Baunummer 401
Hedda saß wie angewurzelt auf einer Bank am Ufer eines Sees und starrte aufs Wasser. Schon wieder war es passiert.
Dieser schreckliche Moment, wenn wie im Zeitraffer in ihrem Gehirn Unglaubliches abgespult wurde. Dann war sie zu nichts mehr fähig. Hedda tauchte dann in die Tiefe ihres Unterbewusstseins ein und wurde zu Rose. Sie saß völlig regungslos da, umklammerte wie unter Hypnose einen schwarzen Bären aus feinstem Mohair. Ihr Blick versank auf der Oberfläche des Sees. Vor ihrem geistigen Auge sah sie dreidimensionale Bilder. Wie immer lächelte sie, winkte wie all die anderen Passagiere, wenn sie im englischen Southampton in See stach. Dann begann ihre Zeitreise, die keiner aufhalten konnte. Ringsherum verschwand das bunte Treiben am See. Nur kurz bewegte sie ihren Kopf, als eine heftige Brise herüber wehte, die nach gegrillter Rostbratwurst, altem Frittierfett der Pommesbude underwater world roch. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt, so dass sie überhaupt nicht bemerkte, dass ein Graureiher im Sturzflug an ihr vorüber flog. Und direkt neben ihr einen weißen Fleck auf der Sitzfläche der alten Holzbank hinterließ. Cumulonimbus-Wolken bewegten sich rasant auf sie zu. Badegäste verließen in Windeseile mit ihren Habseligkeiten den Badesee. Es schien so, als wäre Hedda wie gelähmt. Sie war nun Rose und stand deshalb immer noch kerzengrade auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffs Titanic, das in Richtung New York unterwegs war, als der erste Donnerschlag in der Ferne zu hören war. Könnte Hedda die Datumsanzeige von 2013 wieder auf das Jahr 1997 zurückdrehen - an jene Stelle bevor das amerikanische Spielfilmdrama Titanic in die deutschen Kinos kam, dann hätte sie einen Neuanfang gewagt. Sie hätte die Zeit angehalten und ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Schweißperlen zierten ihre Stirn. Inzwischen begann es zu stürmen. Eine Plastiktüte verfing sich an ihrer linken Sandalette. Hedda saß mit leicht geöffnetem Mund da. Ein kleiner Speichelfaden suchte den Weg über ihr Kinn hinunter auf ihre Brust. Sie war gedanklich ganz weit weg. Normalerweise hätte so ein Speichelfaden nie eine Chance bekommen, sich selbständig zu machen. Jetzt war Ausnahmezustand. Ihr schrecklicher Moment, wenn sie sich urplötzlich nicht mehr bewegen konnte und im Gehirn der Schalter Titanic umgelegt wurde. Dann wurde sie zu Rose. Klack! Fuck!
Damals war noch alles in Ordnung. Bevor sie mit ihrem Kommilitonen Knut in der Kinopremiere von Titanic saß. Damals ist lange her. Sechzehn Jahre liegen dazwischen. Da war Knut nur Knut, auch später noch, als Hedda bereits Rose war. Es lag nicht am Körper, am Aussehen von Leonardo Di Caprio, warum die Beziehung zwischen Knut und Hedda einschlief. Ihre Neugierde brachte sie um den Schlaf. Sie recherchierte, sammelte Informationen rund um das Thema Titanic. Innerhalb von drei Monaten saß sie fünfzig Mal im Kino, um sich den Film anzusehen. Irre, so denken viele. Das ging nicht ohne Spuren an ihr vorüber. Hedda dokumentierte jeden minimalen Hinweis, den sie im Internet und Büchern fand. Sie wurde zur Titanic-Expertin und gründete die Plattform Abenteuerplatz Titanic. Sie hatte überhaupt keine Zeit mehr für Knut, der völlig entnervt resignierte. Knut empfand es damals als unerträglich, wenn Hedda in Endlosschleife den Titelsong „my heart will go on“ sang. Hedda war zwar als Zwanzigjährige ziemlich sexy, aber völlig unmusikalisch. Sie traf keinen einzigen Ton. Extrem nervig hörte sich die Textstelle an, wenn sie „near, far, wherever you are“ sang. Knut zog letztendlich aus, verließ die WG, weil sein Mischlingshund Jack jedes Mal randalierte, wenn Hedda haarscharf daneben sang. Er musste sich entscheiden. Entweder die nervige Hedda oder Problemhund Jack. Das ist jetzt schon ganz lange her. Inzwischen hatte Knut viele Freundinnen, wagte sogar eine Ehe, aber seine große Liebe blieb Hedda, die ihr eigenes Leben schon lange nicht mehr auf die Reihe bekam.
