Für Flüchtlinge auf der Straße

Katalonien Am Samstag fand in Barcelona die bisher größte Demonstration Europas für die Aufnahme von Flüchtlingen statt. Ein Bericht

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„Genug Ausreden, wir möchten jetzt aufnehmen!“
„Genug Ausreden, wir möchten jetzt aufnehmen!“

Bild: Imago/Zuma Press

Die bisher größte Demonstration Europas für die Aufnahme von Flüchtlingen fand an diesem Samstag, 18. Februar, in Barcelona statt. Zwischen 160.000 (Polizei-Angabe) und 300.000 (Angaben der Organisatoren) Menschen marschierten unter dem Leitmotiv „Unser Haus, Euer Haus“ friedlich durch Barcelonas Innenstadt. Der Marsch sendete ein Zeichen gegen den europäischen, ja globalen Trend hin zu mehr Abschottung, Nationalismus und Angst vor Fremden. „Barcelona steigt zur zivilen Avantgarde Europas auf“, so formulierte es der Journalist Iñaki Gabilondo im Radiosender Cadena Ser.

„Kein Mensch ist illegal!“ – „Wir möchten aufnehmen!“ – „Genug Ausreden, wir möchten jetzt aufnehmen!“ – das waren nur einige der Mottos einer Demonstration mit ausgelassener Stimmung. Viele Protestierende waren selbst überrascht ob der hohen Teilnehmerzahl. „Ich hätte nie gedacht, dass so viele Leute kommen“, meinte z.B. die Demonstrantin Anna, die aus der Kleinstadt Sant Celoni (50 Kilometer nördlich von Barcelona) angereist war. Nebst seiner Größenordnung zeichnete sich der Aufmarsch durch seine Transversalität – seinen Querschnittscharakter – aus: Pfadfindergruppen und Rentnervereine, linksalternative Milieus, Unabhängigkeitsaktivisten, Parteien aus allen ideologischen Spektren, eben aber auch „ganz normale“ Durchschnittsbürger kammen zusammen, um die Aufnahme von mehr Flüchtlingen einzufordern. Bisher nahm Spanien von den avisierten 17.000 Flüchtlingen, zu denen es sich verpflichtet hatte, kaum 900 auf.

Die Gründe für den Erfolg des Aufmarsches sind vielfältig. Zunächst ist da die ausgezeichnete Organisation. Vorangetrieben von der Plattform Casa nostra, casa vostra und unterstützt von den großen Mediengruppen Kataloniens fand eine Woche vor der Demonstration in einem überbordenden Palau Sant Jordi (15.000 Besucher) bereits ein Benefizkonzert statt, in dem die Crème de la Crème der spanischen Sängerlandschaft (von Lluís Llach über Marina Rosell hin zu Paco Ibáñez) und Starjournalisten wie Jordi Èvole oder Gemma Nierga mitwirkten. So wurde Stimmung für die Mobilisierung geschürt, die Medienaufmerksamkeit genauso wie die Facebook- und Twitter-Öffentlichkeiten auf das Flüchtlingsthema gelenkt. Auch Barcelonas linkes Rathaus unter Ada Colau unterstützte den Aufruf kräftig, erkannte man darin doch eine Chance, hinter der eigenen „Refugees-Welcome-Kampagne“ soziale Muskeln aufzubauen und damit die Zentralregierung unter Handlungsdruck zu setzen.

Letztlich entscheidend für den Erfolg der Demonstration am Samstag scheint aber eine politische Konjunktur, die für Katalonien spezifisch ist. Zum einen der Aufwind der Unabhängigkeitsbewegung, die seit Jahren Millionen mobilisiert und sich in einer Regierung niederschlägt, die den Kurs auf Unabhängigkeit setzt (das Unabhängigkeitsreferendum ist für September 2017 angekündigt). Zum anderen die Brisanz neuer linker Bewegungen und Parteien, die mittlerweile in Barcelona, Badalona, Castelldefels und anderswo regieren – zurzeit wird eine linke Sammelpartei gegründet, die bei den nächsten Wahlen zur Regierungsalternative avancieren möchte.

Dieses Zusammenkommen legt offen, wie die nationale Frage, die Forderung nach einem unabhängigen Katalonien – oder zumindest für ein katalanisches Selbstbestimmungsrecht – und die soziale Frage, die Forderung nach mehr sozialem Schutz, Sozialstaatlichkeit und der Vertiefung demokratischer Teilhabe zusammenkamen, ja ineinander übergingen. Mit der Forderung offener Grenzen verband ein Teil der Protestierenden (und so bewiesen es die vielen Unabhängigkeitsfallen) ihre Kritik an der spanische Zentralregierung und ihre Sehnsucht danach, dass ein freies Katalonien mehr soziale Rechte und offenere Grenzen besäße. Für andere Teilnehmer war der Protest auch gegen die katalanische Regionalregierung gerichtet, die der verbalen Zusage von mehr Flüchtlingen sowie einer insgesamt anderen Sozialpolitik bisher nur spärlich Taten folgen ließ. Der Slogan „Prou excuses, volem acollir“ („Genug Ausreden, wir möchten aufnehmen“) war also nicht nur als Druckmittel gegen die Politiker in Madrid gedacht, sondern auch gegen die in Barcelona gerichtet. Auf der Samstagsdemonstration „verschmutzten“ (bzw. hybridisierten) sich die zwei große Politisierungsachsen Kataloniens gleichsam. Nationale und soziale Forderungen gingen ineinander über und konvergierten in einer großen Grundbotschaft: Die katalanische Gesellschaft ist offen. Sie möchte Flüchtlinge aufnehmen, hier und jetzt.

Letztlich zählte also nicht so sehr, was die jeweiligen Einzelpersonen oder Kollektive mit dem Protest „eigentlich“ beabsichtigten, sondern die Tatsache, dass dieser Protest stattfand, und dass er es als Protest aller tat. Um gegenüber den Trumps, Le Pens und Petrys in die Offensive zu gehen, bedarf es breiter (und tiefer) Fronten, dem Zusammenkommen verschiedener Gesellschaftsgruppen, unnachgiebiger Politisierung von unten.

Am Samstag trieb ein kaum achtjähriger Junge manch einem Protestler die Tränen in die Augen. Über der Menge stehend, schwenkte er sein kleines Banner und rief wieder und wieder, eine halbe Stunde lang: „Wir nehmen auf! Wir öffnen die Grenzen.“ In Augenblicken wie diesen wird Zukunft geschrieben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

conrad lluis

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