Die Odyssee unterwegs zum künftigen Kabinett war lang und machte alle mürbe. Dass die Reise wirklich zu Ende sein könnte – wer glaubt das ernsthaft, auch wenn es seit dem 7. Januar den Anschein hat? An diesem Tag fiel die Entscheidung nach drei Tagen zäher, rabiater, eigentlich eines Parlaments unwürdiger Debatten. Im Congreso begann die namentliche Abstimmung, von José Luis Ábalos Meco bis zu Ana María Zurita Expósito erhoben sich die Abgeordneten und gaben ein Ja, ein Nein oder ihre Enthaltung zu Protokoll. Schließlich war am frühen Nachmittag alles ausgezählt und überprüft. Mit 168 Ja-Stimmen und 165 Nein-Stimmen, bei 18 Enthaltungen wurde der Sozialist Pedro Sánchez zu Spaniens neuem Regierungspräsidenten gewählt.
Die Mehrheit, die sich für ihn entschieden hat, ist wahrlich hauchdünn. In dramatischen Tönen ist zuvor darüber spekuliert worden, ob der neue Premier in seiner eigenen PSOE-Fraktion zwei Abtrünnige fürchten müsse, die ihn die Mehrheit hätten kosten können. Einen vergleichbaren Fall hat es schon einmal gegeben. 2003 verhinderten zwei PSOE-Politiker in der Region Madrid eine linke Regierung. Die Konservativen durften sich freuen und regieren Madrid bis heute. Damals ließen sich die Abtrünnigen schlicht von rechts kaufen und schmieren.
Wechselnde Masken
Diesmal freilich gefährdete kein Geld, sondern Ideologie die Partie. Erstmals seit dem Ende der Zweiten Republik (1931-1939) führten die Stimmen für Sánchez zu keiner Allein-, sondern einer Koalitionsregierung. Auf deren Zusammensetzung Pablo Casado, konservativer Oppositionsführer des Partido Popular (PP), mit schrillen Vokabeln reagierte: „Es handelt sich um eine gegen den Staat gerichtete Regierung. Diese Koalition stellt die radikalste Exekutive dar, die Spanien je besaß: mit Kommunisten, Beratern von Diktaturen und Unterstützern von Terroristen und Separatisten – ein Albtraum.“ Polarisierender konnte die Schmähung kaum ausfallen. Die Tiraden Casados – er gehört mit der Europäischen Volkspartei (EVP) derselben Parteienfamilie wie Angela Merkel an – ließen bereits etwas vom Kulturkampf ahnen, der mittlerweile um Spaniens neue Regierung tobt. Er entzündet sich an der Figur des Regierungschefs, doch ist der 47-jährige Sánchez. wirklich der Staatsfeind Nr. 1, wozu ihn Casado stilisiert? Wenn der Sozialist bisher in seiner politischen Karriere eines hinlegte, dann einen ständigen Zickzackkurs. Sánchez hat kein Gesicht, am allerwenigsten ein radikales, er trägt wechselnde Masken. Einmal Marionette des Parteiapparats, dann wieder Hoffnungsträger der Basis. Zuweilen links, oft mittig, erst nationaler Hardliner, dann plötzlich Katalonien-Versteher. Derzeit ist er ein kühler, machtbewusster Politiker, der sich seine Unterstützer dort holen muss, wo er sie von sich aus nie gesucht hätte.
Genau genommen, sind es diese Unterstützer und nicht Sánchez selbst, die derzeit quer durch Spanien Polemik provozieren. Im neuen Kabinett sitzen schließlich fünf Minister, von denen (nicht nur) Konservative wie Casado meinen, dass sie dort niemals hätten Platz nehmen dürfen – die Damen und Herren der Linkspartei Podemos. Als ihr Chef Pablo Iglesias, nachdem das Parlament für Sánchez gestimmt hatte, in Freudentränen ausbrach, hätte man meinen können, nicht der adrette Sozialist, sondern der zerzauste Linke mit Pferdeschwanz werde das Land nun führen. Tatsächlich markiert das neue Kabinett, in dem neben dem PSOE fortan Podemos der Juniorpartner ist, für die Linkspartei das Ende einer eigenen, nicht minder zähen Odyssee. Podemos entstand vor sechs Jahren, um massive Krisenproteste auf Straßen und Plätzen zu repräsentieren. Iglesias und seine Anhänger attackierten die etablierten Parteien, zu denen sie besonders die Sozialisten zählten, als „Kaste“, die Spaniens ökonomische Malaise erst bewirkt habe, um sie dann auf die Bevölkerung abzuwälzen. Aber Podemos wollte nie nur kritisieren, sondern selbst regieren, und das anders. Als jetzt die Sozialisten auf die Linken angewiesen waren, ergab sich die Chance. Wir haben es geschafft, endlich regieren wir, schienen Iglesias’ Tränen zu verkünden.
