Wenn Katalonien und Spanien derzeit eines eint, dann sind es die Zweifel. Sie erfassen die Separatisten und ihre Gegner, die Vermittler sowieso. Allesamt sind sie Gefangene einer Dynamik, die alle befeuern und niemand lenkt. Freilich, der letzte Auslöser für die Unruhen in Katalonien ist offenkundig. Es war das Urteil des Obersten Gerichts vom 14. Oktober gegen die Unabhängigkeitspolitiker, die wegen des Referendums vom 1. Oktober 2017 und der sich anschließenden „symbolischen“ Unabhängigkeitserklärung inhaftiert sind. Anders als von der Staatsanwaltschaft beantragt, erfolgte keine Verurteilung wegen Hochverrats (rebelión), sondern wegen Aufruhrs (sedición) sowie im Fall der Amtsträger wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder. Die Haftstrafen fielen dennoch sehr hoch aus, sie umfassen teils mehr als ein Jahrzehnt.
Der Rechtsstaat will in Gestalt seiner höchsten strafrechtlichen Instanz sein Urteil gesprochen haben, was äußerst gegensätzliche Deutungen provoziert. Erleichtert reagierten die Madrider Interimsregierung des Sozialisten Pedro Sánchez wie die sozialliberalen Medien, angeführt vom Blatt El País. Dessen Tenor: Die Strafen gegen die Unabhängigkeitspolitiker seien hart, aber nicht so hart, dass die Gräben zwischen Katalonien und Spanien unüberbrückbar würden. Der Separatismus zerbreche an der harten Mauer der Justiz, doch könnten die Gefangenen schon bald Hafterleichterung erhalten. Gegen diese Aussicht empört sich Spaniens Rechte. Sie sei enttäuscht, gestand die Konservative Cayetana Álvarez de Toledo nach dem Urteil. Eine Haltung, die nicht nur rechte Falken teilen, sondern auch beachtliche Teile der Bevölkerung, die sich mehr Vergeltung gewünscht hätten. Genau das – erbarmungslose Revanche gegenüber einem Akt demokratischer Selbstbestimmung – sehen die Independentistas im Urteil von Madrid. Dass die Spielräume des Gerichts durch ein Strafgesetzbuch reguliert werden, das 1995 die katalanischen Parteien ausdrücklich mit aus der Taufe hoben, während sich die Konservativen enthielten, ist heute, da nur gut oder böse gilt, keine Randnotiz mehr wert. Eine postfranquistische Justiz, die einen autoritären Staat vertritt, möchte uns mundtot machen! – rufen die Unabhängigkeitskräfte.
Der Bruch – hier und jetzt!
Folglich reagieren sie mit massenhafter Mobilisierung, die am Wochenende mehr als eine halbe Million Menschen in Barcelona zusammenfinden ließ, wie üblich heiter und friedlich. Doch blieb es an den Tagen und vor allem in den Nächten, die dem Urteil folgten, nicht beim friedfertigen Protest, sondern kam es erstmals zu gewalttätigen Unruhen. Einige tausend Demonstranten lieferten sich in der katalanischen Kapitale und andernorts Scharmützel mit den Einsatzkräften. Ebenfalls zum ersten Mal seit dem Unabhängigkeitsvotum von 2017 wurden Barrikaden gebaut, worauf die Gegenseite mit Tränengas und Gummigeschossen antwortete. Zudem fand sich der Flughafen unter dem Motto blockiert: „Wir machen Hongkong“, also tatsächlich ein „wirklicher“ Protest, der einer sensiblen Infrastruktur wie dem öffentlichen Leben zusetzt.
