Es war nur ein Moment

Spanien Die katalanische Republik kommt zunächst über ihren ersten Tag nicht hinaus
Ausgabe 44/2017

Es geschah am 27. Oktober gegen 15.30 Uhr – da beschloss das Parlament de Catalunya mit knapper Mehrheit (70 von 135 Abgeordneten) die Gründung der „katalanischen Republik als unabhängiger und souveräner Staat“. Doch die ernsten Gesichter, die steife Körpersprache vieler Deputierter, die dem zustimmten, ließ einmal mehr wissen, dass Parlamentsvoten keine vollendeten Tatsachen schaffen. Bis auf weiteres bleibt Katalonien eine Region Spaniens, obendrein eine von Madrid zwangsregierte, wie das Verfassungsartikel 155 zugesteht. Die Zentralregierung ist inzwischen dabei, die Regionaladministration abzuservieren und muss nur darauf achten, nicht allzu sehr als Besatzungsmacht empfunden zu werden, die Katalonien mit aller Macht in die Knie zwingt.

Denn dies – und nichts anderes – bewirkt eine Unabhängigkeitserklärung, die als Widerstandserklärung treffender bezeichnet wäre. Damit wagen Puigdemont und seine Koalition aus Junts pel Sí und CUP das bislang gefährlichste Manöver. Sie verlagern den Konflikt von den Institutionen auf die Straße, indem sie dazu aufrufen, einem repressiven Zentralstaat mit friedlicher Mobilisierung und massivem zivilem Ungehorsam zu begegnen. So lange, bis sich die EU zum Eingreifen gezwungen sieht. So weit das Kalkül, das allein schon deshalb kühn und fragwürdig erscheint, weil von einem Volk, das geschlossen für die neue Republik auf die Straße geht, wenig zu spüren ist. Für manche Katalanen ist die proklamierte Unabhängigkeit ein „historischer Akt“, für andere der Grund für ein gleichgültiges Achselzucken. Die Menschenmenge, die am 27. Oktober in der Innenstadt feierte, wirkte gelichteter als an vielen anderen Tagen in diesem unendlichen Oktober mitsamt Referendum, Streik, Demonstrationen und Gegendemonstrationen. 48 Stunden später, am Sonntag, zogen 300.000 für die spanische Einheit durch Barcelona.

Virtuelle Souveränität

Beim Feiern einer virtuellen Souveränität blieb der harte Kern der Independentistes unter sich, darunter viele Jugendliche und unter 30-Jährige, die mit dem Unabhängigkeitsprozess politisch sozialisiert worden sind. Dies nahm zuweilen bizarre Züge an, wenn junge Linke mit Piercings, Trekkingschuhen und Polit-Shirts einem Wagen der Mossos d’Esquadra, der katalanischen Regionalpolizei, fröhlich winkten und riefen: „Ihr seid unsere Polizei!“

Die sich derzeit stellenden Fragen lauten: War eine rein symbolische Unabhängigkeitserklärung den größten Autonomieentzug seit der Franco-Diktatur wert? Ist Puigdemont letzten Endes ein realitätsferner Träumer, der dafür verantwortlich zeichnet, dass Katalonien in einem Maße diszipliniert wird, wie sich das gerade abzeichnet? Hat er den Druck unterschätzt, der vom katalanischen Establishment ausging, das die Proklamation der Unabhängigkeit um jeden Preis verhindern wollte? Aus Puigdemonts eigener Partei, dem konservativen PDeCat, mahnte Ex-Präsident Artur Mas – noch immer Strippenzieher im Hintergrund – in der letzten Woche zur Vorsicht und zum Last-Minute-Kompromiss mit Madrid. Maßgebliche Wirtschaftskreise und das einflussreiche Blatt La Vanguardia taten es ihm gleich. Fürwahr schienen Barcelona und Madrid kurzzeitig – dank der Vermittlung des baskischen Präsidenten Íñigo Urkullu – auf einen Kuhhandel einzugehen: Die einen verzichten auf die Unabhängigkeitserklärung, die anderen auf die Aktivierung von Artikel 155 unter der Bedingung, in Katalonien schon bald Neuwahlen auszurufen. Kaum war etwas davon durchgesickert, schon beschimpften die Independentistes Puigdemont vor dem Regierungssitz als Vaterlandsverräter. Diese Schmähung orchestrierten rigide Töne aus Madrid. Die Falken der konservativen Regierungspartei PP wollten trotz eines möglichen Verzichts auf die Unabhängigkeitserklärung die Hand nicht vom roten Knopf des Artikels 155 nehmen. Derart unter Druck bot Puigdemont seinem Vize, Oriol Junqueras – eigentlich der große Unabhängigkeitspolitiker –, das Präsidentenamt an, damit er entscheide. Junqueras lehnte ab. Warum, ist ungeklärt. War es Unsicherheit oder taktisches Räsonnement? Puigdemont blieb auf sich gestellt, verwarf jeden Kompromiss und die Option vorzeitiger Neuwahlen. Stattdessen sollte das Parlament de Catalunya darüber entscheiden, wie auf die von Madrid angedrohten Repressionen zu reagieren sei. Die Konsequenz war die Unabhängigkeitserklärung.

