1. Poetry Slam Neu-Ulm

Wagners Randnotiz Theater Neu-Ulm, KultuReservoir & Radio free FM präsentierten den 1. Poetry Slam Neu-Ulm am 20.November 2014

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Theater Neu-Ulm
KultuReservoir
& Radio free FM

präsentierten den

1. Poetry Slam Neu-Ulm

am Donnerstag, den 20. November, um 20 Uhr im Theater Neu-Ulm.

Es war ein beeindruckender Poetry Slam, der durch die Vielfalt der Beiträge glänzte.

Auf der Bühne standen: Catharina Straß, Paul Kost, Bernd Uwe Schiefer, Robert Scheel, Marco Kerler, Franziska Hymon, Stefan Grzesina, Heinz Koch, Corina Wagner

Vor fast vollem Haus traten die Slammer gegeneinander an. Moderatoren Tobias Meinhold von KultuReservoir und Paolo Percoco von Radio free FM sorgten für einen gelungenen Abend, trugen beide so genannte „Opfertexte“ vor, die beim Publikum super gut ankamen. Die Bandbreite der unterschiedlichen Texte war enorm. Ich war sehr froh, dass ich nicht bewerten musste. In und um Neu-Ulm und Ulm herum gibt es wahre Wortkünstler, so mein persönliches Fazit. Besonders cool fand ich die Rap-Reime von Bernd Uwe Schiefer. Er zeigte während des Poetry Slams Faszinierendes. Er ging auf Publikumswünsche ein und überraschte alle mit seinen Spontan-Versen. Robert Scheel gewann den Poetry Slam mit skurrilen Kurzgeschichten. Über ihn schrieb ich schon einmal einen Artikel: https://www.freitag.de/autoren/corina-wagner/chaoslesen-im-theater-neu-ulm

Für den 1. Poetry Slam in Neu-Ulm habe ich extra einen neuen Text verfasst, den ich nun für all jene zugänglich machen möchte, die nicht im Theater Neu-Ulm saßen. :-)

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Schönen guten Abend,

mein Name ist – pfffffffffffh - uninteressant, den muss sich niemand merken, aber mein Gesicht. Schaut mich an. Was ist nur aus mir geworden? Schaut mich von oben bis unten an. Guckt mich genau an, beobachtet mich und eigentlich bin nicht übergewichtig, nehme nur Platz ein. Stimmt’s?

Vorsicht! Vorsicht! Ich sehe von dieser Position aus in das ein oder andere Gesicht. Ich kann Eure Gedanken lesen. Klar hab‘ ich das Potenzial zur Kanzlerin, Sittenwächterin oder auch zur Bestatterin.

Entsetzlich, was aus der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen werden kann. Ein monströser Zellklumpen. Der erste Eindruck ist entscheidend. Der zweite manchmal auch, hat man wie ich einen ausgeprägten Bauch. Aus der Zygote ist ein bösartiges, aggressives Verbal-Monster geworden, sagte neulich ein Klassenfeind. Da war ich zunächst ein bisschen stolz.

Ich bin ich! Ich bin ich!

Ich bin ich, bin nicht wie Du! Du bist Du, Du bist Du! Du bist Du!

Ich bin ich! Da wurde noch nichts geklont. Man könnte auch sagen: man hat damit die Umwelt geschont.

Schaut mich an. Und? Ich hab‘ weder Cholera noch Ebola. Eure Blicke durchdringen mich. Irre, das spüre ich ganz deutlich. Das macht mich nicht kirre. Mich gibt es wahrlich nur einmal, bin so ein individuelles Gen-Paket zum Anfassen. Wer mich auf engstem Raum erlebt, wird mich hassen. Ich bin eine grobmotorische, mündliche Tötungsmaschine. Und nenne mich deswegen nicht umsonst auch im Internet Tretmine Tine.

Außerdem habe ich eine Expertise, eine Bestätigung, um zu beweisen, dass mein extremes Lachen jeden in den Wahnsinn treiben kann. Ich kann tatsächlich jeden damit zur Strecke bringen, wenn ich nur will, auch hier. Dann werd‘ ich zum gefährlichen Tier. Jetzt will ich aber nicht. Keine Lust! Eher Frust. Ich hab‘ Urlaub. Und mit Verlaub stört mich dann nichts. Nicht einmal aufgewirbelter Staub der Männer-Partei AfD, die Alternative für desinteressierte Akademiker mit rechten Ansichten des kleinen Mannes.

