Das Haus am Wegesrand

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Das Haus am Wegesrand

Erst wenn ein Mensch stirbt, erkennt man oftmals, dass diese Person außergewöhnlich war. “ Dieser prägnante Satz des Bestatters Nothelfer schwirrte wie ein kleines hyperaktives Totenkopfäffchen durch Mariannes Kopf und sie starrte währenddessen bewegungslos nach draußen.

Eine dreiviertel Stunde zuvor schob sie den schweren Ohrensessel von Oma Helga genau vor die geöffnete Terrassentür. Den langen, schweren Vorhang raffte sie vorher zur Seite, so dass sie in den Garten sehen konnte. Die japanische Schirmtanne war inzwischen zu einem stattlichen Baum herangewachsen. Wow. Das letzte Mal als sie zu Besuch war, schenkte ihr Takumi das kleine Bäumchen zum Geburtstag. Sie verstand es bis heute nicht, warum man die große Fensterfront im Wohnzimmer mit blickdichten Gardinen ausstaffierte. Das Haus lag direkt am Ende des Orts, am Wegesrand zum Wald hin. 2500 qm Grund säumten sich um das Haus. Der üppig bepflanzte Vorgarten versperrte die Sicht auf die Fenster. Inzwischen war die Lebensbaum-Hecke in die Jahre gekommen und dementsprechend hoch, da sie nicht zurückgeschnitten wurde. Keine Nachbarn, aber auch keine Fremden konnten neugierige Blicke Richtung Haus werfen. Keine Chance. Wer etwas sehen wollte, musste klingeln und hoffen, dass er durch das hohe Hoftor den Weg ins Innere fand. War diese erste Hürde genommen, erblickte man eine tonnenschwere Skulptur im Vorgarten, die einen großen Schatten ins Esszimmer warf. Die Skulptur gehörte dem Vorbesitzer des Hauses, der sie einst nach seinen eigenen Entwürfen anfertigen ließ. Oma Helga liebte die Skulptur abgöttisch und sagte immer, dass sie etwas ganz Besonderes sei. Dieses beeindruckende Kunstwerk hätte wie sie, aber auch das Jugendstilhaus, den Zweiten Weltkrieg fast ohne Blessuren überlebt. Ein ca. 3,50 Meter hoher Orang-Utan aus verwitterter Bronze wachte vor dem Haus und sein Kopf reichte bis zu ihrem Schlafzimmerfenster. Über jenes monströse, alte Kunstwerk konnte man wahrlich debattieren, aber eher über die grässlichen Vorhänge. Alle Fenster im Haus sahen so aus. Grässlich hässlich. Gardinen, die den Blick ins Innere, aber auch nach außen verwehrten. Lauter viel zu große, erdrückende Blumenmotive gab es vor den Fenstern, die Enkelin Marianne nun in eine niederschmetternde Stimmung versetzten. Es war schon schlimm genug, dass ihre Großmutter auf dramatische Weise starb, aber ihr Einrichtungsgeschmack zu Lebzeiten war für manche noch schlimmer, so empfand sie weinend in ihrer Trauer. Den Raumausstatter, der damals das ganze Haus mit Gardinen bestückte, hätte man in die Insolvenz treiben sollen. Dies dachte Marianne spontan ziemlich giftig gestimmt. Warum ließ er den Kundenwunsch von Oma Helga zu? Oder hatte er diese Vorhänge alleine vorgeschlagen? Egal. Schaden konnte er keinen mehr anrichten. Man hatte ihn kürzlich erst totgefahren. Es war ein 40-Tonner. Ein Gefahrguttransporter, dessen Fahrer nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, als er den Raumausstatter sah, erzählte ihre Oma aufgeregt. „Vielleicht hatte der LKW-Fahrer bei ihm auch Gardinen gekauft“, hatte Marianne noch zu ihrer Großmutter gesagt und lachte am anderen Ende der Leitung. Jetzt weinte sie deswegen, weil sie vor einigen Tagen so pietätlos sprach.

Marianne wischte sich die Tränen mit ihrem Ärmel des Pullovers aus dem Gesicht. Eine Gardine mit Blumenmotiv hätte Marianne auf Dauer in einem Zimmer ertragen können, aber in allen sechzehn Zimmern im Unter-und Obergeschoss? Sogar vor den acht Kellerfenstern hingen geblümte Vorhänge: vier Kellerfenster mit Gladiolen-, zwei mit Vergissmeinnicht- und zwei mit Distelmotiven.

