Der Arztbesuch

CoLyrik Irmtraut hat Zahnschmerzen, ist Pollenallergikerin, dezent taub und viel zu klein. Solche Voraussetzungen führen manchmal zu Missverständnissen... :-)

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Arztbesuch

Es war ein herrlicher Pollenflug- Tag. Die Sonne schien bereits übertrieben warm an jenem Vormittag. Ein leichter Wind fegte die Gräser- und Birkenpollen von einem zum anderen Ende der Stadt, so dass Oma Irmtraut Kraut eigentlich keine Lust mehr hatte, den Zahnarzttermin wahrzunehmen. Ihr alltäglicher Pillenkonsum war enorm, aber gegen ihre Zahnschmerzen, die sie bereits schlafraubend einige Tage quälten, war kein homöopathisches Mittelchen mehr gewachsen. Auch das Kauen von Nelken und der Genuss von Papavers selbstgebrannten Mohnblumen-Schnaps half nichts mehr. Sie musste zum Zahnarzt. Nichts nutzte, auch nicht die volle Dröhnung von Melissengeist. Ihre junge Putzfrau Nathalie –Jolie hatte ihr gestern davon abgeraten, aber da hatte sie bereits die halbe Flasche auf Ex getrunken. Jetzt hatte sie Migräne. Trotz zunehmenden Macken und Hindernissen im Alter war sie mit ihren 85 Jahren stets zuversichtlich, lag wohl auch daran, dass sie noch geistig fit war. Der Tag begann eigentlich schon total Scheiße, hätte Enkel Kewin gesagt, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre. Ihr alter Freund Justus stand gegen viertel nach Acht vor ihrer Haustür. Er wohnte direkt neben ihr und strahlte sie eigentlich wie jeden morgen an. Es gab allerdings einen sichtbaren kleinen Unterschied. Irmtraut hatte zwar starke Zahnschmerzen, musste aber dreist grinsen, als sie ihn musterte. Justus vergaß mal wieder mehr als nur eine Hose anzuziehen, so stand er nun mit Hemd und Krawatte vor ihr, hatte aber weder Unterhose noch Anzugshose an. Da baumelte etwas zwischen seinen Beinen, das vor fünfzig Jahren auch ansehnlicher aussah, dachte Irmtraut und sagte dann: <<Justus willst Du mir etwa in diesem Outfit die Stützstrümpfe anziehen? >>Er starrte sie launisch an, sah brustabwärts an sich herunter. Danach quiekte er wie ein kleines Ferkel und verschwand wieder in der Nachbarwohnung. Zehn Minuten später klingelte es wieder an der Tür und das morgendliche Ritual begann. Justus zog seiner alten Jugendliebe zunächst die Stützstrümpfe an, grabschte gutgelaunt an ihr herum. Danach frühstückten sie gemeinsam. Je nachdem wie fit beide waren, gestalteten sie danach gemeinsam den Tag. Manchmal blieben beide auch den halben Tag in ihrem Bett liegen, dass durfte aber keiner wissen. Justus brachte sie heute aber nur bis zur Straßenbahn-Haltestelle. Irmtraut wollte alleine zum Zahnarzt. Nathalie-Jolie sollte sie eventuell nach der Behandlung abholen. Sie hatte für den Fall der Fälle ihre Handy-Nummer. Justus hatte inzwischen oftmals Schwierigkeiten, wenn er sein Handy bedienen sollte. Irmtraut hoffte, dass er nicht wieder stundenlang durch die Stadt irrte und die Zeit vergaß. Im Gegensatz zu ihr tränten ihm zwar wegen des massiven Pollenflugs nicht die Augen, aber dafür blitze unter seiner beigefarbenen Anzugshose eine grüne und eine hellblaue Socke hervor. Da trug Irmtraut lieber eine dunkle Sonnenbrille über ihre gelaserten Augen und verdrängte das Altwerden. Sie stieg in die Bahn, winkte Justus, der ihr noch eine Kusshand zuwarf. Sie liebten sich, obwohl das erst seit dem Tod ihres vierten Ehemanns wieder möglich war.

