Heute ist der 9. November 2018. Na und!, so sagen die einen, die anderen nicht. Viele sind im Stress, hetzen von A nach B. Der Alltag hat sie voll im Griff. Manche interessieren sich für nichts, auch nicht für politische, geschichtliche Themen wie das Dritte Reich, die katastrophalen Auswirkungen des Nationalsozialismus. Fatal. Deshalb ist es auch fast nicht verwunderlich, dass gestern ein Mitglied der AfD während eines Schweigemarsches zum Gedenken an die ermordeten Jüdinnen und Juden Berlins anlässlich des 80. Jahrestages der Pogromnacht völlig provokativ teilnehmen konnte. Widerlich. Geschmacklos. Er trug eine blaue Kornblume an seinem Revers. Na und, werden viele denken. Warum widerlich? Da diese Kornblume ein Nazisymbol ist, das in Österreich seinen Ursprung findet. Zunächst galt das Symbol der Kornblume im 19. Jahrhundert als preußisch-patriotisch. Kaiser Wilhelm I. gedachte damit an seine Mutter. Die deutschnationale Gruppierung, die sogenannte Schönerer-Bewegung nutzte dann dieses Symbol als Parteisymbol. Für den jungen Adolf Hitler galt Georg Heinrich Ritter von Schönerer, ein radikaler, antisemitischer österreichischer Politiker und Gutsherr, als Vorbild. Schönerer übte seinerzeit großen Einfluss auf Hitler aus. Die blaue Kornblume galt in Österreich sogar zwischen 1933-1938 als Erkennungszeichen für illegale Nationalisten. Deshalb ist das Tragen einer blauen Kornblume am Revers eines deutschen Politikers auch pure Provokation der geschmacklosesten Art und zeigt dessen Geisteshaltung während einer Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht. Laut Medien soll dieses AfD-Mitglied gesagt haben, dass er zum ersten Mal höre, dass das ein Nazisymbol sein solle. Da kann man nur den Kopf schütteln und darüber nachdenken - für wie blöd er manche Leute hält, die ihm solche Aussagen glauben sollen.
Wie geht es Ihnen heute und dies unabhängig von 80 Jahre Pogromnacht? Wie geht uns hier in Deutschland? Jedem einzelnen? Hat Neid viel Platz in unserem Alltag? Sind wir mit unserem Leben zufrieden? Einige werden spontan ja sagen, andere fühlen sich irgendwie benachteiligt. Persönlicher Frust wird immer häufiger durch Hass komprimiert, so ist mein Eindruck.
„Wie geht es Ihnen?“ - hat man mich heute Vormittag gefragt. Die meisten kennen diese Situation, wenn man plötzlich völlig unerwartet von einer Person angesprochen wird, die man lange nicht mehr gesehen hat und diese nicht zum engsten Freundeskreis gehört. Wie reagiert man dann? Manche jammern spontan auf höchstem Niveau. Andere lächeln ihre Sorgen weg oder sie schwelgen in Übertreibungen, um zu zeigen, dass es ihnen sensationell gut geht, obwohl dies im krassen Gegensatz der Person gegenüber, die sich nach dem Empfinden erkundigte. Anderen geht es hingegen wirklich viel besser, anderen noch schlechter oder alles ist auf dem Stillstand geblieben. Manche sind rundum glücklich und zufrieden. Nicht selten will man auch nicht in aller Öffentlichkeit dann auf die Schnelle die vergangene Zeit Revue passieren lassen und sagt: „Ich bin in Eile“. Hätte die Person, die mich heute Vormittag angesprochen hat, eine blaue Kornblume sichtbar an der Jacke getragen, dann hätte ich mir Zeit genommen, auch wenn ich in Eile gewesen wäre. Obwohl ich mich dann wieder aufgeregt hätte, warum die Person antisemitisch unterwegs ist. Zurück zur Frage, wie es mir geht.
Es geht mir gut. Durchschnittlich gut. Eventuell auch viel zu gut, wenn ich dabei an jene Menschen denke, die mich unbequem finden, weil ich vehement gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bin. Diese Menschen u.a. gerne in aller Öffentlichkeit sagen: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“.