Nur gut, dass sie nicht die ganze Zeit im Haus wohnen musste. Zu den blumigen Vorhängen passte ihrer Meinung nach auch überhaupt nicht die Skulptur im Vorgarten. Ihre Großmutter argumentierte zu Lebezeiten damit, dass man sowieso nicht nach drinnen schauen könnte. Mit ihrer Großmutter hatte sie deswegen eine heftige Auseinandersetzung, die sie nun ein wenig bereute. Erneut liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie durfte überhaupt nicht ans Esszimmer denken, da wurde sie total sentimental. Im Esszimmer hingen Gardinen mit Enzianblüten. Keine kleinen Enzianblüten, große, viel zu große abgedruckte Blüten durchfluteten mit intensiv leuchtenden Blautönen den Raum. Dunkle Möbel im Kolonialstil wirkten dazu wie das Ableben in einer Gruft. Die Wände wirkten in moosgrün gestrichener Farbe wie die Aufforderung zum Gehen. Hier wurde bis zu Oma Helgas Tod jeden Tag gespeist. Furchtbar, dachte sie. Das Bügelzimmer mit der Klatschmohngardine gefiel Marianne noch am besten, da musste sie sogar grinsen. Sie hütete seit vielen Jahren ein Geheimnis. In diesem Zimmer hatte sie das erste Mal mit Takumi heimlich gekifft und nicht nur das. Oma Helga war damals zu einem Vortrag über das Anlegen von Seerosenteichen außer Haus. Ihre Mutter arbeitete. Keiner wusste von dieser Affäre. Takumi entjungferte sie damals währenddessen sie beide mit Hilfe des Joints eine kleine Auszeit vom Alltag nahmen. Sie war einige Tage zuvor vierzehn Jahre alt geworden. Er war zu diesem Zeitpunkt fast dreißig und viel zu jung für ihre Mutter. Es war irgendwie seltsam, beängstigend und zugleich wunderschön im Rausch, als er sie nahm. Bislang verdrängte Marianne diesen Tag. Jetzt weinte sie plötzlich hemmungslos. Sie machte ihm keine Vorwürfe, dass er sie während des Kiffens ziemlich intensiv verführte. Sie war damals in seine Schlitzaugen verknallt und wollte unbedingt wie ihre Mutter einen Joint rauchen und wie sie mit ihm Sex haben. Takumi war inzwischen längst tot. Flugzeugabsturz. Schrecklich. Alles kam jetzt wieder von einer Minute auf die andere in ihr hoch. Sie schluchzte. Ab diesem Tag veränderte sich das Leben ihrer Mutter ziemlich abrupt.