Die Fahrt dauerte nur acht Minuten. Währenddessen beobachtete sie grässliche Fahrgäste, Menschen ohne Manieren. Total gedankenversunken kam sie vor dem Ärztehaus an. Die Zahnschmerzen hatte sie schon beinahe wieder verdrängt, hätte sie nicht urplötzlich einen stechenden, bohrenden Schmerz gespürt. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht sah wohl ein junger Mann, der ihr die Eingangstür aufhielt und sie mitleidig anlächelte. Irmtraut bedankte sich brav und lief danach in Richtung Fahrstuhl. Mehrere Leute standen wortkarg vor dem Fahrstuhl als dieser anhielt. Irmtraud war nur 154 cm groß und verlor im Fahrstuhl tatsächlich den Überblick. Zwei große Menschen standen genau vor ihr und versperrten den Blick auf die Etagen-Anzeige. Irmtraud sprach spontan die große überbreite Frau an, die direkt vor ihr stand: <<Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss in den dritten Stock. Ich kann nichts sehen. >>Die überdimensionale Frau drehte sich nicht um und nuschelte vor sich hin. Irmtraud verstand nur so viel, dass diese Riesin dort auch austeigen müsse. Irmtraud hörte altersgerecht und trug deshalb zwei Hörgeräte. Die Batterien hatte sie erst abends zuvor gewechselt und nahm an, dass sie die nuschelnde Frau deswegen gut genug verstand. Nach dem der Fahrstuhl wieder hielt, stieg die Frau vor ihr aus. Wie selbstverständlich lief Irmtraut hinter ihr her. Diese überbreite große Frau öffnete die Praxistür und Irmtraut betrat anschließend auch die Arztpraxis. An der Rezeption stehend, fiel ihr auf, dass ihr Zahnarzt eine neue Sprechstundenhilfe eingestellt hatte, die sie sehr freundlich und höflich begrüßte. Irmtraut gab ihr das Versichertenkärtchen und Lisa, die Neue sagte zu ihr, dass sie aber noch warten müsse, bis sie an die Reihe käme. Irmtraut hatte inzwischen ganz starke Zahnschmerzen und nun Angst, dass Dr. Reißwolf ihr den Zahn ziehen würde. Sie ging ins Wartezimmer. Die überbreite Riesin und ein kleiner verschnupfter Junge mit seiner genervten Mutter saßen im Wartebereich. Irmtraut setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf die weißgetünchte Wand. Einen Moment lang dachte sie, dass Dr. Reißwolf in den vergangenen drei Monaten seine Praxis neu gestrichen hatte. Im Eingangsbereich fiel ihr die neu gestylte Rezeption in Erdbeertönen auf. Hier im Wartebereich entdeckte sie plötzlich eine Tür, die ihr zuvor noch nie aufgefallen war. Da dort seit einigen Jahren ein Schrank aus der Gründerzeit stand. Er wurde durch ein weißes zeitgemäßes Regal eingetauscht, das jetzt viel weniger Platz benötigte. Neue Bilder hatte ihr Zahnarzt auch aufhängen lassen. Poster, Abzüge moderner Kunst. Nicht jedermanns Geschmack. Seit 15 Jahren war sie seine Patientin. Justus würden die neuen Bilder bestimmt nicht gefallen. Er hatte ihr damals den Zahnarzt wärmstens empfohlen. Neulich war Justus erst zur professionellen Zahnreinigung und hatte ihr kein Sterbens Wörtchen von der Renovierung der Arztpraxis erzählt. Er hatte es bestimmt wieder vergessen. Sie schloss die Augen und unterdrückte den Schmerz. Irmtraut machte sich große Sorgen wegen ihrer Rente und einem Implantat, das eventuell gesetzt werden müsste, denn der wackelnde, entzündete Zahn war ein Eckzahn. Man hätte die Zahnlücke gesehen, wenn sie lächelte. Plötzlich hörte sie Stimmen. Sie öffnete die Augen. Die Tür vom Wartezimmer stand auf. Sie sah einen Arzt über den Gang huschen. Es war nicht Dr. Reißwolf.

