Unter die Dusche trieben mich jeden Abend weder Schweiß noch Müdigkeit. Der unsichtbare Schmutz war es, die Stickstoffe und Feinstaubpartikel. In Barcelona, dieser so anregenden und freien Stadt, atmet man eben auch ständig eine gesundheitsschädliche, potenziell lebensverkürzende Luft ein. Mir reichte es irgendwann – die schlechte Luft, die Betonwüste, die Tausende von Autos mit motzigen Fahrern. Mir reichte es, mich immer schon am Montagmorgen nach dem nächsten Wochenende zu sehnen, um rauszukommen, im nahen Gebirge Montserrat oder sonst wo außerhalb der Metropole zu klettern, zu wandern, an sauberen Stränden zu baden. Ich ergriff die privilegierte Chance, meinen Lebensort ohne viel Aufhebens zu wechseln: In Deutschland, in einer Kleinstadt am Fuß des Taunus im Rhein-Main-Gebiet, stand ein Reihenhaus leer, das der Familie meiner Partnerin gehört. Vor allem, und das schien mir besonders attraktiv, ist ein ausgedehntes Waldgebiet keine fünf Gehminuten entfernt, wenige Kilometer entfernt liegt gar ein kleiner Kletterfelsen.
Wald und Felsen allein waren es freilich nicht, die uns mit Anfang 30 von Barcelona ins Taunus-Städtchen trieben. Da war noch die berufliche Perspektivlosigkeit in Spanien, da bleibt eine Doktorarbeit, die zu schreiben ist, ohne ständig Sorge zu haben, wie sich die nächste Miete stemmen lässt. Also ging es in das deutsche Städtchen. Ich erlebte einen Kulturschock. Von einem Katalonien, das damals, Ende 2017, nach dem niedergeknüppelten Unabhängigkeitsreferendum brodelte, wo Millionen auf die Straße gingen, hin zu einem Ort, wo auf der Straße fast nur Autos ein und aus fahren und das zentrale Ereignis die Müllabfuhr ist. Ich, der zerstreute, zum unsteten urbanen Leben vorherbestimmte Soziologe, fand mich buchstäblich über Nacht in einem fremden Umfeld wieder.
Bunsenbrenner, dann Chemie
Haus, Frau, Garten – und alles noch mal hundertfach um einen herum. Bisher war mir diese Lebensform unbekannt geblieben. Weder in meiner Heimat Barcelona noch an meinen Studienstationen Freiburg, Basel und Hamburg war mir die Welt des deutschen (Klein-)Bürgers wirklich begegnet – wo frühmorgens der Wagen aus der Garage zur Arbeit rollt, die Frauen oft nachmittags zurück sind, um Kinder und Haushalt zu pflegen, sich samstags vor den Feinkostständen Schlangen reihen und sonntags alles ruht – bis auf männliche Autoputzer und edel ausstaffierte Mountainbiker.
Ich kannte diese Welt nicht, nun gehöre ich ihr an. Aber nicht ganz. In der Garage stehen statt eines glänzenden SUV nur Fahrräder und Krempel, mein Job führt mich nicht in ein schönes Büro, sondern in den Einzelhandel, mit einem Lohn, der selbst in Spanien niedrig wäre. Trotz Reihenhaus pulsiert mein Leben (noch) anders als bei der neuen Umgebung. Dieses Nicht-so-richtig-Hineinpassen macht sich für die Nachbarschaft in einem wohl besonders bemerkbar: unserem Garten. Es ist ein kleines Grundstück hinter dem Haus, kaum 300 Quadratmeter groß. Doch darauf gedeiht mehr, als zu denken wäre. Auf einer Flanke stehen drei Apfelbäumchen, hinten ein ansehnlicher Feigenbaum, der bei mir im Sommer, wenn er Früchte trägt, Nostalgie nach Spanien weckt. Auf der anderen Flanke ranken sich Himbeeren. Direkt angrenzend ans Haus findet sich ein bemooster und eher selten gemähter Rasen. Drumherum blüht es, auch dank der noch von den Großeltern meiner Partnerin angelegten Staudenbeete, die wir weiterpflegen und Schritt für Schritt ergänzen. Auf der eigentlichen Hauptfläche des Gartens lassen wir es im Winter wuchern, im Frühling und Sommer machen wir daraus ein ordentliches Gemüsebeet. Vergangene Saison, unsere erste, gediehen dort (mehr und weniger erfolgreich) Zucchini, Radieschen, Salatköpfe, Mangold, Kräuter und viele Tomaten.