Ich kann auf Kommando mit den Zähnen klappern und Feinde durch scharfe Sätze ausschalten. Meine Gene sind dafür wie geschaffen. Meine Leistungsfähigkeit kann man auf den ersten Blick oft nicht raffen. Ich kann auch notfalls das Wort: Frieden auf Englisch schreien. Will ich aber nicht und flüstere lieber ein gefühlbetontes Killer-Gedicht: Der Weltfrieden liegt auch mir im Blut wie Feuerbrunst und Glut.

Für Sondereinsätze mit Equipment-Gedöns und gemeingefährlichem Fluchen kann man mich buchen. Ich kann‘ s verraten, bin dann ein Feuerwerk, wie tausend Granaten.

Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, wie meine geniale Geschafel-Sammlung. Bei mir hat Gewäsch, Gesülze, Blabla keine Chance. Dummes Zeug und Gelaber bringen mich wie eine Abwehrrakete in Fahrt. Ich kann jedes Haus zusammen brüllen und Geschichtsbücher mit klugen Worten füllen, aber fieses Geschriebenes auch zerreißen, zerknüllen. Elitäres Geplänkel geht mir auf den Geist und Eierstöcke. Ich will im Moment nicht mehr daran denken und kostbare Zeit damit verschwenden. Nicht aktiv sein, will time-out. Gefasel und Larifari von bekloppten Menschen lenken mich immer so ab.

Leute! Ich sollte keine Nachrichten mehr sehen, das tut mir nicht gut und bringt mich in Wut. Heute könnte ich sogar mit ganzem Körpereinsatz, also mit meiner eigenen Sprache bärtige Terroristen ausschalten, die andere kopflos machen. Über deren Barbareien kann ich nämlich überhaupt nicht lachen. Da bleibe ich todernst und stelle sonderbare Fragen.

Wann ist der Mensch noch ein Mensch? Wann ist der Mensch noch ein Mensch? Wann ist der Mensch noch ein Mensch? Das frage ich mich immer und immer wieder aufs Neue, wenn ich derzeit wahre Bestien in Freiheit sehe und nicht verstehe, warum sie als befruchtete Eizelle so enden konnten. Ihr auch?

Man kann sich doch ändern. Seht mich an. Ich bin eine gut ausgebildete grobmotorische mit Worten gespickte Tötungsmaschine und mache normalerweise alles nieder, was mir vor die aufgebrachte Zunge kommt. Dann kann ich mäkeln, stänkern, meckern, rüffeln, nörgeln, rügen, tadeln, zetern, beanstanden, lamentieren, monieren, querulieren und vorverurteilen. Manchmal hasse ich mich dafür, wenn ich die Klappe nicht halten kann und ein Wortschwall quasi vollautomatisch abgefeuert wird. Ein echtes Problem, wenn ich höre, sehe und beobachte.

Deshalb werde ich eine Auszeit nehmen und die Klappe halten. Ich will nicht mehr lautstark zynisch agieren und lieber mit brachialer Stille reagieren.

Seit Tagen arbeite ich mit einem Ratgeber für verbale Zellklumpen-Typen. Das Buch trägt den banalen Titel: Ausgeschlafen ruhig bleiben!

Kennt ihr das Buch? Es gibt wahrlich schreckliche Gestalten, deren Geschwätz furchtbare Bände sprechen und das Leben vieler Menschen mitgestalten, verwalten. Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz in Führungspostionen werden dort u.a. beschrieben. Für mich ein Buch zum Verlieben. Vielleicht kommt mir in Zukunft kaum noch ein Wort über die Lippen, das andere schwer verletzen würde. Eine große Bürde, aber zu schaffen.

Jetzt ist es endlich soweit, bin für eine Auszeit bereit. Danke!

Text: ©Corina Wagner, November 2014

Bildquelle: © Mario Spreen

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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

Corina Wagner

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