<<War heute etwa ein Vertretungsarzt in der Praxis?>>, schoss es Irmtraut durch den Kopf. Und bevor sie wieder ihre Augen schloss, um noch ein bisschen zu dösen, wurde sie schon über eine Sprechanlage in Behandlungszimmer 3 gebeten. Irmtraut ging in das Zimmer, setzte sich auf den Behandlungsstuhl, aber weder Lisa, noch Gülcan oder Melanie legten ihr ein Lätzchen um. Da wunderte sich Irmtraut schon sehr. Sie dachte sofort an Sparmaßnahmen. Das Behandlungszimmer 3 wurde auch renoviert, stellte sie nun fest. Vor drei Monaten hing dort noch ein Bild der Sphinx. Jetzt sah sie dort einen putzigen Nasenbär beim Fressen. Da musste sie grinsen, schloss aber wieder die Augen um noch ein Weilchen zu entspannen, bevor der Vertretungsarzt von Dr. Reißwolf erschien. Im Hintergrund lief heute überhaupt keine klassische Musik. Schade, dachte sie, als der Arzt den Behandlungsraum betrat. Er begrüßte sie sehr laut und sagte dann: << So, Frau Kraut, dann machen wir zunächst mal einen Hörtest und dann sehen wir weiter!“ <<Wie bitte!>>, sagte Irmtraut Kraut ganz entsetzt zu dem Vertretungsarzt Dr. Muschel: „ Ich habe Zahnschmerzen!>>

<<Junge Frau, da sind sie bei mir völlig falsch. Dr. Reißwolf arbeitet auf Ebene drei. Sie sind auf Ebene zwei. Wenn sie wollen, können Sie aber trotzdem bei mir jetzt einen Hörtest machen.>> Dr. Muschel konnte sich ein kindisches Kichern nicht verkneifen, obwohl er bestimmt schon Ende Vierzig war. Es lag wohl auch am völlig entgeisterten Gesichtsausdruck, den sie ihm bot.

<<Mein Zahnarzt wartet auf mich! Ich habe dort einen Notfall-Termin. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.>>, sagte Frau Kraut ganz kleinlaut mit hochrotem Kopf und verließ, so schnell es in ihrem Altern noch möglich war, die Arztpraxis. Sie stieg in den leeren Fahrstuhl und drückte nun Ebene drei. Fünf Minuten später stand sie an der Rezeption von Dr. Reißwolf. Sie entschuldigte sich bei Gülcan für das halbstündige Zuspätkommen und erzählte ihr, warum, wieso und weshalb. Gülcan lachte laut, bat sie dann noch ein Weilchen in Behandlungszimmer drei zu warten, da Dr. Reißwolf gerade einem Patienten einen Zahn ziehe. Zehn Minuten später kam Dr. Reißwolf zur Tür herein und sagte mit ernstem Blick: <<Frau Kraut, Sie haben mich heute wohl vergessen? Naja! In ihrem Alter ist das ja durchaus möglich.>> Irmtraut wäre am liebsten im Erdboden versunken, blieb aber tapfer auf dem Zahnarztstuhl sitzen. <<Wenn ich Ihnen nun mein Zuspätkommen erkläre, werden Sie vermutlich den Kopf schütteln. Vielleicht auch wie Gülcan laut lachen, aber eines will ich Ihnen vorab schon sagen: Ich bin noch nicht wie ihr Vater Justus dement! >>

© Corina Wagner 29. Mai 2014

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Geschrieben von

Corina Wagner

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