Die Geschehnisse markieren einen Wendepunkt. Sie legen offen, in welchem Dilemma die Unabhängigkeitsbewegung steckt. Ihre alten Anführer sind in Haft oder – wie Carles Puigdemont – im Exil, ihre neuen wissen nicht weiter. So ruft Kataloniens derzeitiger Premier Quim Torra zum zivilen Ungehorsam gegen „Madrid“, doch beschränkt sich eigener Ungehorsam auf blumige Rhetorik. Als Torra jüngst bekundete, noch in dieser Legislaturperiode das Plebiszit über die Unabhängigkeit wiederholen zu wollen, überraschte das selbst sein Kabinett. Schnell wurde der Vorstoß begraben. Auch jene, die auf Dialog mit Madrid setzen, haben es schwer. Teile der Unabhängigkeitsbewegung möchten nicht verhandeln, sondern den Bruch – hier und jetzt. Es ist kein Zufall, dass Gabriel Rufián, ein Unabhängigkeitspolitiker, der im spanischen Parlament passioniert Kataloniens Interessen verteidigt und jüngst die Erwartungen in Sachen Independència zurückgeschraubt hat, aus einer Demonstration in Barcelona mit der Parole vertrieben wird: „Verräter! Du repräsentierst uns nicht! Hau ab nach Madrid!“
Die Jungen sind ungeduldig
Das richtete sich nicht nur gegen Rufiáns Kurs der Vorsicht, sondern hauptsächlich dagegen, dass dieser Politiker jede Gewalt – auch die des eigenen Lagers – verurteilt und zu friedfertigen Protesten aufgerufen hat. Das Ganze ist nur ein Symptom für einen inneren Riss, wie er die Souveränitätsbewegung durchzieht. Auf der einen Seite eine Mehrheit, die weiter auf gewaltlosen Widerstand setzt, auf der anderen eine Minderheit, die das familienfreundliche Demonstrieren satthat und insistiert: So kann es ewig weitergehen, tun wird sich nichts. Viele davon sind jung, zwischen 20 und 30 Jahre alt, die groß wurden mit dem – nie ganz aufrichtigen – Versprechen einer raschen Independència, die Spanien billigen und die EU begrüßen werde. Nun meint diese militante Basis von unten forcieren zu können, was „von oben“ misslungen ist – im Zweifel mit Gewalt.
Die Reaktion der Konservativen und Ultrarechten auf die Unruhen in Katalonien fällt nicht weniger brachial aus. Sofort wurde ein Einschreiten verlangt, die Autonomie der Region solle erneut aufgehoben werden, manche fordern gar den Ausnahmezustand. Nicht zuletzt hofft man auf die politische Rendite für kategorische Kompromisslosigkeit bei den Neuwahlen am 10. November. Die Rechtspopulisten der Partei Vox erleben ein Umfragehoch. Im Grunde ist der Ruf nach einem Eingreifen in Katalonien nicht weniger militant als das Verhalten der „Chaos-Separatisten“, die angeblich alles in Brand stecken. Die Rechten glauben, mit Gewalt, diesmal von staatlicher Seite, lasse sich das katalanische Problem beherrschen – Gewalt als letztes Aufgebot. Das verlangt absolute Hingabe, verdrängt Zweifel und Zweifler. Gewalt soll richten, was auf anderem Wege nicht mehr zu richten ist.
Kommentare 7
Gegen eine Politik und ein Urteil, die friedlichen Bürgerprotest mit Polizeiknüppeln niederschlagen und mittels drakonischer Strafen kriminalisieren, war schlichtweg nichts anderes zu erwarten. Nun ist die Lage verfahren. Nein – nicht nur verfahren: Die zentralspanische Regierung und ihre Justiz haben sich – in bester franquistischer Tradition und basierend auf nichts als der Hybris ihres Allmachtverständnisses – ein Bürgerkriegsterrain geschaffen, dass im Grunde auf nichts anderes mehr zulaufen kann als auf baskische Zustände wie in den Siebzigern und Achtzigern. Gegenterror, staatliche Geheimkommandos, extraletale Staatsaktionen, Infiltration, Überwachung und Blockwart-Gesetzespakete inklusive. Kurzum: Es ist ein Sieg franquistischer Zustände auf breiter Linie. Wird diese Hybris zusätzlich von einem entsprechenden Wahlergebnis untermauert und einer daraus folgenden Rechtsregierung (wofür im Moment einiges spricht), hat Spanien die Schwelle zum Lager der autoritär regierten Länder überschritten – langfristig möglicherweise sogar mit einem eigenen, landesspezifischen Kurdenproblem.
Dass die spanische Linke (in die ich die PSOE an der Stelle einmal einbeziehe) nicht über genug Klarsicht und Weisheit verfügt, diese Mechanismen zu erkennen, ist ein Armutszeugnis, dessen Folgen vermutlich weitaus schwerer wiegen werden als die Unterstützung der bonapartistischen Diktatur von Primo de Riviera vor rund 100 Jahren: Die Kollaboration mit der ersten spanischen Diktatur wurde recht schnell gecancelt. Die – lediglich mit etwas Sich-Zieren einhergehende – Ehe mit den aktuellen Rechtskonservativen indess dürfte die komplette Architektur des spanischen Links-Rechts-Gefüges sprengen.
