Ein halbes Jahr nach dem unterdrückten Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 verarbeitet Katalonien noch immer die Geschehnisse jenes bewegten Herbstes. Carles Puigdemont, Ex-Präsident der Regionalexekutive, brachte via Twitter aus seiner Gefängniszelle in Neumünster das Empfinden vieler Katalanen auf den Punkt: „Der 1. Oktober markiert den Beginn einer neuen Ära, von der es kein Zurück mehr gibt.“ Doch die neue Zeit, die nach dem 1. Oktober angeblich beginnen sollte, lässt auf sich warten. Gleich einem traumatisierten Patienten liegt Katalonien seit Monaten auf der Couch – und bekommt in einem Zug gleich mehrere Therapien verabreicht.
Sowohl der harte Kern der Unabhängigkeitskräfte als auch Spaniens Zentralstaat unter dem Kommando der konservativen Regierung des Premiers Mariano Rajoy vom Partido Popular wenden seit Monaten eine Schocktherapie gegeneinander an. Rajoy stoppte jäh das Unabhängigkeitsbegehren, indem er den Verfassungsartikel 155 anwendete, um Kataloniens Autonomie auszuhebeln. Im Herbst atmeten die Katalanen noch auf, erleichtert, dass sich Rajoy für ein „155 light“ entschieden hatte. Danach sollten die Gegenmaßnahmen auf begrenzte Politikbereiche beschränkt bleiben und nur bis zu den katalanischen Neuwahlen im Dezember 2017 gelten.
Zu heißer Herbst
Doch ist der Artikel 155 bis heute in Kraft. Um sich zu rechtfertigen, verweist Rajoy auf die Regierungsbildung in Katalonien, die nicht vorankomme. Tatsächlich missbraucht er den umstrittenen Verfassungsartikel als Instrument der Rezentralisierung. So will die spanische Exekutive ihre Macht über Katalonien dazu nutzen, in den Schulen die immersió lingüística rückgängig zu machen, die alle Schüler, egal welcher Herkunft, einer (virtuellen) katalanischen Realität aussetzt, die sich als Erfolgsmodell einer zweisprachigen Erziehung erwiesen hat. Mehr noch, „der Artikel 155“ ist zur permanenten Drohung geworden, sobald sich in Spanien eine Region oder Kommune den Vorgaben des Zentralstaats widersetzt – das gilt von der Fiskal- und Sozialpolitik bis hin zu Meinungsäußerungen gegen Madrid. So drohte jüngst Javier Tebas, Präsident der spanischen Fußball-Liga: „Man müsste beim Pokalfinale (des FC Barcelona gegen Sevilla – die Red.) den 155 anwenden, um zu verhindern, dass die Barca-Fans Spaniens Nationalhymne ausbuhen.“
Katalonien sei für den Zentralstaat ein Labor, um landesweit bürgerliche und politische Rechte zu beschneiden – so die Unabhängigkeitslinken Eulàlia Reguant und Benet Salellas in einem Artikel für das Periodikum Crític. Deshalb plädieren sie dafür, eine gemeinsame Front zu schaffen, „um die Verdrängung der polizeilichen Brutalität, die Verdrängung der Verletzung von Rechten, vor allem aber die Verdrängung dessen zu bekämpfen, was dazu führte, dass wir uns am 1. Oktober organisierten – die Republik“. Die breite Front gegen den Zentralstaat, auf die Reguant und Salellas setzen, sollte vornehmlich nicht von der Politik, sondern von der katalanischen Gesellschaft vorangetrieben werden. Doch Letztere hat sich in den vergangenen Monaten überraschend passiv verhalten. Den meisten Katalanen – ob für oder gegen die Unabhängigkeit – war der Herbst politisch zu heiß. Nicht wenige griffen auf Schlaf- und Beruhigungsmittel zurück, um den Stress in den Griff zu bekommen, manche verfolgten geradezu manisch die Nachrichten, während andere ihre Ersparnisse ins Ausland verlagerten, um sich für jede Eventualität zu wappnen. Die Zwangsintervention des Zentralstaates schließlich – so schmerzhaft sie war – gestattete es den Bürgern, ihren Alltag wiederaufzunehmen.
Trotzdem bleibt – die Umfragen bestätigen das ebenso wie das Ergebnis der Regionalwahl vom 21. Dezember 2017 – die Zustimmung für die Unabhängigkeit ungebrochen, sie verharrt bei gut 50 Prozent. Nur das Stimmungsbild der einst so fröhlichen Bewegung, die einen Querschnitt der gesamten Bevölkerung erfasste und mobilisierte, hat sich zuletzt gewandelt. Dass die Zentralregierung die Autonomie gewaltsam aushebelte, eine harte strafrechtliche Verfolgung der Unabhängigkeitspolitiker einleitete, ja, jede Art von Konzession ablehnte, hat den Separatismus nicht zerstört, sondern in Rage gebracht. Rajoy und seine Umgebung haben bis heute nicht begriffen, dass Carles Puigdemont und Co. nicht die Säule, sondern bloß die Spitze einer Strömung sind, die in Katalonien etwa die Hälfte der Bevölkerung hinter sich weiß. Dieser Hydra wachsen die Köpfe nach, so unerbittlich sie ihr auch abgeschlagen werden.