Nein, das darf man nicht sagen, weil es rassistisch, antisemtisch klingt. Ich zumindest wehre mich gegen die neuen schlechten Manieren derjenigen, die neuerdings durch die Straßen marschieren, als hätte man sie irgendwie mit modernster Technik aus dem Jenseits hierher gebeamt. Beamen kennt man bekanntlich nur aus Filmen, aber man fühlt sich immer häufiger so, als sehe man gerade im Kino den falschen Film. Es gibt Männer, aber auch Frauen, die wie selbstverständlich den rechten Arm heben, als wäre man gerade mit SS-Leuten auf Kuschelkurs gegangen. Nein. Stopp. Hallo! Wir kuscheln nicht. Zur Erinnerung: Wo leben wir denn jetzt? Im Dritten Reich? Damals als man seinen Neid auf Klugheit, Kreativität und Erfolg im Beruf durch Prügel und Mord öffentlich auslebte. Nein. Stopp. Hallo! Wir leben jetzt, im heute, nicht damals, als man seinen Hass durch Gewalt öffentlich auslebte. Von den Nazis wurden im Dritten Reich ca. 6 Millionen Juden ermordet. Bis heute weiß man nicht genau, wie viele Juden insgesamt ermordet wurden. Erschreckend und beängstigend zugleich ist die Tatsache, dass es immer noch Holocaust-Leugner gibt, die so tun, als hätten nie die menschenunwürdigen Konzentrationslager wie z.B. Auschwitz existiert.
Ich hätte nie gedacht, dass auf deutschen Straßen menschenverachtende Parolen wie „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ gegrölt werden. Aber hallo? Wir haben das Jahr 2018! Da trägt man auch im November als deutscher Politiker keine blaue Kornblume am Revers!
Heute, genau vor 80 Jahren, fand am 9. November 1938 die Pogromnacht statt. Das sind keine Fake News, auch nicht, dass 1989 die Mauer fiel.
© Corina Wagner, 9. Nomvember 2018
Kommentare 7
Gut aufgespießt, Frau Wagner. Sie haben natürlich völlig Recht, dass viele AfDler und Rechte versuchen, mit bekannten und weniger bekannten Symbolen zu provozieren.
Die repräsentativen Ergebnisse der fortgeschriebenen Leipziger Studie zu antidemokratischem Denken in Deutschland (Decker/Brähler, "Flucht ins Autoritäre", 2018), belegen, dass es keineswegs die sozial wirklich benachtteiligten Gruppen und Einzelpersonen sind, die sich bei der AfD und anderen rechten Vereinigungen in Szene setzen und einen anderen Staat wollen. Die Gefahr für die Republik kommt, wie schon einmal, vor allem aus der Mitte der Gesellschaft. Beamte, Angestellte und Akademiker, sowie ein paar Freiberufler, alle aus dem großen Mittelbau, stellen das Führungspersonal und auch die meisten Anhänger.
Bei den Wählern zeigt nur ein harter Kern von ca. 10-12 % ein geschlossenes Weltbild und weitere 10- 15 % halten sich ein Türchen offen. Die sind vielleicht noch erreichbar, werden aber, je nach Situation, für die vermeintlich durchsetzungsstärkeren Ansichten stimmen. - Daher ist es auch so wichtig, dass Demokraten und Republikaner sich bekennen
Interessant ist auch, dass das autoritäre Denken eindeutig asymetrisch unter den Geschlechtern verteilt ist. Die Fremdenfeindlichkeit jedoch, teilen sich Männer und Frauen in Deutschland fast schon paritätisch.
Zudem exisitert ein Gefälle Ost größer West und auch eines, Nord kleiner Süd, in allen diesen Fragen. Der Süden ist für prekäre Lebensverhältnisse eher nicht bekannt.
Vielleicht schreibe ich ja doch noch einmal ausführlich über die Studie und allgemein, zur Wiederkehr der Diskriminierung, als politisch und gesellschaftlich gängiges Muster.
Beste Grüße und nur weiter
Christoph Leusch
Lieber Herr Leusch,
herzlichen Dank für den ausführlichen Kommentar.
„Die Gefahr für die Republik kommt, wie schon einmal, vor allem aus der Mitte der Gesellschaft. Beamte, Angestellte und Akademiker, sowie ein paar Freiberufler, alle aus dem großen Mittelbau, stellen das Führungspersonal und auch die meisten Anhänger.“
Gerade dies macht mir große Sorgen.
Ich muss jetzt außer Haus, später sitze ich im Theater Neu-Ulm und sehe mir mit einer Freundin die Komödie Frohes Fest von von Anthony Neilson an.
Bester Grüße
Corina Wagner
Doch wie steht's mit unseren "Vorbildern" aus Politik und Wirtschaft, z. B. dem honorigen SPD-Mitglied Thilo Sarrazin? Unsere Regierungspolitiker halten Gedenkreden zur Reichskristallnacht und pflegen mit Staaten, die einen Holocaustmittäter (Stepan Bandera) zu ihrem Nationalhelden erkoren haben ausgezeichnete Beziehungen. Auch mit "Kopf-ab-Monarchien" halten sie fest zusammen, wenn's unserer(?) Geopolitik nützt. Wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit im Volk? Kein Wunder bei diesen Vorbildern! (Bitte Splitter- und Balkenträger im Auge nicht miteinander verwechseln.)
