Liebe SPD. Ein Aufruf zum Wortbruch

Regierungsbildung Die Koalitionsverhandlungen der SPD mit der Union sind beschlossen, am Ende wird eine Mitgliederbefragung stehen. An der Basis wird eine reale Wahlmöglichkeit gefordert

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Gute Laune: Die SPD Führung am 17.10.2013, bevor die Koalitionsverhandlungen mit der CDU vereinbart wurden. Die Parteibasis zeigt sich indes kritisch
Gute Laune: Die SPD Führung am 17.10.2013, bevor die Koalitionsverhandlungen mit der CDU vereinbart wurden. Die Parteibasis zeigt sich indes kritisch

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images


Liebe SPD,
nachdem Du zu Ende sondiert hattest, erhielt ich zusammen mit 470.000 Mitgliedern einen Brief, unterzeichnet von Parteichef und Generalsekretärin, in dem Du mir von Deiner Sondierungsrunde berichtest und mit ehernem Pathos Deine Bereitschaft versicherst, die „großen Herausforderungen der kommenden Jahre in Deutschland und Europa“ anzunehmen.

Ich bin ein einfaches Parteimitglied mit einer achtstelligen Mitgliedsnummer. Ich möchte Dir sagen, dass ich mich massiv verarscht fühle. „Hinter die Fichte geführt“, wie Deine botanisch versierten Spitzenpolitiker neuerdings alle sagen. In den zehn Jahren meiner Mitgliedschaft habe ich vor allem schmetternde Niederlagen erlebt. Historische Klatschen. Im Bund, in der Kommunalpolitik, von der Landespolitik meines Heimatlandes Bayern ganz zu schweigen. Und immer waren die „Tage danach“ alle gleich: Parteispitze wie Ortsvereine beschworen das Herz der Sozialdemokratie, die Rückbesinnung auf Basis und Kernthemen. Doch was ist geschehen? Wo sind die Konsequenzen?

Liebe SPD,
während ein professioneller Verwalter der Macht wie Herr Steinmeier in Berlin zum zweiten Male nach einer historischen Wahlniederlage fait accompli macht und sich eiskalt am nächsten Tag erneut zum Fraktionschef wählen lässt, umschmeichelst Du nun Deine Basis, beschwörst sie als Herzkammer der SPD. Die Basis vor Ort, diese seltsame Mischung aus halbreligiösem Kegelclub und Selbsthilfegruppe. Man wirft ihnen Wortbrocken hin, den Katechismus der Sancta Ecclesia Socialdemocratica, diese scheinbaren Zauberworte „Willy Brandt“ und „150 Jahre“, um sie emotional ruhig zu stellen. Seit 1998 hat die SPD elf Jahre im Bund regiert. Nicht zuletzt dort haben die selbsternannten Diadochen Willy Brandts jenes Vertrauen verspielt, das sie mit halbherziger Folklore und Geschichtsunterricht kaum zurückgewinnen werden. Nun sollen weitere vier Jahre Staatsräson und Große Koalition hinzukommen. Die vergewaltigte Basis hat gelernt: Vereinszugehörigkeit hat mit sozialdemokratischer Politik nichts zu tun. Postdemokratie und die unsägliche Kultur der Dauerironie mögen den Homo Socialisticus zu einer unpopulären Spezies gemacht haben. Bankenkrisen, Flüchtlingsdramen und Kriege zeigen jedoch, dass er immer noch benötigt wird. Und es gibt offensichtlich eine linke Partei in Deutschland, die das verstanden hat. Eine Partei, in der nicht wenige an der vielbeschworenen SPD-Basis einen natürlichen Partner sehen. Eine Partei, die trotz der unsäglichen Diskriminierung durch die SPD einen Schritt auf sie zu gemacht hat. Doch die SPD-Spitze verhandelt nicht mit Terroristen und nicht mit der Linkspartei. Sonst mit jedem, wie es scheint.

