Im September 1963 kam Alfred Hitchcocks Film Die Vögel in die deutschen Kinos, der heute als Meisterwerk gilt und als letzter großer Erfolg des Regisseurs. Für die titelgebenden Tiere sieht die Sache anders aus: Auf eine Art ist Hitchcocks Film für Krähen das, was Steven Spielbergs Der weiße Hai für Haie ist: die populäre Konnotation dieser Tiere mit dem Bösen. Den klarsten Ausdruck der Nachwirkung dieser negativen Deutung von Krähen findet man in Salman Rushdies Autobiografie Joseph Anton von 2012. Die erste Krähe hat Rushdie den Prolog überschrieben, er beginnt sein Buch folgendermaßen: „Hinterher, als die Welt um ihn herum explodierte und die todbringenden Krähen sich im Schulhof auf dem Klettergerüst versammelten, wurmte es ihn, dass er den Namen der BBC-Reporterin vergessen hatte, die ihm sagte, sein altes Leben sei vorbei, für ihn beginne eine neue, eine dunklere Existenz.“
Die todbringenden Krähen sind die Krähen, die in Hitchcocks Film, erst einzeln, dann mehr werdend, auf den Schulhof einer nordkalifornischen Kleinstadt einfliegen. Bei Rushdie ist der Tag der ersten Krähe der 14. Februar 1989, der Tag, an dem er von der Fatwa erfuhr, dem islamischen Todesurteil, dass der Ayotallah Khomeini gegen ihn verhängt hatte. An dem Tag gehörte Rushdie in England zu den Gästen einer Trauerfeier für Bruce Chatwin, der kurz zuvor an Aids gestorben war. Die „erste Krähe“ ist für Rushdie Khomeini – und die abertausend, die folgen und den Himmel verdecken „wie in einer ägyptischen Plage“, sind die Gefolgsleute des Ayatollah, die Jagd auf den Schriftsteller machen.
Die Natur wehrt sich
Rushdie ist damit, was sein Verständnis der Krähen betrifft, im Westen angekommen. Von den asiatischen Gründungsmythen, in denen Krähen auch in Bombay, wo Rushdie seine frühe Jugend verbrachte, als Schöpfungs-, Weisheits- und Glücksvogel verehrt werden, zeigt sich keine Spur mehr. Krähen sind bei dem Autor die bösen Todesvögel geworden, die in dieser Rigorosität nur der Westen aus ihnen macht – eine Tradition, in der Hitchcocks Film sich bewegt.
Merkwürdig bleibt diese einseitige Verdichtung des „bösen Objekts“ (Slavoj Zizek) auf die Krähen aber dennoch. In Hitchcocks Film sind es drei Vogelformen – Spatzen, Möwen und Krähen –, die sich zum Angriff auf die Menschen formieren. Den ökologischen Interpretationen der Vögel ist das immer aufgefallen. Slavoj Zizek bringt die Beobachtung auf die Formel: „Vögel aller Länder, vereinigt Euch!“, wenn er erklärt, warum die Vögel überhaupt angreifen. In der ökologischen Lesart haben die Tiere von der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur durch die Menschen die Nase voll und gehen zum Gegenangriff über.
Dieses Verständnis des Films hat etwa die Schlussszenen auf seiner Seite: Am Ende sehen die Vögel, die Situation von allen Seiten überblickend, seelenruhig der Abreise der vaterlosen Familie zu. Hitchcock verkehrt den normalen Ablauf im Kampf zwischen Gesellschaft und Natur, in dem sonst immer die Tiere weichen müssen. Er schließt sich damit dem Schema von Ökoaktivisten und Umkehrdenkern wie Elias Canetti an, die die sechziger und siebziger Jahre hindurch den Traum vom siegreichen Rückschlag der Natur und der Niederlage der Menschen träumten.
Von Bedeutung bleibt aber, dass die Vögel bei Hitchcock kein Symbol sind, sie sind real sie selbst. Um nur ein Symbol zu sein, zeigt er zuviel von ihrem Eigenleben und gibt ihren Bewegungen in teilweise wunderbaren Porträt- und Flugbildern zu viel Platz. In einem langen Gespräch, das er mit Francois Truffaut führte und das Hitchcock auf dem Cover der deutschen Buchausgabe bei Hanser Hitchcock mit einem schwätzender Rabe auf dem Arm zeigt, erzählt Hitchcock von seinen Quellen. Inspiriert hatten ihn Zeitungsberichte von Raben, die Lämmer angreifen und Berichte, nach denen sie Tierkadavern und Menschenleichen die Augen aushackten. Beides, der Angriff auf Lämmer wie der Verzehr der Augen von Kadavern, sind Geschichten, die die Krähen verfolgen, seit es Zeitungen gibt.
