Jedes Land hat seine großen Themen, um die sich vieles dreht. Und in denen es sich verfangen kann. Diese Themen gleichen Elefanten in einer Dunkelkammer. Dort stehen sie und stampfen. Mit etwas Glück kann man auf ihnen reiten. Wenn es fehlt, erdrücken sie einen. Vor den Neuwahlen am 10. November – der vierten Abstimmung über die Cortes Generales in vier Jahren – hat Spanien sogar drei solcher Elefanten. Den ersten kennt man gut. Er versteht es, mächtig zu poltern – es ist die katalanische Frage. Sie behindert die Regierungsbildung in Madrid, lähmt seit Jahren aber ebenso in einem erschöpften Katalonien die Regierungsarbeit. Dieser Elefant ist groß und das vor ihm liegende Leben lang. Wie die jüngsten Proteste zeigen, besitzt die „Independència“ robuste Säulen: Nicht nur viele aus der katalanischen Mittelschicht, auch 20- bis 30-Jährige aus nahezu allen Milieus teilen das Unabhängigkeitsbegehren mit Protesten, die sich kaum mehr in politische Bahnen lenken lassen. Vor allem dann nicht, wenn die Politik in Barcelona und Madrid weiter kompromissunfähig bleibt.
Der zweite Elefant ist in Wirklichkeit ein Leichnam – der des Diktators Francisco Franco. Seit seinem Tod 1975 ruhte der im imposanten Valle de los Caídos, dem Tal der Gefallenen, samt Tausenden Opfern, die als Zwangsarbeiter sein Grab und ihres gleich mit aushoben (der Freitag 9/2018). Endlich, am 25. Oktober 2019, stand Spanien bereit, Franco umzubetten und die letzte monumentale Verherrlichung des Faschismus in Westeuropa zu beenden. Der Oberste Gerichtshof hatte dazu der sozialistischen Regierung sein Einverständnis signalisiert. Für Premier Sánchez wurde das Ganze zum Wahlgeschenk, weil er sich mit dieser viel Symbolik transportierenden Handlung als fortschrittlich und liberal darstellen konnte. Dass die Konservativen, von katholischen Geistlichen flankiert, dagegen Sturm liefen, kam gerade recht. Sie, die Franco-Nostalgiker, verkörpern das alte Spanien und wir das neue, lautet die Losung der Sozialisten. Dieses Kalkül freilich kann verfehlt sein.
Rechtsblock im Anmarsch
Ist Franco wirklich mausetot? Das alte Motto der Diktatur „España, una, grande y libre!“ (Spanien, eins, groß und frei!) scheint zu neuem Leben erweckt. Einerseits ist es eine Gegenreaktion auf Kataloniens Willen zur Unabhängigkeit, andererseits nährt es sich von den Abstiegsängsten und Ressentiments abgehängter Schichten. Die rechte Kritik am „Regime von Linken und Separatisten“, das angeblich seit Franco regiert, wird mit dem Versprechen verbunden, den Spaniern – und nur ihnen – mehr soziale Sicherheit und eine von Korruption gesäuberte Politik zu bieten. Dies verheißt besonders die Partei der Franco-Nostalgiker und Trump-Bewunderer, die rechtsextrem ist und VOX heißt. Sie dürfte beim anstehenden Votum an Zuspruch gewinnen, mit über zehn Prozent hinter den Sozialisten und Konservativen zur drittstärksten Kraft aufsteigen. Wenn eintritt, was nicht mehr unmöglich scheint, eine Mehrheit des rechten Parteiblocks – neben dem konservativen Partido Popular (PP) und VOX zählt dazu die liberale Kraft Ciudadanos, der eine Wahlpleite droht –, dann ist eine Regierung dieser Parteien so gut wie sicher. Ob vom Parlament oder Kabinettstisch aus, VOX könnte sein Programm umsetzen und die Partner vor sich hertreiben. Möglicherweise hat Franco sein letztes Wort noch nicht gesprochen.
