Das zweite Leben nach dem ersten

Frau mit Tuch Mit ihren Grafiken ist Edith Charlotte Kittel bis nach Texas bekannt geworden. Danach sah es die ersten 65 Jahre ihres Lebens nicht aus.

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Und dann war er tot. Er, ihr Mann. Nach zehn Tagen Koma, in das er während der Dialyse gefallen war. Ihr Mann, den sie zu Hause gepflegt hatte. Pflegen, das klingt nach tätiger Anteilnahme, liebevollem Sorgen. Für sie war es – nicht nur zu seinem Ende hin - oft die Hölle. Seine Leiden, zum Versagen der Nieren kamen noch weitere hinzu, sah er als ihm auferlegte Bestimmung. Und forderte von ihr, cholerisch und zum Schluss jähzornig wie er war, seine Krankheit als ihr beider Leben allein bestimmende Aufgabe anzuerkennen.

Die Plattenbauwohnung am östlichen Stadtrand wurde das Hospital ihrer Ehe.

Diese war dann vor fünfzehn Jahren erfüllt. Sie hatte bald zwei Jahrzehnte gewährt, ein Drittel ihres damaligen fünfundsechzigjährigen Lebens. Und Edith Charlotte Kittel war von einem Tag auf den anderen erbarmungslos einsam. Mit Mitte Vierzig hatte sie ihre Anstellung aufgegeben: ihr fünf Jahre älterer Mann war, wie es damals hieß, Invalidenrentner geworden. Ihren Beruf Russischlehrerin übte sie fortan als Honorarkraft aus. Meistens abends, tagsüber pflegte sie ihren Mann. Als sie in Rente ging, zogen beide von Magdeburg nach Berlin, der Sohn lebte dort. Die Plattenbauwohnung am östlichen Stadtrand wurde das Hospital ihrer Ehe. Sie kannte dort niemanden, und niemand kannte sie. Manchmal gab sie vor einkaufen zu gehen, stahl sich weg von dem Mann dort oben in der Wohnung; lief weg und lief und lief – und schrie: Ich kann nicht mehr!

Wer Edith Charlotte Kittel heute in ihrem Zuhause besucht, trifft auf eine Frau, die von alledem nichts ahnen lässt, und schon gar nicht, dass sie achtzig Jahre alt ist. Wenn sie redet, gestikuliert sie mit beiden Armen, die Finger bewegend. Quicklebendig rutscht sie auf dem roten Sofa in ihrer hinter dem Strausberger Platz gelegenen Wohnung hin und her. Überhaupt: die Wohnung. Ein mexikanischer Kaktus beherrscht das große Zimmer, hell ist es, nicht voll gestellt mit Schränken und Sesseln sondern sorgfältig möbliert mit Dingen, die zu ihr passen. Im kleinen Zimmer Pinsel, Malutensilien, Blätter, Skizzen. Und Hüte überall, aus aller Herren Länder.

Ihr zweites Leben kam nicht so einfach daher. „Ich war damals allein, vollkommen allein“, fasst sie zusammen, „und habe mir damals überlegt: du hast doch dein Leben nie so gelebt, wie du es eigentlich wolltest.“

Sie hat gefastet, fuhr zur Reha und hatte dort das Glück, abseits des Standardprogramms mit einer Psychologin zu reden, aufzuarbeiten, einzuordnen zu können. Wieder zu Hause kam die Einsamkeit zurück. Des Lebens Zufall ließ sie von der Möglichkeit hören, ins Kloster zu gehen. Dass sie davon erfuhr, beschreibt sie einerseits als Schicksal, zitiert andererseits den biblischen Prediger Salomo dem Sinn nach: „Alles zu seiner Zeit.“

Heute sagt Charlotte Kittel: „Ich hatte damals keine Vorstellungen, was mich dort erwartet, dachte nur: zu irgendetwas wird es schon gut sein.“ Bei den Nonnen der Abtei Sankt Gertrud nahe Luckenwalde fand sie nicht nur Ruhe und Besinnung. Sie hat die Kapelle gewischt und in der Küche geholfen. Im Dachboden der umgebauten Klosterscheune gab es ein großes Atelier für allerlei künstlerische Aktivitäten. Da dachte sie: „Du kannst doch das eigentlich, du hast doch mal gemalt, du hast doch mal Kunst gemacht“, erinnert sie sich mit leicht bebender Stimme. An ihr musisches Elternhaus hat sie sich damals erinnert, daran, dass sie in der Schule Malwettbewerbe gewonnen und ein Kunststudium begonnen hat, auf Drängen der Eltern aber letztendlich doch Lehrerin wurde. „Da habe ich gemerkt, ich habe eine Bestimmung, es ist mir etwas gegeben, was ich noch zu tun habe.“

So kam Edith Kittel wieder zum Malen. Und über das Malen zum Schreiben. Kleine Geschichten und vor allem Gedichte, die sie in Frauenbegegnungsstätten später auch vortrug. Das Publikum bescheinigte ihrer Lyrik Tiefgang, wie dieser hier:

KANNST DU

Gefühle erahnen, Gedanken erraten,

Liebe erzwingen und Hass bezwingen,

Treue verlangen und Neid verbannen?

DU GLAUBST

Edith Kittels Sohn arbeitet in Houston, Texas. Jedes Jahr besucht sie ihn, hat Freunde unter dort beheimateten Künstlern gefunden, liebt die Weite und das Licht. Die Sonne scheine immer, aber nicht für alle jeden Tag, ergänzt sie. Ein Texaner habe ihr viele Dollars für ihre Grafik „Frau mit Tuch“ geboten, im Original natürlich. Ihre Originale aber verkauft sie nicht. Sie hat ihm eine Reproduktion zukommen lassen, die nun im Foyer der Villa des Kunstliebhabers hängt. Er hat ihr davon Fotos geschickt. Stolz führt sie Edith Charlotte Kittel auf ihrem Tablet-PC vor.

Mehr über Edith Charlotte Kitte: www.ec-kittel.de

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Geschrieben von

Constantin Rhon

Realist mit liberaler Grundhaltung.

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