Doch beteiligt sich Podemos, auch das gehört zur Wahrheit, in einem Moment der Schwäche an der Regierung. Die Partei verliert Wähler, von fünf bleiben ihr drei, teilweise kommen die Einbußen dem sozialistischen Partner zugute. Pablo Iglesias mag nach außen strahlen, nach innen gerichtet muss er die Basis vor überzogenen Erwartungen bewahren. Die fünf Podemos-Ministerien, bei denen Iglesias als Vizepremier das Ressort für soziale Rechte übernahm, gab es zuvor nicht. Die Linken haben weniger Ministerien als vielmehr deren Versatzstücke erhalten, etwa ein Ministerium für Universitäten ohne weitergehende Kompetenzen im Bildungs- und Forschungsbereich. Unter derartigen Umständen wird es der namhafte Soziologe Manuel Castells als zuständiger Minister nicht leicht haben.
Die Sozialisten taktierten erneut geschickt. Das Kabinett markiert ein ausgesprochen sozialliberales Profil. Die Schlüsselressorts – das Außen-, Innen- und Wirtschaftsministerium – besetzen „moderne“ Sozialdemokraten. Diese Crew der Moderaten soll weniger Gegner und Kritiker im eigenen Land beschwichtigen – die schwingen ihre Keulen so oder so. Vielmehr soll sie nach außen besänftigen, vor allem die Brüsseler EU-Zentrale. Kommissionspräsidentin von der Leyen soll aufatmen, dass Spanien endlich wieder regiert wird, und keinen iberischen Linksruck fürchten.
Das heißt nicht, dass diese Koalition nichts bewegen könnte. Sie dürfte in sozialdemokratischer Manier manches angehen, was seit Jahren der reformerischen Lösung harrt. Dringend geboten ist eine Arbeitsmarktreform, um einen seit jeher grassierenden Niedriglohnsektor einzudämmen. Der Mindestlohn soll schrittweise von jetzt 1.050 auf 1.400 Euro erhöht werden, auch wenn das nur eine erste Maßnahme sein kann. Begegnet werden muss der Immobilienblase und den Wohnkosten, die mancherorts in fünf Jahren um 50 Prozent gestiegen sind. Und was ist mit – vorsichtig geschätzt – einer Million Spaniern, die das Land in den vergangenen Jahren verließen, weil es für sie keine Perspektive mehr gab? Wird man sich bemühen, sie zurückzuholen? Fragen wie diese und viele andere, nicht zuletzt zum Klimawandel, könnte die Regierung auf ihre Agenda setzen. Bleibt die Ungewissheit: Sind große Ziele überhaupt zu verwirklichen ohne eigene Mehrheit? Mitgetragen wird das neue Kabinett von moderaten und linken baskischen Kräften sowie zahlreichen Kleinfraktionen, oft ebenfalls mit Regionalbezug.
Die Rechte auf dem Sprung
Letztlich sorgte die katalanische Unabhängigkeitspartei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) mit ihrer Enthaltung für die knappe regierungsbildende Mehrheit, ohne dass die Zugeständnisse soweit reichten, wie sich die Partei das gewünscht hätte. Die jetzige Exekutive schlägt zwar in der Katalonien-Frage neue Töne an, spricht von einem „politischen Konflikt“ und akzeptiert Verhandlungen. Ein Unabhängigkeitsreferendum jedoch, das entscheidende Ziel der Independentisten, billigen die Sozialisten nicht. Podemos schon, nur wird das die Partei nicht zum Preis eines Koalitionsbruch durchsetzen wollen.
So steckt die ERC – sie will nicht nur die unabhängige Republik Katalonien, sondern tickt auch sozialdemokratisch – nach ihrer Enthaltung in der Bredouille. Soll sie die Regierung wieder fallen lassen, wenn die keine signifikanten Konzessionen macht? Dies jedenfalls fordert der harte Kern der Unabhängigkeitsbefürworter. Diese Unnachgiebigkeit hinterfragen Pragmatiker: Was wäre die Alternative zur linken Exekutive in Madrid? Eine rechte, angeführt vom Falken Casado und mit der ultrarechten VOX, für die alle Unabhängigkeitskräfte verboten gehören? Der rechte Block verfehlte schon bei der Wahl im November 2019 nur knapp den Sieg. Würde der errungen, dürften sich „gemäßigte“ und radikale Rechte rasch einigen und regieren. Was wäre für Katalonien gewonnen?
Die ERC zweifelt, bleibt aber derweil an Bord des Regierungsschiffs, das die Anker lichtet. Warum sollte eine Mannschaft, die sich buchstäblich zusammengerauft hat, auf großer Fahrt nicht ihr Ithaka entdecken und sich dort besser aufgehoben fühlen als auf offener See?
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