE hat eine Erneuerung vollbracht, die in der europäischen Sozialdemokratie – mit Ausnahme von Labour unter Jeremy Corbyn – ihresgleichen sucht. Noch vor anderthalb Jahren schien die Partei das Schicksal der griechischen PASOK zu winken. Es kam anders. PSOE-Chef Sánchez, für seine Beharrlichkeit bekannt, sorgte im Juni für ein Misstrauensvotum gegen Regierungschef Rajoy, unterstützt von Podemos, baskischen Nationalisten und katalanischen Separatisten. Der Coup gelang, Sánchez wurde Premier. Zwar sollte es danach zunächst Neuwahlen geben, doch dann wollte Sánchez die Legislaturperiode bis 2020 ausschöpfen. Sein Kabinett wirkt klassisch sozialdemokratisch, wird bei elf von siebzehn Ressorts durch Politikerinnen geführt und schlägt neue Töne gegenüber Katalonien an: Man solle den gestörten Dialog zwischen Madrid und Barcelona wiederherstellen. Ein Teil der Unabhängigkeitsbewegung, besonders die sozialdemokratische Partei ERC, zeigt sich für diesen Kurs empfänglich, obwohl ihr Parteichef Oriol Junqueras seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt und auch Sánchez kein Unabhängigkeitsreferendum in Aussicht stellt.
Um die Sozialisten schart sich eine bunte Koalition, die es ihnen erlaubt, trotz eines Stimmanteils von 22,6 Prozent (83 von 350 Mandaten) und des Rücktritts zweier Minister (wegen Steuerbetrugs und des irregulären Erwerbs eines Mastertitels) durchzuhalten und im Umfragehoch zu sein. Daran dürfte der ambitionierte Haushaltsentwurf für 2019 nichts ändern, der vorsieht, die Einkommensteuer für große Vermögen zu erhöhen, das Mindesteinkommen auf 900 Euro anzuheben, den Wohnungsmarkt zu regulieren (mit einer auf fünf Jahre verlängerten Mindestmietdauer oder einer Mietbremse) und die Elternzeit für Väter auf 16 Wochen zu verlängern. Der Budgetplan, den die Sozialisten mit Podemos ausgehandelt haben, ist beileibe nicht revolutionär, leitet aber gegenüber bisheriger Austerität eine vorsichtige soziale Wende ein.
Als der Haushaltsentwurf von Sánchez in Brüssel vorgestellt wurde, reiste auch Oppositionsführer Casado dorthin, um das Papier zu torpedieren, weil es angeblich gegen die Defizitvorgaben der EU verstoße – das Auftreten war ein Indiz für die aggressive Neuausrichtung der Konservativen. Mit der eher technokratisch ideologiefreien Haltung seines Vorgängers Rajoy soll gebrochen werden, um zu den vermeintlichen Essenzen der Volkspartei PP zurückzukehren.
Nicht nur am Nationalfeiertag, dem 12. Oktober, bekundete Casado seinen Stolz auf die spanische Nation und bezeichnete die „Hispanität als brillanteste Etappe der Menschheitsgeschichte“, auch zu den „aktuellen Gefahren für Spanien“ bezog er Stellung: Gegen den „Staatsstreich“ in Katalonien helfe nur eine dauerhafte Aufhebung der Autonomie, keine zeitweilige. Um die Einwanderung von „Millionen Afrikanern“ einzudämmen, seien rigorose Grenzkontrollen und eine härtere Abschiebungspolitik vonnöten. Gegenüber Podemos hält sich Casado an das Diktum von Ex-Premier José María Aznar: „Podemos ist eine Gefahr für die Freiheiten wie die Demokratie in Spanien und beweist es jeden Tag.“
Illoyale Wähler
Wenn Aznar seinem Protegé, dem 37-jährigen Casado, eines eingeprägt hat, ist es die Sehnsucht nach einer Partei der rechten Sammlung, die von der liberalen Mitte bis zu den Franco-Nostalgikern reicht. Da aber der Partido Popular derzeit mit den rechtsliberalen Ciudadanos konkurriert, bleibt Casado nur die Flucht nach vorn: Wo keine organisatorische Einheit herrscht, soll sie zumindest diskursiv geschmiedet werden, als rechte Einheitsfront gegen „linke und separatistische Putschisten“.
Die Rechte mag zersplittert sein, aber mit Casado und Albert Rivera, dem Ciudadanos-Chef, stehen zwei junge, ehrgeizige Politiker bereit, ungeniert die Flagge des Nationalismus zu schwenken und sich dabei gegenseitig hochzuschaukeln. Es ist diese Konstellation samt der Ungewissheit, wie die Rechte bei der nächsten Wahl abschneidet, die Sozialdemokraten, Linke und Separatisten rund um die Sánchez-Regierung zusammenhält. Letzten Endes jedoch wird die „Restauration“ von PP und PSOE allein deshalb eine Chimäre bleiben, weil künftig mindestens vier etwa gleich starke Parteien konkurrieren und auf Wählerloyalität kein Verlass mehr ist.
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