Und an der mittig-linksreformistischen Position nichts weiter hinterlassen als einen Riesen-Krater.
Eine korrekte Analyse der Situation. *****
Die Falange ist ohnehin geladen, seit der Umbettung des Caudillo. Sollten in Katalonien ETA-Verhältnisse kommen, die alte ETA im Baskenland womöglich ein comeback feiern und von "Andaluz" aus die Migrantenschwemme das Land in die Zange nehmen, dann Gnade für Castilla La Mancha.
Ich sympathisiere mit den Katalan:innen, aber ich denke auch, dass sie Trauntänzer sind. Um einen neuen Staat zu gründen, muss ja nicht nur Madrid zustimmen, sondern auch die internationale Gemeinschaft, vor allem die Europäer. Soweit ich die lange katalanische Geschichte kenne, stand Katalonien stets auf der Seite der Verlierer. Heute ist es kaum anders: so kann ich mir nicht vorstellen, dass z. B. Frankreich, Nachbarstaat und bedeutende europäische Nation, einem katalanischen Staat jemals zustimmen wird. Sie werden vorbeugen, dass der katalanische geprägte Teil von Frankreich irgendwann eventuell sich Katalonien anschließen will. Auch andere Landesteilen von F sollen zusammen gehalten werden. Ähnliches gilt auch für andere EU-Staaten. Da kann man also schon mit erheblichem Widerstand in der EU rechnen. Separatismus ist nicht beliebt bei den europäischen Regierungen, ich vermute sogar, dass es eine heimliche antiseparatistische Staatsraison der EU-Staaten gibt. Insofern müsste so ein separatistisches Referendum mindestens 2/3 der Stimmen bekommen, um bei den EU-Staaten zumindest Eindruck zu machen, durchgewunken wird es dann trotzdem nicht automatisch. Katalonien ist also weit entfernt von der Unabhängigkeit. Es ist nicht ok, dass die Separatisten den Katalanen nicht die Wahrheit gesagt haben, sondern so tun, als ob es nur auf Madrid ankäme, dass knapp 50% in einem Referendum ausreichen, der Rest käme wie von selbst. Dem ist nicht so und deshalb bleibt die Unabhängigkeit eine Traumtänzerei. Es wäre besser, sich mit anderen spanischen Provinzen zu verbünden, um eine Reform des spanischen Konföderalismus zu erkämpfen. Das wäre realistischer und so wäre die Chance größer, Forderungen der katalanischen Unabhangigkeitsbewegung durchzusetzen.
Hat die geschäftsführend noch im Amt weilende linke Minderheitsregierung eigentlich nur Francos Grab aus dem Tal der Gefallenen verlegt oder auch das von Primo de Rivera?
Jedenfalls können die Katalanen von Glück sagen, dass nicht die Rechten in Madrid regieren, sondern das Relikt einer zahnlosen Linksregierung, sonst würde bei fortgesetzten Versuchen, den Staat zu zerstören (die spanische Linke war stets latent anarchistisch) demnächst Blut fließen.
Das hier ist erst der herzallerliebste Anfang.
Tagesschau-Schlagzeilen über demonstrierende Separatisten im NATO-Medium No.1 von heute:
27.10.2019 10:18 Uhr
Proteste in Hongkong
Polizei löst Demo gewaltsam auf
27.10.2019 02:10 Uhr
Separatisten demonstrieren
Gewaltsame Proteste in Barcelona
Hier nur noch eine kleine Ergänzung zum Artikel. Diejenigen unter Ihnen, die Spanisch verstehen, dürften diese Interviews von der Zeitung El País mit jungen Unabhängigkeitsprotestler/innen interessant finden:
https://elpais.com/politica/2019/10/25/actualidad/1572000781_836538.html
Aus meiner Sicht spiegeln sich in den Haltungen der Interviewten recht prägnant einige der Motive wieder, die nun die Unabhängigkeitsbewegung, gerade ihren jüngeren, weniger gemäßigten Flügel durchziehen.