Marianne versuchte sich abzulenken, saß aber immer noch im Ohrensessel und sah kurz an die Stuckdecke. Dann schloss sie für wenige Minuten die Augen, sammelte sich, weinte nicht mehr und versuchte sich zu erinnern, wie es im Raum, im Wohnzimmer aussah. Die Wohnzimmermöbel wirkten abgenutzt, aber dass durften sie auch. Es waren Antiquitäten aus der Gründerzeit. Die Wohnzimmergardine mit überdimensionalen pinkfarbenen und roten Hyazinthen hasste Marianne extrem. Überall Hyazinthen auf sieben Metern Fensterfläche und dies bodenlang bei einer Raumhöhe von 3,50 m. Hatte ihre Großmutter den einen oder anderen Spleen? Bestimmt, so musste sie sich eingestehen. Jetzt starrte sie wieder in Richtung Garten. Wollte Oma Helga nicht beobachtet werden? Hatte sie Angst? Vor wem? Heinrich war längst tot. Takumi auch und Adolf sowieso. Eine Alarmanlage gab es auch, aber auch eine Sprechanlage. Nicht jede Person wurde aufs Gelände gelassen. Oma Helga hatte einen Hochsicherheitstrakt geschaffen. Alle Fenster und Türen hatten Schlösser. Wenn man ein Fenster öffnen wollte, so musste man zuvor den passenden Schlüssel ins Schloss stecken, um dann die Verriegelung zu öffnen. Erst dann konnte man das Fenster öffnen und lüften. Ihre Großmutter hatte den neuesten sicherheitstechnischen Schnickschnack ins Haus einbauen lassen. Alles vom Feinsten. Marianne fühlte sich nicht wohl, irgendwie eingesperrt. Es roch ein wenig streng in diesem großen Jugendstilhaus. Das war nicht immer so. Marianne erinnerte sich daran, dass es früher viel frischer roch, sauber und clean. Die Stuckdecken im Haus hatte sie auch in besserer Erinnerung. Es roch zumindest im Wohnzimmer wenigstens nicht nach Hyazinthen, denn das hätte sie Oma Helga zugetraut. Dass sie Hyazinthenduft passend zu den Gardinen versprüht. Dieser strenge Geruch, den sie im Wohnzimmer wahrnahm, setzte ihr ein bisschen zu. Jetzt konnte man Katzenpippi, einen Hauch „Shalimar“ von Guerlain und Lavendelduftsäckchen riechen. Es roch im Wohnzimmer wenigstens nicht nach Hyazinthen. Ob es ein Vorteil war? Ja! Für Marianne definitiv. Bei Hyazinthenduft wäre sie in Ohnmacht gefallen. Oma Helga hatte bis vor kurzem einen Kater und zwei Katzen. Sherlock Holmes, Mata Hari und Miss Marple. Letztere Katze war inkontinent, aber Oma war es auch. Sie trug Einlagen für Blasenschwäche, bis zum Schluss. Manchmal vergas sie, dass sie die Einlagen wechseln muss. Das Alter- ist so. Marianne durfte nicht darüber nachdenken, da wurde es ihr ganz blümerant.

Außerdem fing sie dann wieder zu weinen an. Seit gestern waren die drei Haustiere wegen ihr im Tierheim. Oma Helga war seit vorgestern tot. Sie starb in der Badewanne. Fast splitterfasernackt und kopfüber lag sie drinnen, unter Wasser. Sie trug nur noch Stützstrümpfe, sonst nichts mehr. Kein schöner Anblick, so fand sie ihre Mutter. Rein zufällig, weil sie ausnahmsweise wieder nüchtern war und überraschend zu Besuch kam. Sie hatte Haustürschlüssel samt Sicherheitscode für die Anlage. Mariannes Mutter war krank, alkoholkrank und verbrachte ihren Alltag in verschiedenen Wahrnehmungsstufen. Manchmal schaffte sie es, dass sie einige Stunden nüchtern war. Jetzt nicht. Sie schlief gerade ihren Rausch im Gästezimmer aus. Marianne hätte auch im betrunkenen Zustand kein Auge im Gästezimmer zugemacht. Es war das Chrysanthemen-Zimmer. Überall gelbe Chrysanthemen. Auf den Gardinen sah man als Motiv riesengroße Chrysanthemen, aber auch als Bettüberwurf und als Kissen auf dem Zweisitzer-Sofa. Sogar ein Bild mit gelben Chrysanthemen als Blumenstrauß gebunden, hing über dem Bett. Fürchterlich. Für Marianne war das Gästezimmer das sogenannte Friedhofszimmer. Sie schlief lieber im Bügelzimmer, als in diesem Raum. Bestatter Nothelfer meinte noch, dass es schöner gewesen wäre, wenn Oma Helga in diesem hübschen Zimmer gestorben sei. Das sagte auch der sympathische Polizist zu ihr. Mit dem Marianne zu gern mal ein Bier trinken würde, um mit ihm in Ruhe über ihre Mutter zu sprechen.