>>Doch wie steht's mit unseren "Vorbildern" aus Politik und Wirtschaft...<
Damals kamen die neuen Despoten nicht mehr mit den kaiserlichen Insignien und wurden nicht mehr erkannt. Und heute kommen die neuen Despoten nicht mehr mit dem Hakenkreuz daher und werden nicht als die immer Gleichen erkannt, obwohl wir ihr katastrophales Wirken nur zu deutlich sehen und spüren.
Liebe Corinna,
Ich weiss ja, Du bist ein freundlicher, aufrechter Mensch mit einer klaren Meinung. Da kann's ntuerlich leicht passieren, dass man sich "falsch" aufregt.
Ist ja alles richtig, was Du schreibst. Kann jeder sofort unterschreiben. Das mit der Kornblume wusste ich gar nicht. Aber sonst... ja, ja die Rechten, dagegen ... usw.
Am Ende kommt ein staats-affirmativer Text heraus, der auf "die und das" schimpft, auf "die und das" man schimpfen darf (und sollte! ja wohl) und das wars.
(Ueberigens der Beitrag von @Muhammet Kaan Arier ist noch unertraeglicher.)
Am Ende wird an Deinem Text nur noch kritisiert, dass Du nicht erwaehnt hast, dsss auch die gegenwaertig statstragende Clique schlimm, schlimm ist. Surprise, surprise.
Was waere die Alternative? Etwas Erinnerungs'arbeit'!
Der Begriff "Reichsprogromnacht" ist naemlich eine nachtraegliche Beleidigung der Opfer.
Trotz der Abwandlung ist der Spott leicht erkennbar, den Goebbels mit seiner Praegung "Reichskristallnacht" ueber die Betroffenen auskuebelte. Ein Begriff, den die meisten Deutschen tatsaechlich amuesant fanden, ob sie sich beteiligt hatten oder nicht.
Genau das nahm die Fuehrung des Dritten Reiches als Bestaetigung, dass die Mehrheit der Deutschen die seit 1935 zunehmende staatliche Diskriminierung der Juden mehr oder weniger akzeptierte. Das kann man in den Tagebuechern von Goebbels et al. leicht nachlesen.
Dieses Muster der zumindest passiven "Mittaeterschaft" der deutschen Bevoelkerung hat nicht nur weitere Diskriminierungen, sondern auch den spaeteren Massenmord ermoeglicht.
Darauf hinzuweisen, ist m.E. wichtiger als die Kornblumen. Es waren eben nicht "Die Nazis", die Backsteine in die Fensterscheiben juedischer Geschaefte warfen, sondern ziemlich normale Deutsche und ziemlich viele.
Genau so empfinde ich auch.
Wer die ernstzunehmende Entwicklung nicht sehen will, muss sich später nicht wundern, wenn die Demokratie über Nacht abgeschafft wird.
Lieber Aussie,
zunächst noch ein Dankeschön für Deine Kommentare im vorherigen Beitrag Jo, mei! . Da war ich bereits nicht mehr online und über eine Woche lang nicht zu Hause. Deshalb kommentierte ich nicht mehr.
Vielen Dank für Deinen aktuellen Kommentar, Deine Worte.
Es ist sehr wichtig, dass auch in Zukunft an die Schrecken, an die Grausamkeiten des Dritten Reichs bis ins kleinste Detail erinnert wird. Es ist nun mal z.B. kein „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Genau solche widerlichen –Vogelschiss- Äußerungen, die von deutschen Politikern wie Gauland genutzt werden, um alles zu Verharmlosen und zu Verniedlichen. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Umso wichtiger, dass auch in Zukunft diese 12-jährige Horrorzeit der deutschen Geschichte bis ins kleinste, perfideste Detail beleuchtet wird, so dass völkisch, nationalistisch denkende Menschen die Geschichte nicht neu, schön schreiben können. Gerade Menschen wie Nationalist Höcke sind absolut gefährlich für die Demokratie.
„Darauf hinzuweisen, ist m.E. wichtiger als die Kornblumen. Es waren eben nicht "Die Nazis", die Backsteine in die Fensterscheiben juedischer Geschaefte warfen, sondern ziemlich normale Deutsche und ziemlich viele.“
Ich hab‘ mich über dieses widerwärtige, provozierende Verhalten unglaublich aufgeregt, als ich davon erfuhr. Deshalb habe ich über die Kornblumen-Aktion geschrieben. In jenem Moment habe ich alles andere rundum die Pogromnacht ausgeblendet. Es waren damals ziemlich viele normale Deutsche von der Ideologie ganz angetan, sonst wären sie nicht auf die Straße und hätten diese abscheulichen, menschenverachtenden Maßnahmen ergriffen. Jeder der freiwillig Gewalt ausübte, Steine warf, prügelte, abfackelte, ist auch für mich ein Nazi, denn er unterstützte genau in jener Nacht mit seinem Handeln diese Ideologie. Neid war wohl der größte Faktor für diese Taten, mutmaße ich.
Herzliche Grüße nach Australien!
Corina