Triumph des Wartens

Wähl mich oder stirb - Alternativlos auf allen Ebenen: Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit beginnt in den Parteien selbst. Ein Plädoyer für den aussichtslosen Widerstand.

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Sigmar, es reicht! Sagt Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos und Mitbegründerin der sogenannten Magdeburger Plattform, eines selbsternannten „linken Sammelbeckens“ innerhalb der SPD. Das klingt nach Widerstand, nach parteiinternem Korrektiv, nach den berühmten „Roten Linien“. Allerorten ist vom Grummeln an der SPD-Basis zu lesen, von einer „großen Unzufriedenheit“ mit dem Kurs der großkoalitionären Parteiführung, sei es bei der Vorratsdatenspeicherung oder bei TTIP und CETA. Es darf trotzdem angenommen werden, dass der so adressierte Sigmar Gabriel sich keineswegs aus Sorge vor jungsozialistischen Aufrührern in den Schlaf weint. Trotz des bevorstehenden Parteikonvents. Er weiß: Mag die Basis auch grummeln, es hat sie nicht davon abgehalten, den Koalitionsvertrag mit über siebzig Prozent zu legitimieren. Und die SPD Linke? Für ihr folgenloses digitales Rebellentum mag sich Uekermann ein paar hundert Likes von brandenburgischen Jusos abholen, doch „Rote Linien“ ist ein ähnlich hohler Topos wie auch Verantwortung, Gerechtigkeit oder eben „innerparteiliche Demokratie“ geworden. Jene Alternativlosigkeit, die Angela Merkel zur bleiernen Parole des aktuellen Parlamentarismus gemünzt hat, regiert auch innerhalb der Parteien. Oder anders gesagt: Die SPD Linke kann in jeder ostdeutschen Großstadt eine Plattform gründen – solange sich innerparteiliche Kritik auf Worthülsen beschränkt und keinen personellen Gegenvorschlag präsentiert, bleibt sie Folklore. Schlimm genug, dass man einer Juso-Bundesvorsitzenden unterstellen muss, lediglich eine Angestellte der Bundestagsfraktion in Sachen linker PR zu sein. Ab und an ein wenig verbaler Balsam für die geschundene großkoalitionäre Seele, um weiterhin brav dem Irrglauben aufzusitzen, im Grunde wäre man doch noch irgendwie auf dem richtigen Weg - Sigmar hin, Gabriel her. Aber diese ewigen Funktionsträger haben die Demokratie gelernt, seit sie sechzehn Jahre alt sind: Sie haben Personalvorschläge für Delegiertenposten, Kassenrevisoren und Beisitzer abgenickt und darüber vergessen, für Positionen statt für Ämter zu kandidieren. Was bringt die SPD-Linke denn mehr hervor als Namenslisten und Facebook-Gruppen, die letzten Endes doch nur als Beschäftigungstherapie, als Selbsthilfegruppen fungieren, anstatt ein störrisches Widerstandsnest zu sein? Gallisches Dorf statt ostdeutsche Plattform. Nicht auszudenken, dass ein Ralf Stegner auf einem Bundesparteitag plötzlich gegen Sigmar Gabriel kandidieren würde, wie einst Oskar Lafontaine gegen den glücklosen Scharping. Und sei es nur, um ein Zeichen zu setzen. Um Aufzurütteln. Zur Ehrenrettung. Nicht, um numerisch zu gewinnen. Es gibt den Sieg ohne Sieg. Doch ein solches Demokratieverständnis scheint weggezüchtet durch zuviel praktizierte Zustimmung in zuvielen Delegiertenämtern. Die Postdemokratie beginnt also bereits in den Organen, die laut Verfassung der Nucleus unserer politischen Willensbildung sein sollen. Wenn jedoch die Parteien selbst nicht mehr in der Lage sind, die Diskrepanz zwischen gefühlter Wahrheit an der Basis und dem wilden Mix aus Staatsräson, Pragmatismus und Konformismus, den eine Parteiführung oder Regierung praktiziert, zu überwinden, dann ist es vielleicht, um es mit Brecht zu sagen, doch gar nicht so verkehrt, wenn diese offensichtlich unfähigen Vehikel politischen Willens untergehen. Sind doch die Strömungen in den Parteien zu kraft- und bedeutungslosen Unorten geworden, wie dampfige Wellnesszonen in einem schlecht besuchten Erlebnisbad. Das gilt für die SPD-Linke