Schnittig mittig

Spanien Die Sozialisten wollen nach dem Sieg bei der Parlamentswahl allein regieren – mit wechselnden Mehrheiten
Ausgabe 21/2019

Zwei Lager, ein linkes und ein rechtes, haben sich vor der Parlamentswahl vom 28. April nichts geschenkt. Sie ließen keine Gelegenheit aus, im Rivalen den Gegner zu sehen, der attackiert gehörte. Fortschritt gegen Rückschritt, das lebendige, das nationale Spanien gegen Putschisten und Linksradikale, das um Befreiung ringende Katalonien gegen einen repressiven Zentralstaat – so einige der Zuschreibungen, die den Wahlkampf beherrschten, ja monatelang die Debatten prägten und weiter prägen. Diese Polarisierung brachte auf dem linken wie rechten Flügel zusammen, was nicht recht zusammengehört. Ungeachtet dessen gab es einen klaren Gewinner: den Regierungs- und Sozialistenchef Pedro Sánchez. Mit knapp 29 Prozent und 7,5 Millionen Wählern konnte er seine PSOE aus einer existenziellen Krise führen. Er empfahl sich vor der Wahl des EU-Parlaments als Hoffnungsträger für die nicht eben von Aufstiegen verwöhnten Sozialdemokraten Europas.

Trotz des Sánchez-Erfolgs lag das linke Lager nur knapp vor dem rechten. Beide kamen am Wahltag auf etwa 43 Prozent, obschon sich die Linken, bedingt durch das Wahlrecht, mit 165 gegen 149 Sitze im Parlament behaupteten. Weiterhin stach das brillante Ergebnis der baskischen Nationalisten und katalanischen Unabhängigkeitsparteien hervor. Besonders, dass in Katalonien mit der Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC/24,6 Prozent) jener Flügel der Unabhängigkeitsbewegung gesiegt hat, der sich mit den Sozialisten verständigen und mehr für soziale Fragen engagieren will. Bedeutet das freie Fahrt für eine linke Koalitionsregierung von PSOE und Podemos, gestützt durch Basken und Katalanen? Eine parlamentarische Mehrheit dafür gäbe es. Eine Variante freilich, die Kommentatoren rechter Medien wegen des Einschlusses der katalanischen, klar linksrepublikanischen ERC schon vor jeglichen Verhandlungen als „Frankenstein-Regierung“ denunzieren.

Allerdings zog keine 24 Stunden nach dem Urnengang die maßgebliche Kraft einer möglichen linken Allianz erst einmal zurück. PSOE-Minister José Luis Ábalos erklärte, den Sozialisten sei – anders als im Wahlkampf verbreitet – eine Minderheitsregierung, also der politische Alleingang, am liebsten. Für Regierungsinitiativen ließen sich flexibel – sowohl links als auch rechts – Mehrheiten organisieren. Ähnlich äußerte sich Pedro Sánchez, als er Anfang Mai alle Parteichefs zu informellen Gesprächen einlud – und sich gegenüber den Konservativen betont dialogbereit gab. Dieser Schwenk blieb nicht auf Sánchez beschränkt.

Auch Pablo Casado, Chef der konservativen Volkspartei (PP), verhielt sich gegenüber dem PSOE plötzlich konzilianter als zuvor. Er einigte sich mit Sánchez, einen „ständigen Dialogkanal über die separatistische Herausforderung“ aufrechtzuerhalten. Und überhaupt schlug er ganz neue Töne an. Im Handumdrehen war der 38-jährige Casado nicht mehr der schrille, stets etwas überaggressive Hardliner, der in den vergangenen Monaten die Volkspartei auf stramm rechten Kurs gebracht und die Sozialisten brüskiert hatte, um mit den Rechtspopulisten der Partei Vox Schritt zu halten. Teilweise war bei der Wahlkampagne der Eindruck entstanden, mit den Parolen des Partido Popular gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Katalanen sollte Vox imitiert werden.

Als Pablo Casado nun aber – nach der Sondierung mit Sánchez – eine Pressekonferenz abhielt, schien er zum gemäßigten Oppositionsführer mutiert. Wie treffend schien da das neue Motto der Konservativen für die Regional-, Kommunal- und Europawahlen vom 26. Mai: „Auf Deine Zukunft zentriert!“ Trifft das „Zentrieren“ auf den PP selbst zu? Wenn Casado als Partevorsitzender in diesem Augenblick die Zukunft wieder als große Mitte-rechts-Kraft sieht, darf man wohl oder übel nicht weiter nach rechts ausscheren.

Kehrt der PP über das Zentrum zurück zur Mitte? Ein denkbares Kalkül nach dem schlimmsten Debakel der vergangenen Jahrzehnte, wenn mit einem Wähleranteil von 16,7 Prozent und nur noch 66 Mandaten der Einbruch – 2016 gab es immerhin 33 Prozent – perfekt ist. Jedenfalls schien die Tendenz erkennbar, dass sich Konservative und Sozialisten vor der Europawahl vom Lagerdenken abwenden.

