Alle haben Abi - keiner denkt alleine

Emanzipation Das neue Semester hat angefangen und die Erstsemester haben vor allem: Panik. Dabei wäre es wichtig ihnen zu sagen, dass sie jetzt mehr Rechte und Freiraum haben könnten

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Nicht den Kopf in den Sand stecken
Nicht den Kopf in den Sand stecken

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Anfang Oktober hat das Semester begonnen. So manche Fachschaft ist noch immer mit der Einführung der Erstis zu Gange und so manche*r aus höherem Semester schüttelt nur noch den Kopf oder den Alkohol in sich hinein.

Letztes Jahr war ich selbst noch Ersti. Doch schon dieses Jahr bin ich mir absolut sicher, dass wir nicht so naiv waren. Es ist genau wie damals in der weiterführenden Schule, als man sich schon nach einem Jahr dachte: „Wir waren aber nicht so klein!“

Ich habe diese Woche einige Erstis begleitet. Erste Diskussionen angeregt, Themeneinführungen gehalten, Fragen beantworten, Panik genommen. Obwohl ich nur ein Jahr vor ihnen begonnen habe, siezen sie mich, halten einen Lehrer-Schüler Sicherheitsabstand und glauben mir alles. Ich könnte vom fliegenden Spagettimonster erzählen – vor lauter eifrigem Mitschreiben oder panischem Nachlesen irgendwelcher bürokratischen Uni-Belegungs-Regelungen würden sie bloß eifrig nicken.

Hier sind einige der häufigsten Fragen, die ich diese Woche gestellt bekam. Auf Auftaktveranstaltung, Messen, Ständen und Reden von Menschen, die mehr oder weniger wichtig sind: „Weißt du wie lange man hier bleiben muss?“. Auf dem Weg zwischen Cafeteria und Seminarräumen: „Aber ich war da ja nicht da. Nicht, dass die sich das gemerkt haben.“ In Seminarräume: „Darf ich SIE mal etwas fragen?“, „Was. wenn ich kein Seminar bekomme?“, „Ich hab jetzt eins, aber da kann ich nicht, da muss ich arbeiten, was mach ich denn jetzt?“, „Weißt du wie diese Dozentin ist? Meinst du, das ist schlimm wenn ich mal fehle?“.

Ich bin dafür, dass zukünftig das erste, was den Erstis mitgegeben wird ein: „Keine Panik!“ ist. Egal ob mündlich oder als Flyer. Noch bevor sie mit Infos voll geschüttet werden und trichterartig nur die Regeln und To-Do‘s zu ihnen durchsickern, sollte jemand ihnen sagen, dass sie keine Schüler*innen mehr sind. Dass sie jetzt mehr Rechte, mehr Möglichkeiten und mehr Freiraum zur freien Gestaltung, Selbstentfaltung und Mitbestimmung haben.

Doch die Auftaktveranstaltungen werden von den Universitäten ausgerichtet werden, meist von den Fakultäten. Das Problem daran ist: Die meisten Fakultäten haben überhaupt kein Interesse daran den Studis genau dieses Konzept der Selbst- und Mitgestaltung mit auf den Weg zu geben. Aus den Schulen kommen immer jüngere Abiturient*innen. Die sind es natürlich gemäß ihrem Alter und der Lernstandards and Schulen nicht gewohnt, dass hinterfragen und widersprechen erwünscht ist.

Die Veranstaltungsverantwortlichen und Redner*innen entscheiden also was den Erstis mitgegeben wird und. Das sind meistens Phrasen. Phrasen, bürokratische Infos und das Gefühl: „Es geht weiter wie gewohnt“. An Unis mit aktiven ASten bekommen sie vielleicht noch mit, dass es da noch mehr gibt. Fachschaften versüßen den Weg in die Uni mit Spiel, Spaß und Alkohol. Was im Grunde dasselbe ist wie Spiel, Spaß und Süßigkeiten in der Grundschule, nur für Ältere.

Angeblich bilden wir in den Universitäten die gesellschaftliche „Bildungselite“ aus. Leider vergisst man ihnen beizubringen selbst zu denken und auch mal ihre Rechte einzufordern. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Nichts gutes!

Nicht alles was die Uni macht ist cool, nicht alles was die Uni macht ist richtig. Ein Beispiel: Seit nun einem Jahr gibt es in NRW keine Anwesenheitspflicht mehr. (§ 64 Absatz 2a des Hochschulgesetzes). Das Hochschulgesetz ist für alle Universitäten verbindlich. Sogar die Ausnahmen, in welchen Anwesenheitspflicht besteht, sind dort aufgelistet. Trotzdem vermeiden Universitäten die Aufklärung über diese Regelung. Dozierende führen teilweise noch Anwesenheitslisten, behaupten Genehmigungen von „ganz oben“ zu haben, machen Studierenden die drei- statt nur zweimal fehlen Stress und verweigern Studierenden, die ihre Bachelor Arbeit abgegeben haben, die letzten drei Punkte für ein Seminar anzuerkennen. Nur, weil sie bei einer Sitzung nicht anwesend waren. Dass die Dozierenden das alles nicht dürfen, wissen die Studierenden nicht. Außer natürlich sie sind zufällig über Leute aus der Hochschulpolitik gestolpert.

Die Universitäten klären nicht oder zumindest sehr selten auf. Wer will schon, dass die Studierenden selbst entscheiden welche Seminare und Vorlesungen ihnen etwas bringen? Welche sie regelmäßig besuchen und zu welchen sie nur für ihr Referat erscheinen? Niemand will das. Vor allem die nicht, die dann plötzlich ihre Seminare in einem fast leeren Raum abhalten müssen. Es wird sich drauf verlassen, dass die Studierenden nicht klagen. Wie auch, wenn sie gar nicht wissen, dass sie es dürften.

Natürlich möchte ich hier nicht pauschalisieren, weder die Erstis noch die Fakultäten an den Pranger stellen. Wie überall gibt es positive Ausnahmen. Dozierende, die direkt auf die Abschaffung der Anwesenheit hinweisen, Studierende die sich in der Hochschulpolitik oder anderswo engagieren, die selbst denken und mitdenken.

Dennoch ist mir in dieser Woche aufgefallen, wie sehr die neuen Studierenden auf ein „richtig“ oder „falsch“ auf ihre Aussagen oder Antworten warteten. Wie selten die Abschaffung der Anwesenheitspflicht oder die Rechte der Studierenden Thema waren, wie selbstverständlich alle die Teilnehmerlisten ausfüllten und das Veranstaltungsangebot als Pflichtveranstaltungen wahr genommen wurde.

„Sie sind jetzt Studierende und keine Schüler*innen mehr“, ein klassischer Begrüßungssatz in vielen Reden. Doch wie unterscheidet sich das, wenn man den wesentlichen Punkt des Studiums: der Selbst- und Mitgestaltung durch verschulte Studiengänge, verschwiegene Hochschulgesetze und dem Totschweigen von studierenden Rechte, quasi aushebelt?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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