genauso wie für den Wirtschaftsflügel der Union. Erscheint es vorstellbar, dass in einer CDU nach Angela Merkel etwa Ursula von der Leyen, Thomas de Maizière und Julia Klöckner offen gegeneinander kandidieren? Oder ist es nicht längst Usus, auf die Selbstdeformation des Gegners und auf eine Königssalbung durch die Vorgängerin zu warten? Nicht von ungefähr kursieren vordemokratische Termini wie Kronprinzen oder Kurfürsten. Es scheint hinnehmbar, dass Horst Seehofers neronischer Daumen seinen Nachfolger ernennt, wie in der Thronfolge einer monarchischen Dynastie. Da können die Vertreter dieser Machtverwaltungsorgane hundertmal blödsinnige Ideen - wie Wahlen im Supermarkt - auf den Tisch werfen, um die allgemeine Wahlbeteiligung zu steigern: Es ist ihr eigenes Defizit an Demokratie und Partizipation, das letztendlich den niedrigen Standard setzt. Und erpresste Ermächtigungsgesetze wie die SPD-Basisbefragung über den Koalitionsvertrag als Avantgarde der innerparteilichen Demokratie zu bezeichnen, besitzt mehr Zynismus als das Gesamtwerk von Thomas Bernhard. Am Ende dieser innerparteilichen Konsensprozesse gewinnen die Cunctatoren, die allenfalls mit bewundernswerter Gesäßmuskulatur jeden Konflikt ausgesessen haben, anstatt sich mit ihrer Haltung zu exponieren. Kein junger Wilder, der sich um der Sache willen die Hörner blutig stößt. Kein unbelasteter Quereinsteiger, der die zementierten Systeme in Frage stellt. Und kein greiser Nestor, der frei von persönlichen Ambitionen die Integrität der Erfahrung in den Ring wirft. Unzufriedenheit existiert, doch Alternativlosigkeit regiert. Fast sehnt man sich da die Piraten herbei, die in ihren beinah anarchischen Mustern und Strukturen eine erfrischende Alternative zum abgekarteten Spiel der etablierten Parteien zu werden schienen. Stattdessen: Die Routine des Machterhalts. In zwei Wochen kandidiert ein Florian Pronold erneut und alternativlos zum bayerischen SPD-Landesvorsitzenden: Ein blasser Adabei, der es trotz Sigmatismus und zu großem Trachtenjanker in die erweiterte Bundesregierung geschafft hat. Dank Regionalproporz und Sitzfleisch. Derselbe Pronold, der als Jusovorsitzender einst lautstark das Verschwinden der Kreuze aus bayerischen Klassenzimmern forderte („Lattengustl“), und kurz darauf bei Ratzingers Papstinthronisation wie ein braver Ministrant unter all den patentierten Christen den Kniefall machte. Geistig-moralische Wende. Mehr als ein Betriebsunfall. Und dieser Staatssekretär Pronold, im Nebenjob Vorsitzender eines großen SPD-Landesverbandes, der immerhin stolze Sozialdemokraten wie Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen oder meinetwegen auch Hans-Jochen Vogel hervorgebracht hat – ebendieser Pronold dient sich nun in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung der CSU als Koalitionspartner in Bayern an – sich selbst die letzte Existenzberechtigung absprechend, als oppositionsmüde Nichtopposition. Dass daraufhin in einem ganzen Landesverband keiner aufsteht, und gegen diesen Defätismus kandidiert - kein fleißiger Kleinstadtbürgermeister, kein altgedienter Landrat, keine tatendurstige Jungsozialistin - dass es niemanden an der Ehre zu packen scheint, ist die letzte Selbstkastration, der Schwanengesang der innerparteilichen Demokratie, die Bankrotterklärung vor der Alternativlosigkeit. Als die Kabarettistin Luise Kinseher der bayerischen SPD unlängst beim Starkbieranstich nur noch den Status eines Palliativpatienten einräumte, war das kaum übertrieben. Für den bayerischen Landesvorstand, die erweiterte Entourage jenes Florian Pronold, kandidiert übrigens in zwei Wochen: Johanna Uekermann.

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Geschrieben von

Bernardo Soares

Ihr fühlet aber / Auch andere Art.

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