Ein neues soziales Pathos

Beide Parteien suchen ihr Heil in einer mutmaßlich wenig ideologisierten Mitte, also den Teilen der Gesellschaft, die laut Forschungsinstitut CIS bei der Eins-bis- zehn-Skala (1: linksextrem, 10: rechtsextrem) die Werte zwischen vier und sechs bedienen. Also dort, wo sich dem CIS zufolge über die Hälfte der Bevölkerung sieht. So hieß es nach der Parlamentswahl bei den Analysten übereinstimmend, der PSOE-Erfolg beruhe auf einem zentralen Faktor: Nur diese Partei habe „das Zentrum bespielt“, die anderen ließen die Mitte unbesetzt. Sogar auf die rechtsliberalen Ciudadanos (Cs) träfe das zu. Der Journalist Arsenio Escolar hielt fest: „Früher stand Cs auf der ideologischen Skala bei 5,5 und galt als mustergültiges Zentrum. Heute rangiert die Partei bei über 7,0 und damit sehr nah an den Konservativen. Die drei rechten Kräfte – Liberale, Konservative und Rechtspopulisten – haben fast ein und dasselbe angeboten.“ Es kam hinzu, dass nach der Parlamentswahl die Ciudadanos-Führung ein Regierungsbündnis mit Pedro Sánchez wie schon im Wahlkampf ausdrücklich verneint hat. Der designierte Regierungschef schien das jedoch nie über Gebühr ernst zu nehmen.

Werden Wahlen in Spanien im Zentrum gewonnen, nicht rechts oder links? Trifft das wirklich zu? Wenn die zuletzt keineswegs ruhigen Jahre eines zeigen, dann dies: Was als Zentrum gilt, steht nicht fest – es verschiebt sich permanent. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise wie dem Protestzyklus von 2011 bis 2014 wuchs die soziale Sensibilität. Wer ein Ende der Austerität, ein gerechteres Sozialmodell oder eine radikalere Demokratie verlangte, war mehrheitsfähig. Dieses neue soziale Pathos schrieb sich, so die Meinungsforscher, auch bei jenen Milieus ein, die sich selbst als konservativ beurteilten – und konservativ wählten. Ähnliches, jedoch mit einer anderen Tendenz, gab es ab 2017 mit der Katalonien-Krise. Die Unabhängigkeitsbewegung provozierte im restlichen Spanien ein Anschwellen des Nationalismus. Im Grunde dreht sich seit 2017 – folgt man den Daten der CIS-Demoskopen – die gesellschaftliche Debatte vorrangig um die nationale Frage. Die Rechte profitierte davon besonders in Zentralspanien, die Linke wuchs überwiegend in peripheren Regionen, wo eigene Nationalismen bestehen.

Was „das Zentrum“ ist, wie es denkt und wählt, steht demnach nicht fest. Insofern setzten sich die Sozialisten am 28. April wohl auch deshalb gegen ihre Mitbewerber durch, weil sie am ehesten die beiden widersprüchlichen Tendenzen bedienten, die das Wahlvolk umtreiben: der Wunsch nach einer sozialen Agenda, die prekären Arbeitsverhältnissen das Existenzrecht beschneidet, und nach einem Mediator in der nationalen Frage, der möglichst allen Konfliktparteien gerecht wird. Da die Sozialisten am ehesten ein solches „Zentrum“ verkörpern, kommen sie derzeit für beides in Betracht.

Dieses Lager zwischen den Lagern wird nicht nur besetzt, sondern auch erzeugt. Vor vier Jahren gelang es der Linkspartei Podemos und ihren Bündnispartnern auf kommunaler Ebene, mit einem starken Oben-unten-Diskurs, der auf Ermutigung der einfachen Leute gegen die Elite setzte, die großen Städte zu erobern. Manuela Carmena, eine ehemalige Richterin, und Ada Colau, eine Aktivistin für das Recht auf Wohnen, wurden überraschend Bürgermeisterinnen von Madrid bzw. Barcelona. Mit ihnen kam eine neue Linke an die Macht. Sie stellte die sozialen Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum und nahm sich vor, von nachhaltiger Mobilität über den kommunalen Wohnungsbau bis hin zur Eindämmung des Massentourismus neue Akzente zu setzen.

Mancher Ernüchterung zum Trotz ist Carmena und Colau eines gelungen: die Stadtrealität in Madrid und Barcelona so zu verändern, dass sich selbst die politischen Gegner darauf beziehen müssen – sei es bei der Hilfe für benachteiligte Quartiere oder bei demokratischer Mitsprache. Tatsache ist, dass die Bürger Barcelonas und Madrids heute ihre Städte anders als vor vier Jahren sehen und bewerten. Colau und Carmena haben eine alternative Politik ins Zentrum gestellt. Anders formuliert: Sie haben mit ihrem Kurs ein neues Zentrum erzeugt. Am 26. Mai treten beide Bürgermeisterinnen zur Wiederwahl an.

Minderheitskabinette

Felipe Gonzáles Die regierenden Sozialisten belasten nach 1990 etliche Korruptionsfälle. Zudem ist Innenminister Antoni Asunción diskreditiert, da die ihm unterstehende Sondereinheit der Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) für Morde an ETA-Mitgliedern verantwortlich ist, die nicht – wie behauptet – Terroristen sind. So muss Premier Gonzáles erstmals nach dem Ende der Franco-Diktatur ab 1993 ein Minderheitskabinett führen, das 1996 abgewählt wird.

José Luis Zapatero Der PSOE gewinnt das Parlamentsvotum im März 2004, verfügt aber nicht über die absolute Mehrheit der Sitze, sodass wieder eine Minderheitsregierung fällig ist, toleriert durch die Izquierda Unida (IU) und die katalanische Partei ERC. Zapatero steigt aus der Besetzung des Irak aus und reformiert die Autonomiestatute für Katalonien und das Baskenland. Als 2008 die Finanzkrise beginnt, die Spaniens Immobilienbranche schwer trifft, verlässt die Sozialisten das Regierungsglück. Sie müssen 2011 abtreten.

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Geschrieben von

Conrad Lluis Martell | conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

conrad lluis

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