Und der dritte Elefant? Es ist der kleinste, ein schlaksiger Mittdreißiger: Íñigo Errejón, seit 2014, als er die Linkspartei Podemos mitgründete, einer der Politstars Spaniens, kandidiert bei der Parlamentswahl. Die Neuheit ist, dass Errejón diesmal auf Abstand zu Podemos geht und nicht mehr zusammen mit Pablo Iglesias antritt, dem Parteichef, sondern gegen ihn. Más País (Mehr Land), heißt Errejóns Partei. Die Prognosen sind bescheiden und liegen bei etwa fünf Prozent. Antreten wird die Errejón-Partei nur in Ballungszentren, wo viele Sitze verteilt werden. In kleinen Wahlkreisen würde das Verhältniswahlrecht dazu führen, dass sich die linken Parteien gegenseitig außer Kraft setzen und die rechten Listen an ihnen vorbeiziehen. Aber selbst so dürfte Más País Podemos mancherorts schaden. Besonders absurd ist die Lage in Barcelona. Dort stellen sich fünf linke Parteien zur Wahl, drei davon links der Sozialdemokratie. Manche fragen sich: War das nötig? Warum tritt Errejón überhaupt an?
Diese Kandidatur hat womöglich psychologische Gründe. Errejóns eher gemäßigte Ideen wurden verdrängt, als Podemos einen dezidiert linken, quasi postkommunistischen Kurs einschlug. Más País ist jedoch mehr als nur ein Racheakt. Bedeutend an Errejóns Partei ist nicht, was sie ist (bisher eine Splitterpartei), sondern wofür sie steht. Es gibt die Auffassung: Der Abtrünnige verkörpert die „konservative Seele der einstigen Bewegung der Empörten“, die seit 2011 Spaniens Politik und Gesellschaft merklich aus der Ruhe brachte. Tatsächlich hält sich Errejón an den Querschnittscharakter der Indignados (Empörten). Seinerzeit schlossen sich Studenten, Arbeitslose oder Migranten den Protesten an, die bis in die Mittelschicht hinein auf Sympathie stießen. Podemos, so Íñigo Errejón, habe diese Anhängerschaft preisgegeben und sich in einer linken Nische eingerichtet. Más País wolle ein Angebot an die ganze Gesellschaft machen.
Doch für mehr sozialen Schutz, Feminismus, ein dezentraleres Territorialmodell oder Ökologie setzt sich auch Podemos ein. Der Unterschied besteht in der kämpferischen Sprache, die Podemos gebraucht, um mit sozialen Bewegungen gegen mächtige Wirtschaftslobbyisten und ihre politischen Repräsentanten anzutreten. Errejón dagegen bevorzugt eine mehr unpolitische Rhetorik, meidet Protest und deutet soziale Missstände als Auftrag an die öffentlichen Verwaltungen, um Konflikte zu lösen. Sein Parteiprogramm könnte mit „Was tun?“ überschrieben sein.
Unvollendete Modernisierung
Angestrebt wird ein Green New Deal: ökologische und digitale Modernisierung der Wirtschaft, das Heilen sozialer Wunden und eine territoriale Neuordnung. Es geht demnach wie bei den Sozialisten darum, die unvollendete Modernisierung des Landes zu vollenden. Más País versteht sich offenbar als Werkzeug, um ein Spanien der zufriedenen Mittelklasse wiederherzustellen, um Arbeitslosigkeit, Zeitarbeit und Armut (die über dem Durchschnitt der EU liegt) und das Gezänk der Politiker einzudämmen. Errejón gibt sich tugendhaft: Wir wollen mitregieren und akzeptieren pragmatische Kompromisse. Mit den Sozialisten will er nach der Wahl zusammenarbeiten. Es verstehe sich von selbst, dass man als Juniorpartner Zugeständnisse machen müsse. Tatsächlich sieht Errejón seinen Platz zwischen den Sozialisten und Podemos, als ein Scharnier, das beide Lager endlich zusammenführt und ihnen nebenher Wähler streitig macht.
Die Más País symbolisiert die Suche nach sich selbst, mit der Spaniens Linke, die Sozialdemokratie inklusive, seit Jahren beschäftigt ist. Während der Rechten das Fahnenschwenken, die Ordnungsliebe und die freie Wirtschaft als Programm reichen, gibt es bei der Linken Defizite. Sie müsste – die Basis fordert es schon lange – ihre Parteistrukturen überdenken, sie demokratisieren und dies dann auf das politische System insgesamt übertragen. Und dann käme das Entscheidende, die Zukunftsvision. Welches Land wollen wir? Wird die Linke nach der Wahl am 10. November noch einmal eine mutmaßlich letzte Chance erhalten, darauf eine Antwort zu finden, die in einer mutigen linken Regierung besteht? Oder werden nach diesem Urnengang nur mehr zwei Elefanten bleiben? Kataloniens Unabhängigkeitsträume und das postfaschistische Lager? Es wäre ein ärmeres Land.
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