Sezession: Katalonien und sein Unabhängigkeitsvotum setzen Spanien einer Zerreißprobe aus
Illustration: Jonas Hasselmann für der Freitag
Dass sich der Konflikt zwischen Katalonien und der Zentralregierung zuspitzen würde, war absehbar. Doch was in den Tagen vor dem Katalonien-Referendum am 1. Oktober geschieht, hat neue Qualität. Erst kommt es auf Betreiben des konservativen Premiers Mariano Rajoy zu Übergriffen von Polizei und Staatsanwaltschaft, um das Votum mit allen Mitteln, auch halblegalen, zu verhindern. Sogar eine Festnahme von Carles Puigdemont, dem katalanischen Präsidenten, stand im Raum. Und dann die zähe Reaktion der Generalitat, der Regionalregierung. Sie wehrt sich gegen die „Repression aus Madrid“ und hält unbeirrt am Plebiszit fest. Das wirkt verwegen, stützt sich aber auf die Mobilisierung enorm vieler Katalanen für die Unabhängigkeit und – so
so das Phänomen der vergangenen Tage – einen reflexhaften Widerstand der Zivilgesellschaft Kataloniens. Der reicht weit über das Unabhängigkeitslager hinaus. Alle sind sich einig: „So nicht, Madrid!“Lassen wir die Ereignisse Revue passieren. Am Morgen des 20. September startet ein Großeinsatz, Einheiten der Guardia Civil, der spanischen Militärpolizei, nehmen 15 Mitglieder der Regionalregierung sowie Mitarbeiter von Firmen fest, die das Referendum organisieren. Ministerien in der Generalitat werden durchsucht, zehn Millionen Wahlzettel beschlagnahmt. Bald wird klar, die handstreichartige Aktion ist ein Coup gegen die Infrastruktur der Abstimmung. Carles Puigdemont spricht kurz darauf davon, dass es „Kontingenzpläne“ gebe und über die (mehrfach gesperrte und wieder geklonte) Homepage des Referendums alle Bürger erfahren könnten, wo ihre Wahllokale liegen. Er verspricht, dass es am 1. Oktober ausreichend Wahlurnen geben werde. Nach denen sucht die Polizei fieberhaft, ohne nennenswerten Erfolg. Seit wegen verhängter Bußgelder des spanischen Verfassungsgerichts die Wahlkommission aufgelöst wurde, steht allerdings fest: Auch wenn es stattfindet, wird das Plebiszit keinen demokratischen Standards genügen.Der Geist der EmpörungDie Rajoy-Regierung hat ihre Trümpfe ausgespielt und scheint mit dem Ergebnis zufrieden. Nur ist die Mobilisierung von Polizei und Strafrecht weniger ein Zeichen der Stärke als vielmehr der Schwäche. Wie sehr die Zentralregierung derzeit in Katalonien um ihre Autorität fürchtet, wird im Hafen von Barcelona offensichtlich. Dort ankern vier teils mit netten Comicfiguren dekorierte Kreuzfahrtschiffe, in denen gut 6.000 Guardias Civiles untergebracht sind, die Kataloniens Ordnungskräfte „unterstützen“ sollen. Neben der Sparsamkeit des Innenministers – er will keine Hotelkosten für alle Polizisten stemmen – zeigen die Herbergsschiffe: Das Rajoy-Kabinett kann einem politischen Konflikt ersten Ranges nur mit mehr Polizeipräsenz begegnen. Es fürchtet zudem, dass im Ernstfall die katalanische Polizei, die Mossos d’Esquadra, meutern und zur Generalitat halten könnte. Vorsorglich hat das Innenministerium eine Woche vor dem Referendum die Kommandantur der Mossos übernommen, wohlgemerkt gegen den Willen von Generalitat und Mossos-Leitung. Vermutlich werden sich die Polizisten an die Befehle halten, ob aus Barcelona oder aus Madrid. Ein befreundeter Mosso gibt freilich zu bedenken: „Sehr viele Mossos sind für die Unabhängigkeit. Es wäre das Beste für uns, so wenig wie möglich eingreifen zu müssen.“Um zu verstehen, was in der katalanischen Gesellschaft vor sich geht, ist es hilfreich, den Puls der Straße zu fühlen. Zum Beispiel vor der Parteizentrale der linksradikalen CUP, die hinter dem Plebiszit steht. Am Morgen des Großeinsatzes der Polizei wollen vermummte Beamte in die CUP-Büros vorrücken, um Wahlmaterial zu beschlagnahmen. Sie werden weggeschickt. Es gibt keinen Durchsuchungsbefehl. Es wird auch nie einer eintreffen. Schnell versammeln sich etwa 2.000 Demonstranten, um das Gebäude gegen die Polizei zu schützen. Es handelt sich um Mitglieder linksalternativer Gruppen, die Katalonien gern in eine Reihe mit der baskischen Linken oder den Kurden (und deren Referendum im Irak) stellen. Albert (32) ist enthusiastisch: „Ich hätte nie gedacht, dass die katalanische Regierung am Referendum festhält. Jetzt schlägt die Stunde des zivilen Ungehorsams. Die Unabhängigkeitsbewegung kann sich mit dem Geist der Empörung vollsaugen. Proteste, Platzbesetzungen und Blockaden stehen an.