Abschied

CoLyrik Aus dem Tagebuch von Adele Wurmholz...

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Es ist nun wirklich an der Zeit - Abschied zu nehmen. Tagelang quälte mich dieser Gedanke.

… Schnief …

Wieso musste ich dieses Problem aushalten? Warum?

Unerträgliche Schreikrämpfe, die ich deswegen unterbinden musste. Schlimm. Ich habe mich wirklich bemüht, um das Ganze wie eine Akte in einer staatlichen Einrichtung zur Seite zu legen, die irgendwo ungelesen einstaubt. Ich weine nicht wegen Klischees. Niemals. Meine Schwächen liegen in der Ehrlichkeit. Wenn ich merke, dass PolitikerInnen oder WeltverbesserInnen lügen, dann werde ich zur Heulsuse. Heulen hat Nachteile. Man kann wie ein ausrangierter Staatsdiener oder wie ein Wischmopp aussehen. Man wirkt schlicht depressiv. Im Grunde meines Herzens …

… Schnief …

Weinen kann befreiend wirken.

Ich wurde als positiv denkender Mensch gezeugt. Grundsätzlich gute Voraussetzungen für ein schönes Leben. Warum jammere ich? Was ist da schief gelaufen? Vom Optimismus zum Pessimismus abzuwandern, liegt völlig Trend. Wir werden ja alle älter.

… Schnief …

Eine Entwicklung, die niemanden verunsichern muss. Die Industrie sorgt vor. Es gibt nun zum Beispiel die tollsten Windeln für Erwachsene, Taschentücher für sensible, ältere Haut und so etwas wie den Ferrari unter all den Klorollen, also Toilettenpapier vom Feinsten.

… Schnief …

Schreckliche Bilder tauchen neuerdings immer wieder im Unterbewusstsein auf. Ganz furchtbar. Ich bekomme Schweißausbrüche, werde nachts von meinem eigenen Schnarchen wach. So schlimm war es noch nie. Deshalb nehme ich nun Abschied und notiere dieses Empfinden in meinem Tagebuch.

… Schnief …

Grässliche Bilder, die in der Zukunft stattfinden, schwirren nachts in meinem Kopf umher. Immer wieder. Horror pur! Jede Nacht tauchen plötzlich monsterhafte Lebensmittel auf, die mich foltern. Überdimensionaler Brokkoli mit Hackfresse aus dem Versuchslabor macht mich zum Beispiel fix und fertig. Ich sehe Eisbein mit Ringelsocke auf meinem Teller liegen. Angsteinflößende Kinderaugen starren mich an. Ganz schlimm. Genmanipulierte PoltikerInnen sorgen sich liebevoll um mich, wenn ich 111 bin. Ein entsetzliches Gefühl, wenn Poltikerinnen so tun, als seien sie menschlich und liebevoll. Mein japanischer Kater sah im vergangenen Traum wie der schrullige Nachbar von Tante Käthe aus. Einen Monsterkater will ich nicht. Ein Abschied kann auch ein Neuanfang sein. Jawoll! Ich werde den Kater bei Ebay versteigern.

Ganz ehrlich: Ich kann nicht mehr. Solche Nächte gehen an die Substanz, zumal tagsüber Nachrichten, Meldungen das ganz banale Seelenleben erschweren.

Meinem jungen Liebhaber erzählte ich davon. Er meinte, dass er DAS nicht mitmachen wolle, also zuzusehen, dass ich so alt werde. 112 Jahre will ich werden. Männer sind einfach nicht so belastbar. Ich will aber unbedingt Optimistin bleiben. Jawoll! Ich will mich endlich damit abfinden, dass es so ist wie es nun ist und der Gegenwart eine Chance geben. Deshalb habe ich jener Problematik insgeheim eine Abkürzung(ZWdV) gegeben, damit ich besser Abschied nehmen kann. Heute will ich noch einmal total traurig sein.

… Schnief …

Den Geliebten behalte ich vorerst. Man weiß ja nie. Er ist so ein cooler Abhörspezialist, Friseur, Geheimnisträger, arbeitet ganz nebenbei als Diplomat und besitzt fünf gefälschte Pässe. Manchmal ist es allerdings besser, wenn er nur küsst und nicht spricht.

Ich schweife mal wieder ab, passiert mir neuerdings öfters. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, seit dem mein Mann…

Beginne mit einem Thema und komme von Stöckchen auf Hölzchen. Beängstigend. Ein stechender Schmerz zuckt durch meinen Körper.

Jetzt weine ich tiefgründig. Meine Orangenhaut stört das nicht, aber die Augenringe.

Noch einmal Zukunftsängste schüren. Danach ist aber endgültig Schluss damit. Meine Brüste verlieren langsam an Haltung. Schade!