Auf dem Gartentisch standen 21 leere Weinflaschen. Auf den Steinfliesen lagen mindestens nochmals 10 Flaschen. Ihre Mutter hatte angeblich unter Schock den Weinkeller geplündert. Jetzt saß Marianne bereits einen kleine Ewigkeit wie angewurzelt in diesem versifften, mit Katzenhaaren übersäten Ohrensessel und starrte wie gelähmt nach draußen auf den Gartentisch. Sie durfte über vieles nicht nachdenken, das hatte sie vor geraumer Zeit für sich ganz alleine beschlossen. Im Laufe der vergangenen Jahre reifte Marianne zur Verdrängungskünstlerin heran. Alles was irgendwie unangenehm oder sogar peinlich war, verdrängte sie. Spätestens an dem Tag, als Oma Helga ihr Herz bei ihrer Enkelin ausschütte und ihr erzählte, was sie damals Grausames als Kind und als junge Erwachsene erlebte. Da griff sie anschließend das erste Mal zur Flasche, obwohl sie nie so enden wollte wie ihre Mutter. Sie schoss sich für mehrere Stunden mit einer halben Flasche Wodka weg. Oma Helga hoffte insgeheim, dass ihre Enkelin dafür sorgt, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Neulich las Marianne im Internet, dass Deutschland 1945 durch das Nazi-Reich in einem riesigen Meer aus Blut und Tränen versank. Tränen und Blut, dies spürte wohl auch ihre Oma Helga, als sie mit acht Jahren im Januar 45 das erste Mal vergewaltigt wurde. Jahrzehntelang schwieg sie, schämte sie sich doch für ihren Onkel Heinrich, der überzeugter Nazi, Gestapo-Mann war und gegen Kriegsende untertauchte. Als am 8. Mai die Waffen endlich überall schwiegen, heulte sie, weil ihre Mutter ihr an jenem Tag eine brutale Backpfeife gab. Später wusste Helga als erwachsene Frau, dass damals bis Kriegsende mehr als 60 Millionen Menschen tot waren. Menschen, die in Konzentrationslagern ermordet wurden, in Bombennächten verbrannten, an der Front fielen, an Hunger starben oder bei der Flucht durch Kälte und Gewalt ums Leben kamen. Als Helgas Mutter, Mariannes Urgroßmutter, an jenem Maitag erzählte, dass der Krieg nun endlich aus sei und ihnen nichts passieren würde, da Papa schon im Himmel sei, da weinte sie als Achtjährige hemmungslos. Onkel Heinrich, der Bruder ihres Vaters, war ein sehr böser Mann und ihre Mutter vergötterte ihn. So erzählte sie, dass Onkel Heinrich für sie vorgesorgt habe. Er würde jetzt ein Weilchen untertauchen, aber wenn sich die Lage wieder beruhigt habe, dann würde er sich um sie alle kümmern und dabei streichelte sie ihren Bauch. Sie war schwanger und bekam ein Kind von diesem Scheusal. Da machte sich ihre Tochter Helga vor Schreck in die Hose. Urin lief an ihren Beinen hinunter. Da musste sie noch mehr weinen und ihre Mutter schlug ihr mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Der 8. Mai 1945 prägte sich ganz stark in Oma Helgas Gedächtnis ein. Sie hatte große Angst vor Heinrich, dem Bruder ihres gefallenen Vaters, aber auch vor ihrer eigenen Mutter. Sie war Heinrich hörig. Sie traute sich nicht, ihrer Mutter zu sagen, dass Heinrich sie in den Keller gelockt hatte, um ihr den hübschen Teddybären zu zeigen, den er angeblich vom Führer für sie geschenkt bekam. Als sie im Keller waren, hörte sie niemand, als er ihr den Teddybären in den Arm drückte, um sie dann anschließend brutal zu missbrauchen. Sie hatte unendlich große Schmerzen, blutete im Genitalbereich, als er sie weinend mit dem Teddybären im dunklen Keller zurückließ. „ Weine nicht Kleines. Mutti hilft dir sowieso nicht. “, sagte er noch und lachte anschließend schallend, bevor er die Treppen nach oben ging.

Jetzt gab es kein Halten mehr. Marianne schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so hysterisch und extrem laut geschrien. Ihre eigene Mutter war Heinrichs Tochter, denn der Schlächter tauchte 1948 wieder auf, als ehrbarer Bürger mit falscher Identität.

Er missbrauchte Oma Helga bis zu ihrem 21. Lebensjahr. Zwei Kinder trieb Helga mit Hilfe ihrer Mutter während dieses Martyriums selber ab. Dann wurde sie mit ihrer Mutter schwanger und flüchtete. Auf der Flucht lernte sie den Vorbesitzer dieses Hauses kennen, der sich rührend um Oma Helga kümmerte…

© Corina Wagner, November 2016

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Corina Wagner

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