Es war ein bewegender, aber auch trauriger Tag, dieser 1. Oktober. Traurig, weil die einen friedlich wählen und die Demokratie ausschöpfen wollten und die anderen sie dafür niederprügelten. Traurig, weil viele Bürger auf der Straße eine selbstlose, opferwillige Haltung bewiesen, während auf ihrem Rücken die Herren in der Generalitat, der katalanischen Regierung, und der Moncloa, der Zentralregierung, eisern ihre Strategien gegeneinander ausspielten – die einen für die Unabhängigkeit, die anderen für die nationale Einheit. Nach dem, was am Tag des Plebiszits geschah, hat es sich Madrid sehr schwer gemacht, Katalonien je wieder an sich zu binden. Was bleibt, ist nicht nur Zorn, sondern auch die – vielleicht letzte – Ent
Enttäuschung vieler katalanischer Bürger gegenüber einem Staat, der es aufgegeben hat, sie mit Argumenten zu gewinnen, statt sie mit dem Knüppel des autoritären Patrons zu drangsalieren. Vor dem Bruch kommt die Entfremdung.Am 1. Oktober gab es kein Referendum, sondern ein Erdbeben. Millionen Bürger nahmen an einer Abstimmung teil, die das Verfassungsgericht für illegal erklärt und der Zentralstaat durch Justiz wie Polizei so stark beschnitten hatte, dass der Verlauf keinen demokratischen Standards genügen konnte. Zugleich gingen viele Katalanen – aus Angst oder Ablehnung – auf Distanz. So verfügt das Ergebnis nur bedingt über Aussagekraft: 42 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil, davon entschieden sich 90 Prozent für die Souveränität. Das Mandat für eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung, wie sie die Generalitat noch in dieser Woche abgeben wollte?Ein Politiker und eine Partei tragen die Hauptverantwortung dafür, dass es so weit kommen konnte: Mariano Rajoy und der Partido Popular (PP), 1976 von sieben einstigen Franco-Ministern gegründet und heute Spaniens stärkste Kraft. Bisher folgte Rajoy gern der Devise: Lieber aussitzen statt angehen. Er hat nun den Nachweis erbracht, dass er unter bedenklichem Realitätsverlust leidet. Bis zum 1. Oktober hieß es aus Madrid, das Votum werde nicht stattfinden. Als sich das als blamabler Trugschluss erwies, griff die Regierung auf Polizeigewalt zurück und verhalf der Regionalregierung mit den Bildern von blutüberströmten Menschen zu bis dato unbekannter Legitimation.Schon als die Generalitat im Juni das Referendum ausrief, schickte die Moncloa nicht etwa ein Verhandlungsangebot, sondern den Staatsanwalt. Es wurden Dekrete erlassen, um Kataloniens Budgethoheit zu kassieren und die Mossos d’Esquadra, die katalanische Polizei, zentralstaatlicher Hoheit zu unterstellen. Spaniens Parlament aber – das soll erst am 10. Oktober zur Lage in Katalonien tagen.Rajoy genügte die Formel, das Referendum sei verfassungswidrig. Ein zynischer Verfassungspatriotismus. Die Legitimität der 1978 verabschiedeten Magna Charta ist durch zweckgefärbten Umgang längst untergraben. Sie wird schnell geändert, um einer Schuldenbremse Verfassungsstatus zu verleihen, aber mit sieben Siegeln versehen, wenn es um die territoriale Ordnung geht. Dass diese Verfassung ein nicht bindendes, aber immerhin empfehlendes Referendum in Katalonien erlaubt, verschweigt Rajoy. Im Konflikt um eine abtrünnige Region wird das Recht instrumentalisiert.Ebenso verfährt die Generalitat, wenn sie sich ihren Unabhängigkeitswunsch nun im Alleingang erfüllen will. Begründung: Das Gesetz des juristischen Übergangs – am 7. September im katalanischen Parlament verabschiedet – sehe dies so vor. Es wird in Barcelona so getan, als würde nach dem 1. Oktober spanisches Recht nicht mehr gelten. Was dem Kalkül gehorcht: Die Eskalation so weit treiben, dass die EU als Schlichter zwischen Barcelona und Madrid in Aktion treten muss, um die Regierung Rajoy zu einem allseits anerkannten Referendum zu veranlassen und bei einer Mehrheit für die Unabhängigkeit mit Katalonien über einen EU-Beitritt zu verhandeln. Ein waghalsiges Ansinnen. Es käme zum Paradigma einer Sezession in der viertgrößten EU-Wirtschaft. Um genau das zu vermeiden, werden Brüssel, Berlin und Paris gegenüber Spaniens Zentralregierung loyal bleiben. Ändern könnte sich das erst, käme es in Katalonien zum Ausnahmezustand. Bliebe der interne Weg. Er führt über die größte Oppositionspartei, den sozialistischen PSOE von Pedro Sánchez. Der war bisher unsichtbar, indem er sich hinter Rajoy stellte und nur sehr verhalten einen Dialog forderte. Sollte er, angetrieben von der akuten Staatskrise, den Kopf aus dem Sand ziehen, hätte das nur Sinn, würde er sich gemeinsam mit Podemos wie den baskischen und katalanischen Nationalisten zum Misstrauensvotum gegen Rajoys Minderheitskabinett aufraffen. Doch dafür müsste der PSOE einem erneuten Referendum zustimmen, was momentan nur einige katalanische Sozialisten befürworten.Zwischen den verhärteten Fronten stehen die katalanischen Bürger, von denen viele die Wahllokale geschützt haben, ohne Anhänger der Unabhängigkeit zu sein. Jedoch wollten alle ein Zeichen gegen staatliche Repression setzen, wie sich das am 3. Oktober gezeigt hat, als es zum größten Generalstreik in Katalonien seit 30 Jahren kam. Hunderttausende auf den Straßen wollen inzwischen mehr als die Unabhängigkeit. Sie verlangen demokratische Selbstbestimmung. Das Beben hat gerade erst begonnen.