Zurück zu Puigdemont
„Madrid möchte nicht siegen, sondern bezwingen“, lautet das düstere Fazit des Unabhängigkeitsaktivisten David Fernández. Es ist symptomatisch für einen sich schrittweise ausbreitenden Widerstandsgeist, der zäher und verbitterter ausfällt als vor der Repression. Madrids Verhalten schafft Generationen von Separatisten, möglicherweise zahlreicher und militanter als heute. Sie könnten die „Rebellion“, derer Richter Pablo Llarena die Unabhängigkeitspolitiker bezichtigt, zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung erheben. Vor Gericht gewinnt Madrid den Kampf, in den Köpfen und Herzen verliert es ihn.
Der neue, härtere Kurs der Independentistes wird von keiner Partei oder Organisation vorgegeben, er kommt vielmehr aus der Zivilgesellschaft. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR), die im Herbst zur Vorbereitung des Referendums gegründet wurden. Es handelt sich um Basisorganisationen, die auf Quartiers- und Kommunalebene agieren. Jüngere, linke Aktivisten spielen dabei eine wichtige Rolle. Die CDR sind inzwischen zum Anziehungspunkt all jener geworden, die sich gegen das Zaudern und die Querelen der Unabhängigkeitsorganisationen stemmen und nun Druck ausüben, damit die Separation von „Madrid“ nicht zum Langzeitprojekt erklärt oder gar ganz ad acta gelegt wird. Sowohl die Proteste vor Regierungsgebäuden in Barcelona nach der Verhaftung Puigdemonts in Deutschland als auch die Blockade von Autobahnen während der Ostertage haben die enorme Schlagkraft der CDR bewiesen. Ihre Aktionen sollten als Warnung verstanden werden: Das Referendum und die Unabhängigkeitserklärung vom 1. beziehungsweise 27. Oktober 2017 mögen für Kataloniens Politik-Elite „ein rein politischer Akt ohne legale Konsequenzen“ gewesen sein, wie die ehemalige und nun inhaftierte Parlamentspräsidentin Carme Forcadell beschreibt, was geschehen ist. Für viele Katalanen aus den Milieus der Unabhängigkeitsbefürworter erfüllte sich mit der proklamierten Souveränität eine heftige Sehnsucht.
Sie erwarten im Augenblick, dass die Unabhängigkeitsparteien allen Widerständen aus Madrid zum Trotz endlich eine neue Regionalregierung bilden (s. Artikel rechts). Dabei bleibt es die größte Herausforderung, einen geeigneten Regierungschef zu finden. Gegenwärtig wird an einem Plan D gearbeitet, nachdem erst die Wiedereinsetzung des Ex-Präsidenten Puigdemont (Plan A) scheiterte, dann der Aktivist Jordi Sànchez (Plan B) nicht aus der Haft entlassen wurde, um das Amt anzutreten, schließlich der Kandidat Jordi Turull (Plan C) ins Gefängnis kam, damit er nicht gewählt werden konnte. Von den prominenten Politikern sind fast alle in Haft oder auf der Flucht, sodass über einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus der zweiten Reihe spekuliert wird.
Darauf haben die meisten Aktivisten stets nur eine Antwort: Rückgriff auf Plan A! Puigdemont! Für sie ist und bleibt er der konsequente Unabhängigkeitspolitiker. Einer – von wenigen –, der seine Versprechen hielt, das Referendum feierte, die Unabhängigkeitserklärung forcierte, später aus Brüssel (und nun Neumünster) den Katalonien-Konflikt internationalisierte. Er ist zum Idealbild eines Akteurs aufgestiegen, der die Massenmobilisierungen des „Independentisme“ in Entscheidungen überführte – gleichgültig, ob er nun strategisches Geschick offenbarte oder genau das vermissen ließ. Dass sich Puigdemont mit seinem momentanen Status nicht abfindet, ist seinem zu Wochenbeginn vor dem Obersten Gerichtshof Spaniens erhobenen Einspruch gegen den Vorwurf der Rebellion zu entnehmen. Zudem wies er die Anschuldigung zurück, öffentliche Mittel veruntreut zu haben. Am Tag des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums habe es keinerlei Gewalt gegeben – dies sei aber die Voraussetzung für eine Anklage, wonach er sich der Rebellion schuldig gemacht habe.
Während die Basis der Unabhängigkeit Utopie, Ungeduld und Erwartung in die Person Puigdemont projiziert, die Unabhängigkeitsparteien einen internen Führungskampf ausfechten und Mariano Rajoy weiter einen ergebenen Staatsapparat bemüht, liegt der Patient Katalonien weiter auf der Couch. Beim allgegenwärtigen Hang zu Schocktherapien wird von vornherein eine Behandlung ausgeschlossen, die einer verletzten Gemeinschaft zugutekäme. Wie konnte es zu einem solchen Stadium der Konfrontation kommen, aus dem es keinen politischen Ausweg zu geben scheint, ohne dass jemand das Gesicht verliert? Vielleicht würde es den Separatisten helfen, eigene Fehler anzuerkennen, einen überzogenen Nationalpatriotismus, teilweise Chauvinismus, sowie eine latente Selbstüberschätzung abzulegen. Dann würde es leichterfallen, auf eine Realpolitik zurückzugreifen, der nichts von Kapitulation anhaftet. Befreiung beginnt mit Selbstbefragung.
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