In Paris kommt Nuit debout keineswegs aus dem Nichts. Um aufzuklären, warum diese Bewegung entstand, hilft der Blick über die Grande Nation hinaus. Es ist kein Zufall, dass Beobachter Nuit debout auch Frankreichs 15M nennen. Am 15. Mai 2011 wurden in Spanien öffentliche Plätze, darunter die Puerta del Sol in Madrid und der Plaça de Catalunya von Barcelona, besetzt. Schnell standen die Abkürzungen 15M und Indignados (Empörte) für einen Protest, der sich den Austeritätsdiktaten der konservativen Regierung ebenso widersetzte wie dem etablierten Zweiparteiensystem.
Ungewohntes Vokabular
Wie augenblicklich in Frankreich waren die Indignados eine neuartige Antwort auf die Unruhepotenziale der Gegenwart. Spanien befand sich seit 2008 mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in einer der schwersten Wirtschaftskrisen seiner jüngeren Geschichte. Lohnarbeiter sahen sich harschem Spardruck ausgesetzt, während der Sozialstaat beschnitten wurde. Zwar attackierten die Gewerkschaften und die postkommunistische Izquierda Unida (IU) das Austeritätsszenario, doch waren diese linken Akteure eher Teil des Problems als der Lösung. Die IU hatte als traditionelle Linke mit einem Fünf-Prozent-Wähleranteil ihre institutionelle Nische gefunden. Dagegen suchten die Indignados den Bruch mit dem Ist-Zustand. Sie riefen „Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern!“ oder „Es ist keine Krise, es ist das System!“ und deuteten die ökonomische Malaise als Gesellschaftsdefekt.
Dabei hatten ihre Forderungen einen übergreifenden Nenner: Die Ermächtigung der „von unten“ gegen die Herrschaft der „von oben“. Kurz: Die Empörten stellten die soziale Frage, fanden dafür aber ein anderes als das gewohnte Vokabular. Die in Kauf genommene ideologische Heimatlosigkeit des 15M war dem Verzicht auf klassische linke Identifikationsmerkmale geschuldet. Weit stärker als Nuit debout ging die Bewegung in Spanien auf Distanz zu etablierten Parteien und Gewerkschaften. Dies war kein taktisches Verhalten, sondern eine kulturelle Abgrenzungsgeste. Die Empörten waren typischerweise unter 35-Jährige – Studenten, prekär Beschäftigte, verdrossene Sozialisten, Gewerkschafter. Sie verwarfen den Common Sense der Vorkrisenjahre. Ihnen galt der Übergang vom Franquismus zur Demokratie Mitte der 70er nur scheinbar als Erfolgsgeschichte. Im Geiste einer Konsens- und Liberalisierungspolitik war eine alternativlose Parteienherrschaft von Volkspartei (PP) und Sozialisten (PSOE) entstanden, während sich Konsumismus, Individualisierung und Passivität in die Gesellschaft einschlichen. Damit wollten die Empörten brechen – sie wollten repolitisieren.
Nach dem Klimax der massenhaften Platzbesetzungen und Aufmärsche im Sommer 2011 breiteten sich die Indignados im Land aus. Bald gab es in jeder Kleinstadt und jedem Quartier 15M-Meetings. Vielerorts kamen neue Medien auf, darunter das Agora-Sol-Radio und die Zeitung madrid15m mit zeitweilig zehntausenden Hörern und Lesern. Was ab 2012 folgte, reichte von den mareas (Fluten), den Demonstrationen verschiedener Berufsgruppen gegen den Austeritätskurs, über Aktionen der Plattform der Hypothekbetroffenen gegen Zwangsräumungen bis zur Gründung der Protestpartei Podemos Anfang 2014. Das Erbe der Indignados lässt sich daran erkennen, dass in dieser Partei eine Kultur der Basisdemokratie herrscht, die für soziale Bewegungen wie für (alte und neue) linke Parteien inzwischen unabdingbar ist.
Es ist kein Zufall, dass der Weg der Indignados „durch die Institutionen“ auf kommunaler Ebene begann. Seit Frühjahr 2015 regieren maßgeblich aus dem 15M hervorgegangene Allianzen viele Rathäuser. Manuela Carmena, die Bürgermeisterin Madrids, folgt dem Anspruch: „Die Bürger ernennen uns, wir dienen ihnen.“
Zudem ist der symbolische Bruch relevant, der mit den Protesten des 15M einher ging. Plötzlich besetzte eine anonyme Menge friedlich die Hauptplätze des Landes, um ein Ende der Austeritätspolitik und mehr Demokratie zu verlangen. Was für kurze Zeit eine gesellschaftliche Selbstreflexion auslöste. Wie derzeit in Frankreich fragten sich Stimmen aus Politik, Medien, ja die Bürger allgemein: Wer protestiert auf den Plätzen? Was wollen sie? Was treibt sie tagein, tagaus hinaus?
In Spanien zeigt sich, dass scheinbar harmlose Geschehnisse ungeahnte Wirkungen entfalten können. Das Parteiensystem verlor seine Selbstverständlichkeit und wurde durch die sozialen Bewegungen relativiert. Das Politische eroberte sich Attraktivität zurück und wurde im Alltag allgegenwärtig. In solchen Momenten, da eine raunende Straße den Anspruch erhebt, die Stimme der Demokratie zu sein, setzt der soziale Wandel an.
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