Über dem See hatte sich der Himmel verdunkelt und starker Regen setzte ein. Hedda war 36 Jahre alt und eigentlich alt genug, um zu wissen, was sie da tat. Ihre Wahrnehmung war völlig gestört. Sie harrte noch immer auf der Bank am See aus, der sich zum tobenden Meer verwandelte. Der Pächter von der Pommesbude schrie zu ihr herüber: » Sind Sie lebensmüde? «. Hedda verzog keine Miene und antwortete nicht. Sie war nicht ansprechbar, wirkte völlig geistesabwesend. In unmittelbarer Nähe brachen durch den starken Wind Äste von den Bäumen, die bei schönem Wetter als Schattenplätze dienten. Blätter wirbelten wie kleine Flugobjekte über sie hinweg. Hedda war immer noch in ihrer anderen Welt unterwegs. Den Pächter ignorierte sie in jenem Moment: ihrem schrecklichen Moment. Derweil haderte er sekundenlang mit seinem Gewissen, ob er die fremde Frau ihrem Schicksal überlassen sollte. Er schaute nochmals kurz zur Bank hinüber. Hedda saß regungslos da. Trotz alledem startete er den Motor seines Kleintransporters und fuhr im Regen davon. Rose ahnte Schlimmes. Währenddessen lief das vom Eisberg gerammte Kreuzfahrtschiff voll. Man hätte neben Hedda eine Bombe zünden können. Sie hätte es nicht bemerkt, so sehr war sie mit ihren Gedanken bei dem Schiffsunglück der Titanic. Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein. Es rumste heftig. Nur kurz zuckte Hedda zusammen, hielt aber immer noch krampfhaft Othello, den nassen Bären in ihren Händen. Eine Replik des berühmten Trauerbären aus dem Hause Steiff. Nach dem Titanic- Unglück 1912 sollte der 50 Zentimeter große „Othello“ mit rotumrandeten Augen und feinstem schwarzen Mohairfell den Kummer, das Leid der Angehörigen in England lindern. Von den Trauer-Bären wurden einst insgesamt 82 Stück in Giengen an der Brenz produziert. Knut hätte zu gern seiner Jugendliebe Hedda ein Original ersteigert. Dafür fehlte ihm definitiv das nötige Kleingeld. Jahrelang bloggte er als User Baunummer 401 auf ihrer Plattform Abenteuerplatz Titanic. Davon hatte Hedda überhaupt keine Ahnung, solange bis sie zu einem Notar musste und eine Schachtel erbte. Etliche Jahre beobachtete Knut ihre Aktivitäten im Internet und nahm deswegen eine andere Identität an. Bis zu dem Tag, als er auf die Idee kam – seine Hedda vor Rose zu retten, die immer mehr Besitz von ihr einnahm und er diese katastrophale Entwicklung nicht mit verantworten wollte.
