Beim Discounter

CoLyrik-Kurzgeschichte November - Zeit für eine humorvolle Kurzgeschichte...

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Beim Discounter

Es ist Anfang November, ein Samstag. Das Leben pulsiert unaufhörlich in den Städten. Dichtes Gedränge und Geschiebe herrscht bereits kurz nach Ladenöffnung beim Discounter, so als gäbe es kein Morgen mehr. Ich versuche cool zu bleiben. Doch wenn ich sehe, wer hier um diese Uhrzeit bereits einkauft, möchte ich nicht sehr alt werden. Bis die gedanklich im Kopf angelegte Einkaufsliste abgehakt ist, stehe ich in der Schlange vor der Kasse. Ich muss mich zusammenreißen. Seit Wochen liegen schon Lebkuchen und Spekulatius in den Wühltischen im Kassenbereich. Ich habe noch nicht gefrühstückt, umso schlimmer für mich, denn ich bin ein Lebkuchen-Junkie. Einmal in so ein klebriges Ding von Schokoladen-Lebkuchen hineingebissen, dann setzt erfahrungsgemäß mein Gehirn aus und ich hänge an der Lebkuchenverpackung wie andere an der Nadel. Heute früh dauert es besonders lange, bevor ich meine Waren aufs Band legen kann. 4 Frauen und 8 Männer stehen vor mir an. Das Durchschnittsalter beträgt 65, 3 Jahre, so vermute ich. Rechnen war noch nie meine Stärke. Anhand der sichtbaren Falten und eventuellem Restalkohol im Blut wird es samstags um diese Uhrzeit immer schwierig das biologische Alter eines Menschen auszurechnen. Der Herr vor mir rauft sich zunächst die Haare, die wenigen zumindest, die noch seine Kopfhaut bedecken. Dann flucht er murmelnd unverständliches Zeug, liegt wohl daran, dass ihm Zähne im Mund fehlen, dreht sich um und verschwindet hinkend in Richtung Kühlregale. Ein Hauch von Fäulnis umweht meine Nase. Ich muss ihm hinterher sehen, denn in seinem Einkaufswagen vor mir sitzt in einer Transportbox ein zitternder Rehpinscher, der nun die Zähne fletscht. Im Gegensatz zu seinem Herrchen hat er noch alle Beißerchen und wirkt vital. Kaum denke ich „Blöde Töle“- bellt er mich an. Dann klettert das Hündchen mit allen Vieren aus der Box und landet etwas unsanft auf drei Paketen TK-Pizzen, die auf den Einkäufen obenauf liegen. Jetzt bellt er extrem gefährlich, so als hätte er mich zum Fressen gern. Viel Wind um nichts, saust es durch meinen Kopf. Ich habe ein bisschen Mitleid mit dem Hund, sage mit gefühlvoller Stimme: „Herrchen kommt gleich!“. Die Frau hinter mir rastet völlig aus. Sie hat eine spontane Rehpinscher-Phobie, mutmaße ich. Sie schreit mir ganz laut ins Ohr: „Zweite Kasse öffnen! Sofort!“ Dann ein bisschen hysterisch, fast schon panikartig brüllt sie: „Ich muss hier dringend raus! Schafft das scheiß Vieh hier weg!“ Jetzt wird die Geräuschkulisse im Discounter lauter. Der Hund bellt unerträglich, kläfft bis zum Erbrechen. Jeder der Kunden hat dazu irgendwie eine Meinung. Ich verdrehe die Augen und hoffe, dass der Besitzer des Rehpinschers so schnell wie möglich wieder kommt. Ich sehe Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sich eine Minute später mit drei Liter H-Milch auf dem Arm an mir vorbeizwängt, um an seinen Einkaufswagen zu kommen. Keine Ahnung, was er murmelnd zu mir und seinem Hund sagt, aber er scheint Rehpinscher-Flüsterer zu sein. Sein Hund sitzt sofort wieder in der Transportbox und fünf Dosen Katzenfutter, drei Pakete TK-Pizzen, eine angefressene Salami und drei Liter H-Milch liegen wenige Minuten später ein bisschen angekotzt auf dem Band. Ich starre den Herrn nur ein wenig angewidert an. Die Frau hinter mir hat sich auch wieder beruhigt. Sie ist einen momentlang total sprachlos, schüttelt in Zeitlupe den Kopf, dann atmet sie hörbar tief ein und aus. Während dieser Phase des Wartens an der Kasse wirkt sie sogar kurzzeitig völlig tiefenentspannt. Ich habe mich extra unter einem Vorwand umgedreht, um sie zu beobachten. Ich lenke sie ab und frage, ob sie mir eine Schachtel Lebkuchen reichen könne. Sie ist so nett, denn der Wühltisch mit dem Lebkuchen ist genau neben ihr platziert. Sie reicht mir die Lebkuchen. Ich lächle sie an, denn zeitgleich wird mein Körper mit Serotonin versorgt. Ich genieße nur wenige Sekunden diesen Zustand, denke mit Vorfreude an den Biss in einen Schokoladen-Lebkuchen gleich nach dem Einkauf auf dem Parkplatz. Das plötzliche Geschrei hinter mir und das Kläffen des Rehpinschers holen mich in die blanke Realität zurück. Erneut rastet die nette Frau hinter mir aus. Nur, weil der Rehpinscher-Flüsterer zur Kassiererin sagt, eher gestikuliert und nuschelt, dass er heute früh nicht nur sein Gebiss, sondern auch seinen Geldbeutel zu Hause liegen gelassen hätte…

Genau so könnte es gewesen sein, wenn ich heute früh rechtzeitig meinen Hintern aus dem Bett bekommen hätte, schreibt Otto als Kommentar gegen Abend in sein Tagebuch. Seit fünf Jahren schreibt er Tag für Tag Geschichten, die später einmal seine erwachsenen Kinder lesen sollen. Lebenslänglich hat er für den heimtückischen Mord an seiner Frau bekommen, die für ihn eine Bestie war. Eine Furie.

© Corina Wagner, November 2017

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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

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