Am Samstag, dem Tag eins der neuen Republik, machten sich die beiden großen Unabhängigkeitsparteien, der konservative PDeCat und der sozialliberale ERC, nicht etwa daran, das neue Staatsgebiet zu verwalten. Vielmehr gingen sie erst einmal ins Wochenende, um darüber nachzudenken, wie man – wieder mit einer Einheitsliste oder diesmal getrennt – zu den Wahlen vom 21. Dezember antreten würde. Kataloniens Unabhängigkeit ist bloß für eine Partei mehr als ein strategisches Manöver ohne Wirklichkeitsbezug – die linksradikale Candidatura d’Unitat Popular (CUP). Sie hat zur Verteidigung der Republik Katalonien aufgerufen. Überall im Land sollen basisdemokratische Komitees den Widerstand anführen, um aus Katalonien ein „friedliches Vietnam“ gegen die spanische Besetzung zu machen, so CUP-Politiker Pau Llonch. Gewiss, bei der Organisation des Referendums vom 1. Oktober spielten Basiskomitees eine wichtige Rolle. Doch eine Neugründung Kataloniens von unten (mit allem, was dazugehört) dürfte vorerst ein Tagtraum bleiben, gehegt im speziellen Milieu der Unabhängigkeitslinken. In Cornellà beispielsweise, einer Arbeiterstadt im Industriegürtel Barcelonas, ist alles andere als eine Atmosphäre des Umbruchs zu spüren. Wegen der Unabhängigkeitseskapaden schwankt die Stimmung zwischen Wut und Angst. „Sind die Independentistes verrückt geworden? Möchten sie, dass Panzer einrollen?“, so eine häufige Frage.

Mit der Furcht vor einem Militäreinsatz spielen die antiseparatistischen Kräfte gern, besonders gilt das für die Partei Ciudadanos mit ihrer Melange aus Wirtschaftsliberalismus und Ultranationalismus. Sie beschimpft Puigdemont als „Putschist“ und drängt auf eine harte Anwendung des Verfassungsartikels 155, was viele Juristen als Einstieg in eine Rezentralisierung Spaniens sehen. Die Rechtskonservativen können sich nicht nur deshalb die Hände reiben. Der Katalonien-Konflikt hält Premier Rajoy an der Macht. Die Wirtschaftskrise und soziale Zerklüftung der Gesellschaft werden mit Nationalpathos übertüncht. Jeder dritte Spanier lebt unter der Armutsgrenze, im Augenblick aber genießt die Abwehr der separatistischen Versuchung Priorität.

Um es klar zu sagen: In den zurückliegenden Jahren hielten sich in Madrid und Barcelona zwei rechte Regierungen in Schach. Das katalanische Kabinett ging vielleicht etwas aufmerksamer mit sozialen Forderungen wie dem Verbot von Zwangsräumungen und der Bekämpfung der Energiearmut um. Doch hätte die Puigdemont-Regierung mit ihren Kompetenzen sehr viel mehr für die Bürger erreichen können. Wie sonst wollte man eine Mehrheit für die Unabhängigkeit gewinnen? Stattdessen wurden so viele Ressourcen in eine spekulative Erzählung gesteckt: Die Unabhängigkeit werde sich schlagartig vollziehen und von allen Sorgen befreien. Man hat auf Sehnsüchte gesetzt und delegiert jetzt einen Konflikt an die Bürger, den das Lager der Sezession selbst nicht mehr zu lösen vermag.

Diese wirren Tage

In diesen wirren Tagen, da in Katalonien eine merkwürdige Doppelautorität von Rajoy in Madrid und dem abgesetzten Puigdemont in Barcelona herrscht, stellt sich die Frage: Was nun? Der erste Schritt wäre eine paradoxe Geste: Die Zentralregierung müsste Katalonien als Nation anerkennen und ihr das Selbstbestimmungsrecht zumindest in Aussicht stellen. Die Puigdemont-Regierung ihrerseits sollte sich vom Anspruch verabschieden, nur sie repräsentiere das katalanische Volk. Dieses Volk gab es noch nie im Singular, sondern stets nur im Plural. Und der vereint viele, sehr verschiedene politische Subjekte, Ambitionen und Ängste, die sich mitnichten decken. Demokratie beginnt dort, wo die politischen keine feindlichen Lager sind, sondern sich als Gegner anerkennen und gegenübertreten. In Katalonien muss mehr denn je daran erinnert werden.

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Geschrieben von

Conrad Lluis Martell | conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

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