Ihre Wesensveränderung veranlasste Knut 2010 dazu für sie einen maritimen Plan zu schmieden, um sich dann zu outen. Er kam zu dem Entschluss zwei Tickets für das Kreuzfahrtschiff Balmoral zu kaufen. Schnell wurde ihm klar, dass er damit an seine Grenzen stößt. Die Karten konnte er sich nicht leisten, da er durch Scheidung und Insolvenz verschuldet war. Keine Bank würde ihm mehr Kredit gewähren. Deshalb plante er einen Raubüberfall, den er nie ausführen konnte. Knut trainierte wochenlang dafür. Abend für Abend. Solange bis er in einem Lüftungsschacht stecken blieb. Und aus lauter Panik einen schweren Herzanfall erlitt. Danach musste er sich unbedingt schonen. Eine schwere Phase in seinem Leben, denn er surfte weiterhin als Baunummer 401 im Internet auf Heddas Plattform herum. Bis er wieder körperlich fit war, um sich für die Kreuzfahrt Geld zu beschaffen, gab es keine Tickets für die historische Fahrt mit der Balmoral mehr. Sein schöner Traum platzte. Es brach ihm schier das Herz, als am 8. April 2012 die Balmoral anlässlich 100. Jahrestag des Untergangs der Titanic die Kreuzfahrt dann tatsächlich ohne Hedda und Knut begann. Über das Internet hatte er für Hedda das Schmuckset "Heart of the Ocean" bestellt. In der Nacht vom 14. zum 15. April hätte er auf der Balmoral um ihre Hand angehalten. Ganz romantisch. Genau in der Nähe des tragischen Schiffunglücks vor 100 Jahren, wo in knapp 4000 Metern Tiefe das Schiffswrack liegt. Das Schicksal wollte es anders und deshalb packte Knut an jenem Abend eine Schachtel mit diversen Utensilien für Hedda. Darunter waren auch das Schmuckset und ein Abschiedsbrief.
In jener Nacht weinte Hedda bitterlich. Da hatte sie wieder ihren schrecklichen Moment. Genau in dem Augenblick, als Knut in einem Meer von Absinth und Motorenöl in seiner randvollen Badewanne ertrank, sprang sie gedanklich ins eiskalte Wasser. Und suchte völlig verzweifelt Halt auf einer im Wasser treibenden Wandverkleidung. Wie jetzt. Sie sitzt auf einer Bank am See und erlebt dramatische Minuten in einer anderen Welt. Doch ausnahmsweise ist es völlig anders als sonst, wenn Ausnahmezustand herrscht und sie total bewegungsunfähig wird. Draußen am See kommt Untergangsstimmung auf. Ein schweres Gewitter tobt dort. Der schwarze Bär mit dem Knopf im Ohr, den sie so verkrampft in den Händen hält, ist der letze Wille von Knut. Rettung naht. Sie spürt es. Intensive Gefühle durchströmen ihren durchnässten Körper. Der Regen klebt auf ihrer Haut und ihr ist plötzlich eiskalt. Sie spürt wieder ihren eigenen Körper. Aus Rose wird wieder Hedda, die plötzlich bemerkt, dass sie so nicht mehr weiterleben möchte. Hedda steht völlig durchnässt von der Bank auf, will ein Stück zur Seite gehen. Zeitgleich trifft sie mit voller Wucht eine starke Windböe, die sie sofort zu Boden reißt. Hedda schlägt mit dem Kopf gegen einen großen Begrenzungsstein aus Granit. Blut spritzt. In einer Hand hält sie immer noch den geliebten Trauerbären. Es ist vorbei, denkt sie angstbebend und verliert das Bewusstsein.
Stunden später erwacht Hedda im Krankenhaus. Der schwarze Bär mit dem Knopf im Ohr sitzt frisch gefönt auf ihrer Bettkante. Ein Fremder lächelt sie liebevoll an. Es ist der Pächter der Pommesbude underwater world.
April/Oktober 2014, © Corina Wagner
Kommentare 11
Liebe Corina Wagner,
schön. Unheimlich gerne gelesen. Toll. finde ich auch, dass Du Dein klasse Wissen über Teyy-Bären, was ja Dein Hobby ist, in diese schöne Kurzgeschichte mit eingebracht hast.
Viele Grüße
poor on ruhr
Liebe Corina,
wie schön, dass Du nach langer Pause Deine Geschichten aus zwei Welten wieder aufnimmst!
Schön, dass Hedda wieder Hedda ist, und dass ihr "Knut"/Pächter ihr liebevoll zulächelt.
Da ich die "Hinterlist" in Deinen Geschichten zu erahnen meine, kann ich nur hoffen, dass beide Welten ungebrochen ihren Weg verfolgen.