“Wie eine BesatzungsmachtAlberts Vision wird in der Innenstadt zur Aktion. Erkennbar wohlsituierte Bürger rufen aufgebracht: „No pasarán! Die Straßen werden für immer uns gehören!“ Viele Frauen sind darunter, in kürzester Zeit haben sich vor dem katalanischen Wirtschaftsministerium Tausende versammelt, um ein paar Dutzend Guardias Civiles zu blockieren, die dort nach Beweisen für die Planung des Referendums suchen. Immer wieder brandet Beifall auf, wenn Mitarbeiter des Ministeriums auftauchen. Ein kurioser Ungehorsam: Polizisten werden blockiert und Regierungsvertreter bejubelt – ein Zeichen dafür, wie unerschütterlich die Unabhängigkeitsbewegung geworden ist. Die katalanische Regierung kann zum institutionellen Ungehorsam übergehen, weil sie von mobilisierungswilligen Bürgern gestützt wird. Die sind ihrerseits zum zivilen Ungehorsam entschlossen, weil sie „ihre“ Institutionen hinter sich wissen.Am Tag darauf protestieren erneut Zehntausende, diesmal vor der Filiale des spanischen Justizministeriums in Barcelona, und verlangen, verhaftete katalanische Politiker sofort freizulassen. Das autoritäre Gebaren Rajoys wird mit den Zuständen in der Türkei verglichen und als Indiz dafür gedeutet, dass die spanischen Konservativen nie wirklich vom Franquismus abgerückt sind.Placeholder infobox-1Auf die Frage, warum man sich ein Katalonien jenseits von Spanien wünscht, und was dann anders wäre, fallen die Antworten natürlich unterschiedlich aus. Anna (23) glaubt: „Ein neuer Staat ist eine Chance, reinen Tisch zu machen. Wenigstens mit der Korruption könnte man aufräumen.“ Andere meinen, ein unabhängiges Katalonien könne weit „effizienter“, „ordentlicher“ und „moderner“ als Spanien sein. Die Independencia weckt viele Vorstellungen, weil sie ein Sammelbecken vieler Sehnsüchte ist. Auch deshalb gewinnt die Bewegung unablässig an Zulauf, zusammengehalten von Passion und Pathos: Mit dem eigenen Staat neu anfangen, diesmal ohne Spanien.Tatsächlich wird weniger Kritik an Rajoy und seinem Vorgehen laut, als vielmehr eine Abgrenzung gegenüber Spanien in toto vollzogen: In Katalonien gingen die Uhren anders, es sei viel europäischer, habe ein spezielles tarannà, eine Lebensweise, die in Spanien stets unverstanden geblieben sei. So meint Teresa (46), ein Leben lang sei ihr eine Staatsbürgerschaft aufgezwungen worden, die sie nie als die ihre empfand. Und Jordi (28) meint, für ihn sei die Eigenart Kataloniens keine politische Frage, sondern eine der kulturellen Wurzeln. „Ich bin ein Linker, werde aber lieber von katalanischen Konservativen als von spanischen Linken regiert.“Die Zentralregierung täte gut daran, dieses Unbehagen zu respektieren, anstatt als Besatzungsmacht aufzutreten, die de facto katalanische Autonomie außer Kraft setzt – unter Umgehung des dafür vorgesehenen Verfassungsartikels 155 und der dazu nötigen Senatsdebatte. Hat Rajoy Katalonien bereits aufgegeben, wohl wissend, dass ihm der Konflikt im restlichen Spanien Stimmen beschert? Gewalt heilt keine Wunden, sondern reißt sie auf. Und einige tausend Polizisten (mit oder ohne Mossos) werden nicht verhindern können, dass am 1. Oktober Millionen Bürger ihre Stimme abgeben. Und wenn sie selbstgedruckte Wahlzettel in Pappschachteln stecken.Am Tag danach wird sich formal nichts ändern. Dass einem auf jeden Fall symbolisch erfolgreichen Referendum eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung seitens der Generalitat folgt, scheint schon angesichts der in dieser Frage gespaltenen katalanischen Gesellschaft illusorisch. Doch in diesen stürmischen Tagen rückt für viele – im Grunde fast alle – Katalanen Madrid ein Stück weiter weg, ob sie nun protestieren, an der allabendlichen Cacerolada, dem Topfklopfen, teilnehmen oder einfach ihren Alltag leben. Xavier (65) meint: „Ich war lange weder Nationalist noch Independentista. Doch mit jeder neuen Demütigung aus Madrid stieg mehr Empörung in mir auf. Ich sage nur: Es ist nationale Unterdrückung.“Placeholder link-1
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