Gott erschuf die Welt aus einer Perle

Jesiden Sie glauben an Engel. Als Satansanbeter werden sie verfolgt. Eine Begegnung

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Samstagvormittag, man kommt vom Einkauf, vor der Haustür ein schmaler Mann, der über das Betätigen der Klingelanlage versucht ins Haus zu gelangen: „Werbung, bitte....“ Niemand öffnet, ich nehme ihn mit hinein, eine Geste der Freundlichkeit. Er fragt lächelnd: „Möchten Sie Werbung?“ Ich verneine. „Müssen sie nicht, aber ich muss verteilen, verstehen?“ – „Ja, natürlich, das ist doch Ihre Arbeit“, gebe ich zurück. Der kleine Mann lächelt versonnen: „Ja, das meine Arbeit.“ Sein Deutsch kommt schleppend, sehr gebrochen. „Darf ich Sie fragen, woher Sie kommen“, versuche ich dennoch ein kleines Gespräch zu beginnen. „Ich bin Jeside“, antwortet der schmale Mann, Ende Vierzig mag er sein.

Jeside....“ halte ich inne. Bilder tauchen im Kopf auf, Schlagzeilen, Zeitungsartikel: Nordirak, Provinz Ninive, August 2014. Zehntausende Jesiden harren in sengender Hitze ohne Wasser und Nahrung auf dem Sindshar-Gebirge aus, belagert von Kämpfern des Islamischen Staates. Jesiden beten Engel an, sie glauben nicht an die Hölle – in den Augen der IS-Leute haben sie kein Lebensrecht.

„Waren Sie auch auf dem Berg“, frage ich ihn, „waren Sie in Sindshar?“ – „Nein, war ich nicht, bin schon seit zwei Jahren hier in Berlin.“ – „Und Ihre Familie?“ – „Meine Frau und meine Tochter sind bei mir hier.“ Seine Augen befeuchten sich. „Aber alle anderen sind noch dort unten, Onkel, Tanten, Cousins.“ – „Haben Sie Nachrichten von ihnen bekommen?“ – Und da bricht es aus ihm heraus! Zitternd und in plötzlich fast einwandfreiem Deutsch brechen sich die Worte Bahn. Wie die Fremden mit ihren Jeeps in das Dorf seines Onkels und seiner Tante kamen. Die Tante stellten sie mit anderen älteren Frauen an die Wand einer Lehmkate, bewarfen sie so lange mit Steinen, bis sich keine mehr regte. Den Onkel gruben sie bis zum Hals in den Boden seines Gemüsegartens, zerschmetterten mit Gewehrkolben seinen Kopf, schnitten ihn ab und spießten ihn auf den Zaun. Sein Cousin, der Sohn des Onkels, konnte aus dem Dorf fliehen, daher weiß er von all dem Grauen.

Von den beiden Cousinen aber hat er nichts mehr gehört. Wahrscheinlich sind sie verschlepptworden wie Tausende andere. Mit der Entführung und Vergewaltigung der Frauen versucht man die Jesiden einzuschüchtern. Der IS duldet keine Religion außer der seinen. Sexuelle Gewalt ist Teil des Krieges. Es gibt Preislisten: 130 Dollar für eine junge Frau, 180 Dollar für ein Kind unter zehn Jahren. Die Terrormilizen überlassen die Frauen und Kinder gegen Bezahlung an ihre Kämpfer. Sie werden vergewaltigt, verheiratet, weiterverkauft, viele von ihnen getötet. Unvorstellbar sind ihre Qualen, Todesangst und Schmerzen der Gewalt zerschmettern ihre Seelen.

Gott? Welcher Gott? Kann irgendein Gott das alles wollen?

Er hält inne, lässt seine Werbezettel sinken, fast entgleiten sie seiner rechten Hand. Hausnachbarn kommen die Treppe hinunter, sehen uns, dieses seltsame, betroffen dreinblickende Paar, grüßen dennoch mit einem „Guten Morgen!“ Das lässt uns aus der Trance erwachen. Mit leiser Stimme frage ich: „Und warum das alles, gibt es irgendeinen Grund?“ - Achselzuckend antwortet er mit leiser Stimme: „Wegen Gott.“ – „Welcher Gott? Kann irgendein Gott das alles wollen“, gebe ich mit erhobener Stimme zurück.

Die Jesiden sind von ihrer Nationalität zumeist Kurden. Ihre Religion beruft sich auf keine heiligen Schriften wie Bibel oder Koran. Lieder und Erzählungen geben den Glauben wieder, der auf einem einzigen Gott beruht, der die Welt einst aus einer Perle schuf. Aus ihr formten sieben Engel die Welt. Der Engel, welcher sich Gott gegenüber dabei besonders hervortat, war der Engel Pfau – Melek Taus. Ihm wurden alle Sünden vergeben, er ist Gottes Stellvertreter auf Erden und Ansprechpartner aller Gläubigen. Damit steht der jesidischeGlaube konträr zum Islam. Ein Engel als Mittler zu Gott, das kann es nicht geben – dabei kann es sich nur um den Teufel handeln. So werden die Jesidenals Satansanbeter angesehen. Die Wurzel ihrer Jahrhunderte währenden Verfolgung.

„Darf ich nach Deinem Namen fragen?“ – „Adi“, antwortet er mit fester Stimme. – „Adi“, versuche ich eine tröstende Erklärung, „Du hast es geschafft, Du bist hier, mit Deiner Frau und Deinem Kind in Sicherheit:“ – „Mag sein, vielleicht. Hier ist es gut, Deutsche sind gut, und Du bist ein guter Deutscher. Aber .... Ich habe immer Angst, dass es alles wiederkommt, auch hier in Deutschland.“ Ich sehe ihn an, er zuckt mit den Schultern, muss weiter, seine Werbezettel verteilen. Instinktiv verbeugen wir uns zum Abschied leicht voreinander, die rechte Hand eines jeden ruht dabei auf dem Herzen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Constantin Rhon

Realist mit liberaler Grundhaltung.

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