Ein Codewort für Szenarien zu benutzen, die man nicht unbedingt beschreiben will, bietet sich an, das ist genau mein Ding, so dachte ich irrtümlich. Ich habe meine Meinung geändert, liegt vielleicht auch am Sex mit diesem Diplomaten. Er ist insgeheim Doppelagent und das merkt man als reifere Frau. Ein Feindbild, so ein fieser Pessimisten-Gedanke sitzt genau in meinem Hinterkopf. Ich will ihn loswerden wie das einst vulgäre Wort „Scheiße!“. Dieses in der Gesellschaft inzwischen etablierte Wort, denke ich mir stets schön. Das führt auf Dauer zu Unbehagen, wenn ich zum Beispiel in diesem Zusammenhang an Fukushima denke, an Umweltpolitik und an meinen Liebhaber.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Jawoll! Jetzt habe ich es ganz laut gesagt. Es tut mir gut. Jetzt könnte ich es sogar zu meinem Mann sagen, der Atommeiler liebte. Zu spät. Seit vorgestern ruht er in der Gefriertruhe seiner Mutter. Sie kann sich Gott-sei-Dank an nichts mehr erinnern. „Scheiße, Scheiße, Scheiße! “ Es wirkt irgendwie befreiend.

Keiner hat es gehört, sitze alleine im Raum. Ruhe, gespenstische Stille herrscht, so wie im verlassenen Ort Tschernobyl. „Scheiße!“

Das prägnante Wort kann dermaßen viel ausdrücken. Weltweit sind vermutlich „Shit“ oder „Fuck no!“ eindeutig zu verstehen.

Eine Lobby könnte in diesem speziellen Fall für „Schöne Scheiße- und Holy Shit- SagerInnen“ entstehen. Leute, die jene Worte für Missstände benutzen, die es im Keller der Schwiegermutter oder weltweit gibt. Es gibt ja schließlich auch eine Lobby für JA- und NEIN-SagerInnen.

Ja zur Liebe – Nein zum Hass!

Schöne Scheiße zur allgemeinen Gleichgültigkeit – Holy shit zur Weltpolitik!

Menschen, die Kot-Wörter wie ich jetzt in verschiedenen Momenten benutzen, sind manchmal viel intelligenter wie sie auf den ersten Blick aussehen, das macht die Sache wahrlich nicht leichter. Mein Geliebter benutzt diese Wörter regelmäßig und war zum Beispiel bei meiner Schwiegermutter zum Eierpunsch eingeladen. Schwierig, wenn man nach Lösungen sucht, aber keine parat hat.

Vielleicht nur ansatzweise zu verstehen glaubt, wie es tatsächlich sein könnte bzw. kann, da man eine ähnliche Angelegenheit bereits ausgesessen hat. Kompliziert für Pessimisten, aber leicht verständlich für Optimisten oder auch umgekehrt. Schwammige Formulierungen sind „Scheiße“. Was mache ich mit der Leiche?

Schwierig zu erklären.

Neulich sagte mein Gatte zu mir: „Spirituell wird es, wenn jemand völlig unvorbereitet feststellt, dass er anstatt mit vierlagigem Toilettenpapier nur noch mit einlagigem Papier haushalten muss. Und deshalb vorsichtshalber betet, ob das Anliegen tatsächlich ohne Seilschaft zur völligen Zufriedenheit erfolgen kann. In dieser prekären Situation gibt es Menschen, die vom Pessimisten zum Optimisten werden oder zum Pessioptimisten mutieren. Da wird oder kann Kreativität gefordert sein.“

„Aha!“, dachte ich. Es muss eine neue Kunstform sein, wenn man mit einlagigem Papier Glanzleistungen erbringen kann. Nur Überlebenskünstler kommen eigentlich weiter. Eigentlich unzumutbar und doch geht es irgendwie. Das Leben ist immerhin kein verlassenes Kinderkarusell in Tschernobyl. Genau.

Musste er deswegen sterben? Mein Gatte? Wegen dem hauchdünnen Papier?

Es liegt völlig durchsichtig auf der Hand. Oder etwa nicht? Ich nehme nun immer mehr Abschied.

Wer bewältigt denn schon gerne mit den geringsten Mitteln große Anliegen?

Ich lasse langsam los.

Jetzt wird es endlich Zeit Abschied zu nehmen. Vier Buchstaben, die das Codewort „ZWdV“ ergeben. Diese Abkürzung hat mich dazu bewegt, dass ich vorhin bitterlich weinte.

Ich verabschiede mich nun wehmütig mit und von den Worten: Zum Wohle des Volkes!

Schöne Reise! Scheiße! Ich mache jetzt Schluss.

Eine Witwe und Geliebte mit optimistischen Wurzeln...


© Corina Wagner, Oktober 2013


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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

Corina Wagner

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