Es war ein erster, unprätentiöser Anbauversuch von zwei unerfahrenen Anfängern. Meine Partnerin war die treibende Kraft, las sich ein, fragte unsere hilfsbereite, herzliche Nachbarin, die mit über 80 leidenschaftlich und fachkundig gärtnert, um Rat, kaufte Samen, zog Setzlinge groß. Ich hingegen beschränkte mich eher auf den ausführenden Part, auf Umgraben, Sähen, Gießen oder Unkrautjäten. So einfach handhabbar das Grundstück scheint, mich überraschte die Arbeit, die wir ihm widmen mussten. Ein Garten muss gepflegt werden, um sich zu entfalten. Unserer entfaltete sich, und wie! Etwa als wir vergangenen Juni aus dem Spanien-Urlaub zurückkehrten und berstendes Grün vorfanden. All der Gründünger und die Wildblumen, die nach langer Brache die Erde verbessern sollten, um das Beet vorzubereiten, waren lange nur spärlich gewachsen. Binnen zwei Wochen waren sie schier explodiert. Der Anblick war prächtig: ein kleines, wildes Stück Erde voll brummender Bienen, weitaus weniger kontrolliert und zurechtgestutzt als alles um uns herum.
Ein eigensinniger Garten provoziert Gegenreaktionen. Öfters stehen Nachbarn neben dem Grundstück und schüttelten den Kopf. Unser Garten ist anders. Mich selbst überrascht, was in unserem gediegenen Taunus-Städtchen ein normaler Garten und dessen Pflege bedeuten. Als ich von Spanien herzog, hatte ich recht bukolische Vorstellungen davon, wie es im eher ländlichen oder suburbanen Raum zugeht. Ich erwartete keine Scharen von Ökos, aber doch eine sensible, naturzugewandte Gartenpflege. Stattdessen rattern vielerorts Maschinen, um gutes Gewächs zu stutzen und schlechtes zu bekämpfen. Zuvorderst brummt, unverwüstlich, der Rasenmäher. Mit Vorliebe kommt er samstags in den Morgenstunden zum Einsatz. Am charakteristischsten sind die benzinbetriebenen, erinnern sie doch nachdrücklich daran, dass ohne Erdöl gar nichts läuft. Bei den elektrischen Geräten, die Hecken, Sträucher und Bäume zurechtsäbeln, frage ich mich, ob es nicht zuweilen eine schlichte Gartenschere täte. Besonders erstaunte mich das Artefakt Bunsenbrenner. Er brennt das Unkraut, das vor Garage und Vorgarten sprießt, bis auf die Wurzeln nieder – wobei dieser Feuerkur bisweilen, prophylaktisch, die chemische Schädlingsbekämpfung folgt. Was mich irritiert, sind weniger die Maschinen als das grenzenlose Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Als wäre ein Garten dann gut gepflegt, sobald ihn hochwertige Gerätschaften (und Chemikalien) richten.
Ein Garten, ein Lebensentwurf
Ist es wirklich so? Einen Garten zu pflegen, braucht Zeit, Versuch und Irrtum. Misserfolge gehören ebenso dazu wie Zeiten, in denen es wilder wuchert. Im Grunde gilt, dass jeder Garten für einen Lebensentwurf steht. Sei’s ein eher kleinbürgerlicher, sei’s ein eher ökologisch-alternativer – was auch in unserem Städtchen kein Widerspruch sein muss, es finden sich neben den getrimmten Rasen und Hecken viele liebevoll gepflegte Blumen- und Gemüsegärten. Doch was, wenn die Selbstverwirklichung auf den eigenen Garten und das Haus beschränkt bleibt? Wenn mein ach so eigensinniger Garten zur Grenze meiner Welt wird? Das Zurückgeworfensein auf die eigene Parzelle, dies ist hier wohl die intensivste Erfahrung für mich. Haus und Garten sind gut für Körper und Seele, zugleich aber vereinzeln sie. In der Kleinstadt neigt man, auch ich, dazu, sich in den Bunker Eigenheim zurückzuziehen. Und diese hartnäckige Wirklichkeit, sie entgeht meist den kritischen Fühlern einer Linken, die fast ausnahmslos in Großstädten zu Hause ist.
Das Kleinbürgerliche der Kleinstadt ist mehr als nur eine Form, zu denken und zu handeln. Es sind auch die kleinen Bürgersteige und die zu breiten Straßen ohne Radwege. Es ist die bis auf wenige Straßenzüge nicht verkehrsberuhigte Innenstadt. Es ist der Nahverkehr, der, überlastet und unterfinanziert, jede Woche zusammenbricht. Es ist der Häuserbau, bei dem Einfamilienhäuser vorherrschen. Es sind die Discounter, Bau- und Getränkemärkte, die wie eine autogerechte Krone rund um das Städtchen stehen, während Tante-Emma-Läden in den Quartieren schließen und soziale Treffpunkte fehlen. Die kleinbürgerliche Welt bleibt ein mächtiges Gefüge. Architektur, Infrastruktur und Raum fügen sich nahtlos in Lebensentwürfe und kulturelle Werte ein. Alternativen dazu müssen langsam wachsen. Wie beim Garten, wo die Erde erst umzugraben und aufzulockern ist, bevor sich säen und ernten lässt. Ein erster Schritt wäre, dass die vielen Benachteiligten der hiesigen Ordnung sichtbar würden: die schwachen Senioren, denen das Haus über den Kopf wächst. Die Familien, die ihre Kinderwagen über die Straßenränder manövrieren. Die autolosen Armen, die sich beim Warten auf Bus und Bahn die Füße in den Bauch stehen. Es ist Zeit, den Garten für sie alle anzulegen.
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