LG aus Panamá, CE
Lieber Poor,
es freut mich sehr, dass Dir diese maritime Geschichte gefällt. Ich hatte sie schon im April verfasst. ;-) Wenn man wie ich jahrzehntelang so ein bäriges Hobby pflegt, muss man es auch mal für Geschichten nutzen können, so dachte ich mir beim Verfassen des Textes. :-)
Viele Grüße in den Pott!
Corina
Lieber CE,
die längere Pause war nötig, da ich andauernd unterwegs war und kaum Zeit fand, um auch noch auf den Freitag-Seiten aktiv unterwegs zu sein.
„Hinterlist“? – es war mir wichtig aufzuzeigen, dass manche Menschen Wesensveränderungen durchmachen, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellen. Nicht immer erfahren sie professionelle Hilfe, wenn diese aber nötig wäre. Gut, wenn es Leute gibt, die sie aus ihrer anderen Welt holen und ihr wieder eine neue Perspektive bieten. Das war mein Hintergedanke, also so ähnlich… :-)
Viele liebe Grüße nach Panamá
Corina
Liebe Corina,
so habe ich Dich auch verstanden. Mit "Hinterlist" meinte ich Deine Doppeldeutigkeit, die hinter den Texten steht und die zum Nachdenken zwingt. Mit den beiden Welten verbinde ich die "phanstastische" Welt neben der "realen". Beide haben ihre Bedeutung und beide sind für den jeweiligen Menschen "wirklich". Was Du sagst mit der professionellen Hilfe würde ich auch ausdehnen auf die freundschaftliche, solidarische Hilfe.
LG, CE
Lieber CE,
danke für Deinen Kommentar, Deine Formulierung, die es wohl auf den Punkt bringt. Eine gelungene Rezension! ;-)
Viele liebe Grüße in die Ferne
Corina
Hi,
als ich das mit den 82 Trauerbaeren las, dachte ich mir gleich, dass Du Expertin bist. Ich kenne noch eine Dame mit aehnlicher Leidenschaft, die mit mir mal in der Schule war und jetzt in Hamburg wohnt.
Die koennte aber Deine schoene story nicht schreiben.
GEmein fand ich nur, dass Deine traeumerische Heldin von einem Bratwurst-Buddikker gerettet wurde. Das kann sich doch keine Frau wuenschen! (wenn ich mir das mal so vorstelle). Besser ein schoener Tod als sowas. (Koenntest Du evtl. am happyend noch etwas aendern?)
Hi Aussie42,
ein bisschen gemein darf man schon sein. Das Leben bietet manchmal Überraschungen, die mal banal oder auch spektakulär sein können. Frauen lassen sich auch von einem "Bratwurst-Buddikker" retten. Davon bin ich fest überzeugt. :-)
Hm, also dieser Imbissbuden-Pächter könnte ja rein theoretisch zuvor ein ehemals hochbezahlter Investmentbanker gewesen sein, der während Finanzkrise die Krawatte an den Nagel hing und dafür die Küchenschürze umband. :-) Soweit ich mich erinnern kann, gab es so einen Fall in Frankfurt. Ein ehemaliger Investmentbanker machte in der Nähe des Messeturms bzw. den Zwillingshochhäusern Castor und Pollux seine „Worscht-Börse“ auf und verkaufte an seine ehemaligen Kollegen Bratwürste. ;-) Vielleicht war der Pächter von der Pommesbude underwater world zuvor Klinikchef, ein gutbezahlter Fußballprofi, von Beruf Professor für angewandte Politikforschung, die perfekte Führungskraft eines Firmenimperiums oder auch nur Fallmanager. Es gibt viele Aussteiger, die bestimmt freiwillig Würstchen grillen und Pommes frittieren. :-)
Viele liebe Grüße in die Ferne
Corina
Schoene neue Geschichte. Und nur fuer mich! Hast Du ernste Absichten?
:-)
Ob ich ernste Absichten habe? Literarisch betrachtet schon. :-)
:) Gut, dann warte ich mal ab...