Die Kugel

CoLyrik Könnte man heute in die Zukunft blicken, was würde man sehen? Eine schwierige Frage, die man nicht unbedingt beantwortet haben will oder etwa doch?

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Rührselige Geschichte aus der Abrissküche

Germania Wahrheit saß im Hobbykeller ihres verstorbenen Gatten und suchte nach der uralten Wahrsager-Kugel, die ihr Mann jahrzehntelang vor ihr versteckte. Die Kugel gehörte einst ihrer Mutter, die sich das Leben nahm, als sie zuvor mit 2, 5 Promille Alkohol im Blut in die Zukunft blicken wollte. Ihr Absturz vom Vorratsschrank im Kellergewölbe wurde mit einem lapidaren Unglücksfall dokumentiert. Es müssen dramatische Minuten gewesen sein, bevor sie starb. Ihr Gesichtsausdruck war beeindruckend gruselig. Germania war stocknüchtern als sie die eingestaubte Glaskugel hinter dem Weihnachtsbaumständer entdeckte. Sie hob die Kugel ganz behutsam hoch, stellte sie auf die Werkbank. Neben dem mit Spinnenweben behafteten Weinregal stand ein ehemals weißer Küchenhocker aus Großmutters Zeiten. Germania nahm ihn mit Schwung in die Hand und trug ihn vor die Werkbank. Sie schnaufte tief durch, bevor sie sich setzte und dann auf die Glaskugel starrte. Ein Rascheln unterbrach zunächst ihre Anspannung und eine kleine Maus lugte aus dem Zeitungsstapel. Germania Wahrheit ließ sich nur kurz aus der Ruhe bringen und starrte dann wieder mit extremer Aufmerksamkeit auf die Kugel. Zunächst sah sie nichts, außer ihrer spitzen Nase, die immer sehr neugierig war. Ein markantes Zeichen in jeder Hinsicht, so hätte ihr Gatte geantwortet. Plötzlich wurde ihr ganz sonderbar, dann wurde ihr kurz schwarz vor Augen und als sie endlich wieder deutlich sehen konnte, traute sie nicht wirklich ihren Augen. Die Kugel wirkte nun wie ein Monitor und zunächst erkannte sie ihre Mutter, die das Wort zum Sonntag sprach. Sie starrte auf die Kugel, als käme sie von einem anderen Stern. Nebelschwaden zogen spontan durch den Hobbykeller und dies in einem atemraubenden Tempo. Dann sah sich Germania Wahrheit total mysteriös in einem Kellerloch sitzend. Sie zuckte kurz zusammen, als Kater Adenauer um die Beine schlich und stieß zeitgleich einen kleinen Seufzer aus. Zeitgleich? Das große Grübeln begann.

Es war wieder so ein unvorstellbarer Tag im Jahre 2025. Angehörige von ehemaligen EU-Politikern bzw. Bankern legten eine Schweigeminute ein und simulierten ein Fremdschämen. Dies war nicht immer so, als gut gelaunte Dauergrinser überall ihre eiskalten Finger in überirdischen Unterlagen wärmten und Verwandte noch die Welt verstanden. Weit vor dem Rettungschirm-Desaster. Die Kopie des Friedensnobelpreises hing damals noch an der trendigen Eurotapete in so manchem vornehmen Arbeitszimmer. Damals ist lange her. Die Jahre vergingen wie auch das Augenzwinkern von diversen Köpfen mit Schlitzohren und das Lächeln von Freunden. Jetzt hauste man in einem Brennpunktviertel mit anderen Kumpanen aus der Zeit als der Euro noch unnatürlich glänzte, als hätte ihn Aliens extra poliert. „Jemanden die Fresse polieren…“ Jenen Ausdruck hatten viele von damals am eignen Leib erfahren müssen, als der gewöhnliche Mob über sie herfiel. Eine zu erwartende Entwicklung. Jetzt war alles erschreckend anders und damit hatten die Schönredner insgeheim nie gerechnet. Rechnen war nie ihre Stärke, aber dummes Geschwätz gut zu verpacken, dies war eine Begabung, die aber niemanden wirklich im vereinten Europa nutzte. Sie, diejenigen von damals, fanden nach der großen Krise in einem heruntergekommenen Hochhaus Platz. Im Hausflur warteten nicht nur mutierte Ratten auf die einstigen Schönredner. Dies machte den Tagesablauf nicht einfacher, aber der prophezeite Sozialabstieg kam ja nicht von einem auf den anderen Tag. Keiner wollte mehr mit dem Typen Kontakt halten. Man fürchtete sich vor jenem Anblick einer Reinkarnation der bösartigen Inflation auf zwei Beinen. Wer hätte je im vereinigten Europa gedacht, dass diese Gestalten des Untergangs so ein immenses Desaster auslösen würden. Irrsinnige Armut überall, soweit das menschliche Auge sah. Und die Aliens? Diejenigen, die es geschafft hatten auf dem Mars gut zu leben, die waren tabu. Ein Blick in die Gemeinschaftsküche des Abrisshauses erzählte mehr, als man in Worte hätte fassen können.

Nachdem der abgegriffene Pürierstab in den wasserharten Kartoffeln völlig die Fassung verlor und man ihm plötzlich ansah, dass er vom Recyclinghof abstammte, ahnte noch niemand, was sich der Schaumschläger einige Minuten später dabei dachte, als er mit ansah, wie die abgelaufene Butter völlig dahin schmolz, als wäre sie für solche Anlässe konzipiert worden. Von wegen politisch gewollter Butterberg und arme Leuteessen! In der Abrissküche war immer etwas los, wenn die kreativen Fleischmaden mal wieder hemmungslos Wiener Walzer tanzten, weil das Fritteusen-Schnitzel vom Hinterhof einer Bäckerei aus dem amerikanischen Sektor stammte. Der altersschwache Schaumschläger bog sich in der zähen Kartoffelmasse derart rührselig, als wolle er der gespendeten Sahne endlich zeigen, wo es tatsächlich lang geht, wenn man zu schwach ist. Daraufhin agierte die süße Sahne nicht gerade schlagfertig, als sie völlig sauer überreagierte und ihre Konsistenz änderte. Warum nur? Keiner stellte diese Frage wirklich. Man konnte dies auch irgendwie nachvollziehen, lernte man die intakte Zitruspresse näher kennen. Vielleicht lag es auch daran, weil der verbogene Rührbesen dem winzigen Probierlöffel aus dem Sozialkaufhaus zuvor völlig überzogen erzählte, dass sie, also die olle Tetrapack-Sahne aus dem hiesigen Untergrund-Tafeladen stammt und deshalb eigentlich zu nichts mehr tauge. Ihr einziger Verbündeter blieb der Abrieb von schimmliger Muskatnuss, der zuvor Kontakt mit der ekeligen rostigen Reibe aus dem Billigversand hatte. Kein Wunder also, dass sie später in der gesprungen Kloschüssel für immer verschwand. Kollektives Kotzen nannte man so etwas neuerdings in der WG für heruntergekommene Eurobefürworter, die eigentlich immer noch Wert auf deutsche Handarbeit legen…

© Corina Wagner, Oktober 2012

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Corina Wagner

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