Klassenkampf mit Federn
Hitchcock folgt ihnen insofern genussvoll, als er es sich nicht nehmen lässt, ebenfalls einen durch einen Krähenangriff augenlos gewordenen toten Framer zu zeigen. Ein Klassenkampf, selbst wenn es nur der zwischen Vögeln und Farmern ist, ist eben nicht unblutig zu haben. Beziehungsweise – und da gilt es den Faden der Hitchcockschen Krähen in die Gegenwart zu tragen – die Krähen wie auch die anderen Vögel übernehmen die Rolle des unerklärlichen, gesetzlosen Ereignisses, das außer der rationalen Reihe über die Menschen kommt. Sie sind kein Symbol für das Drama in der Familie oder sonstwo im menschlichen Teil des Films: Sie sind der Einbruch des Unmöglichen in die Geschichte.
„Ich komme von weit her, mein Land heißt Ideologie, ich lebe in der Hauptstadt, der Stadt der Zukunft, in der Karl-Marx-Straße Nummer siebzig mal sieben.“ Mit diesen Worten stellt sich ein zweiter wichtiger Vogel in einem Film vor – der Rabe in Pier Paolo Pasolinis Film Große Vögel, kleine Vögel. Der Rabe ist „ein Linksintellektueller aus der Zeit vor dem Tod Palmiro Togliattis“, wie es in einem Zwischentitel heißt.
Togliatti war bis zu seinem Tod am 21. August 1964 die prägende Gestalt der heute schon fast vergessenen Kommunistischen Partei Italiens. Er gehörte zu denen, die der Linken eine „Einheit in der Vielfalt“ empfahlen und damit den kommunistischen Parteien Westeuropas nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in Ungarn 1956 den Weg aus dem Stalinismus weisen wollten. Togliatti war eine Art Volksheld, und folglich geriet seine Beerdigung in Rom zu einer politischen Massendemonstration. Hunderttausende erwiesen dem Politiker fahnenschwenkend mit geballten Fäuste die letzte Ehre – ein Ereignis, wie man es zuletzt anlässlich des Todes des Anarchisten Peter Kropotkin 1921 in Sowjetrussland erlebt hatte. Für Pasolini bedeutete der Tod Togliattis mehr als eine Beerdigung. Er sah darin das Ende der gesamten kommunistischen Parteienbewegung in ihrer alten Form, ähnlich wie Kropotkins Beerdigung das Ende des politischen Anarchismus in der Sowjetunion markiert hatte. Insofern war es nur konsequent, dass Pasolini in seinem Film Tagliotti als Raben auferstehen ließ.
Weil Raben oder Krähen, was in diesem Fall gehüpft wie gesprungen ist, in Italien wie der ganzen westlichen Welt als bloße Todes- oder Unglücksvögel fungieren, nervt der Rabe im Film die beiden Hauptdarsteller, einen Vater mit seinem Sohn, auf dem Weg durch die römischen Vorstädte und die sozialen Kämpfe der Zeit mit naseweisen Zitaten von Marx bis Gandhi. Der Rabe ein echter Rabe und nicht nur ein zur Metapher verkommenes Abziehbild. Er hüpft, springt und fliegt und vor der nackten Gewalt auf der Straße flieht er mit einem Sprung in den Straßengraben, wie Gandhi es empfohlen hatte.
Dadurch behält der Vogel seinen Humor und bekommt bei Pasolini jene Ambivalenzen zurück, die er an den zehn Stellen hatte, an denen Raben im Alten und Neuen Testament vorkommen. Am Ende von Pasolinis Film wird er sogar zum Musterchristen. „Papa, der Rabe ist wirklich ein guter Christ, stimmt’s?,“ fragt der Sohn den Vater und deutet auf den klassenkämpferischen Vogel, der vorher auf die Worte des heiligen Franz von Assisi hingewiesen hatte, in denen es heißt: „Und ich sage euch auch, dass es richtig ist, von zwei Klassen auszugehen, von den Falken, die rechthaberisch sind, und den Spatzen, die demütig sind.“ Den Raben aber rühren die Worte des Sohnes derart, dass er sich dem Vater gut christlich selbst zum Fraß anbietet. „Es wird jemand kommen, der mein Gedankengut weiter verbreiten wird. Dann weine ich nur noch um mich selbst,“ wie der Rabe mit seinen letzten Worten verkündet bevor er sich auflöst und nur noch die Reste seiner Federn im Wind wehen.
Wenn man von dem Raben bei Pasolini einen Bogen ins Heute schlagen will, dann hat dieser Teil der christlichen Botschaft mit dem aktuellen Papst, der nicht umsonst Franziskus heißt, tatsächlich einen gefunden, der die Fackel weiterträgt.
Cord Riechelmann veröffentlichte erst kürzlich das Buch Krähen bei Matthes & Seitz
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