Liebe SPD,
wie lange willst Du Dich und uns noch knechten mit der Mär vom „Wortbruch“? Dass moralische Instanzen wie Horst Seehofer oder Focus-Redakteure Dich in bester deutschnationaler Tradition als vaterlandslose Gesellen brandmarken wollen? Natürlich bekommt man vom politischen Gegner keine Liebe. Man bekommt auch von Wilfried Scharnagl keine Laudatio auf den Länderfinanzausgleich. Die Moral der Anderen als Waffe. Der Wortbruch gegenüber dem eigenen Programm, den eigenen Wählern scheint dagegen hinnehmbar. Doch wir sprechen hier nicht vom moralischen Dilemma des Tyrannenmordes, sondern von der Regierungsbildung demokratisch legitimierter Parteien im deutschen Parlament. Wie kann man angesichts dieser „großen Herausforderungen der kommenden Jahre“ (Gabriel/Nahles) den Beginn eines solchen rot-rot-grünen Bündnisses nochmals um mindestens vier Jahre verschieben? Vier Jahre, in denen man sich mit Seehofers siegestrunkenem Burschenverein an den Tisch setzen soll, Lampedusa am Horizont und Dobrindt im Kabinett? Ernsthaft, SPD, ist es das, was Du willst?

„Wir sind uns der Verantwortung, die wie für die SPD und auch für die Menschen in unserem Land tragen, bewusst.“

Liebe SPD,
Du hast es Dir nie leicht gemacht. Deine offen sichtbare Uneinigkeit, ja Dein Dilettantismus bei jedem Griff nach der Macht, verglichen mit der stets machiavellistischen Geschlossenheit der Union, all das war mir sympathisch. Doch mit diesem als Mitgliederentscheid getarnten Zynismus stehst Du nun den restlichen Agenten der Macht um nichts nach. Alte Haudegen im Ortsverein zerbrechen sich ernsthaft den Kopf über ein moralisches Dilemma, während sich die Parteispitze nach Außen für einen scheinbaren Dialog feiert, für eine angebliche Wahlmöglichkeit, bei der das Ergebnis längst feststeht: Große Koalition oder Tod. Das ist zynisch. Es wird in diesen Tagen selten versäumt, auf die stolze, hundertfünfzigjährige Tradition dieser Partei hinzuweisen. Auf den Heroismus der Anderen. Moralisch gesehen hat Otto Wels’ Fraktion vor achtzig Jahren das Richtige getan, politisch war es nur der traurige Epilog eines Siechtums der Sozialdemokratie, die im entscheidenden Moment nicht Teil einer vereinten Linken war, sondern wieder einmal aus Staatsräson Eckpfeiler von Reaktion und Konservativismus. Was die Epigonen Steinmeier & Co. getan hätten, ist sicherlich eine blöde Frage. Aber ob man bei all der alternativlosen Zustimmung zur Bankenrettung in fünfzig Jahren voller Stolz auf eine Sternstunde des sozialdemokratischen Parlamentarismus zurückblicken können wird, halte ich zumindest für fraglich.

Liebe SPD,
Du wirst nun die nächsten Wochen mit der Union Koalitionsverhandlungen führen, den Mindestlohn „durchsetzen“ und Ministerposten verteilen. Und am Ende wirst Du uns, Deine Mitglieder befragen, ob nun, mit Bauchschmerzen freilich - „trotz alledem“ um in der Sprachfolklore zu bleiben – regiert werden soll, oder ob ich mit meiner Stimme einen nibelungenhaften Untergang der Partei heraufbeschwören möchte, wie ihn die politischen Auguren prophezeien. Das ist aber keine Wahl. Solange Du diesem Mitgliederentscheid nicht die Option hinzufügst, im Gegenzug für Koalitionsgespräche mit Grünen und Linkspartei zu stimmen, muss ich diese Art der Basisdemokratie als Erpressung begreifen. Dafür möchte ich nicht Basis sein.


„Mit solidarischen Grüßen“. Zurück.


Nr. 7010ff.

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Geschrieben von

Bernardo Soares

Ihr fühlet aber / Auch andere Art.

Bernardo Soares

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